E-Book, Deutsch, 152 Seiten
Müller Pfade durch das Midi
2. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7407-4225-6
Verlag: TWENTYSIX EPIC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 152 Seiten
ISBN: 978-3-7407-4225-6
Verlag: TWENTYSIX EPIC
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Als Midi wird in etwa das südliche Drittel Frankreichs bezeichnet. Seine vielfältigen und farbenfrohen Landschaften werden von Hochgebirgen, weitläufigem Bergland und Meeren begrenzt. In großen Teilen des Südens wurde statt mit "oui" - wie im Norden üblich - mit "oc" bejaht, so in der Provinz Languedoc (aus "langue do´c"), das heute zusammen mit dem Roussillon und den Midi-pyrénées die Region Okzitanien mit Hauptstadt Toulouse bildet. Der Autor begibt sich auf eine Reise durch viele Städte und Landstriche des Midi. Seit 1969 hat er mit Begeisterung und ungeschmälertem Interesse Land und Leute, Sprache und Kultur, Geschichte und Lebensart sowie kulinarische Überraschungen eines liebenswerten Stücks Südeuropas mit aufregender Geschichte und mildem, besänftigendem Klima erlebt. Wir lesen über die Pyrenäen mit dem "Balkon" Canigou, die Vorgebirge mit ihren Katharerfestungen, die romanische Kunst und Architektur und den Wein der Corbières, die wunderbaren Küsten der Meere, vielleicht auch das Einatmen kühler, trockener Luft auf den großflächigen Kalk-Hochebenen der Causses. Auch das Erleben provenzalischer Lebensart gehört dazu. Die Erfahrungen und Beobachtungen erwecken Neugier und Respekt für das Andere in unser Nachbarländer und können durchweg mit Spannung verfolgt werden.
Stefan C. Müller ist Professor der Physik an der Universität Magdeburg, Deutschland. Nach seiner Promotion an der Ubiversität Göttingen verbrachte er drei Forschungsjahre als Postdoktorand in den USA, zuerst am MIT in Cambridge in in der Folge in Stanford, Kalifornien. Von 1982 bis 1994 war er Forschungsassistent am Max-Planck-Institut in Dortmund, bevor er Forschung und Lehre in Magdeburg fortsetzte.
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3. Chinon und die Schlösser der Loire
Was ich bisher von Frankreich kennengelernt hatte, bestärkte mich in meinem Wunsch, im Verlauf meines ersten Studienabschnitts einen längeren Studienaufenthalt an einer französischen Universität einzufügen. Zur Vorbereitung eines solchen Unternehmens war das Dringendste, dass ich meine nur rudimentären Sprachkenntnisse verbesserte. Nun hatte ich das Privileg, über eine Förderung durch die „Studienstiftung des deutschen Volkes“ einen Sprachkurs auszuwählen, der mir einige Wochen als Gast bei einer einheimischen Familie ermöglichen würde. Dieser Wunsch wurde mir erfüllt, und in beschwingter Stimmung trat ich meinen Besuch in Chinon an, nicht weit von Tours, an der Vienne, einem Nebenfluss der Loire, gelegen (Abb. 9). Abb. 9 Die Vienne vor der Burg Chinon Für einen „Nordländer“ wie mich vermittelte das 8000-Einwohner-Städtchen mit seinem alten, pittoresken Zentrum bereits das wärmende Flair des französischen Südens. Sie wird von der imposanten Ruine einer Burg überragt, die im Mittelalter als bedeutende Residenz diente. Dort trat 1429 Jeanne d’Arc dem Dauphin (später König Karl VII.) gegenüber. Eindrucksvoll die Lage an dem klaren Fluss mit seinen grünen, baumbestandenen Ufern. Ich gehörte zu einer Gruppe von Stipendiaten, die für 4 Wochen im Herbst 1970 bei Familien in Stadt und nahem Umland untergebracht wurden. Wir, das heißt Peter, ein Trompete spielender Linguistik-Student aus Göttingen mit komplizierter, universaler Grammatik im Kopf und ich selber, wohnten auf einem Hügel am Rande Chinons, in einem früheren Gehöft, das zu einem Wohnhaus modernisiert worden war und zusammen mit Nebengebäuden den Eindruck bewahrt hatte, man lebe auf dem Lande (Abb. 10, 11). Eine wunderschöne Atmosphäre, die sehr gastfreundliche Familie Courdouzil mit charmanten Töchtern und einer umtriebigen Hausmutter die erstens uns zuliebe viel Französisch sprach und zweitens ganz hervorragend kochte. Sie bot uns eine umfassende Einführung in die Köstlichkeiten französischer Küche, dabei gab es jeden Tag etwas anderes und Neues. Kaum zu glauben, was wir dort in kürzester Zeit auf den Teller bekamen, immer natürlich mit einem passenden Rotwein aus der Region Centre-Val de Loire serviert. Ich hatte bisher weder Broccoli, Zucchini oder Artischocken (und wie man sie verspeisen sollte gekannt, noch halbgebratenes Entrecôte, Langusten, bestimmte Muschelsorten oder zu knackende Krebse genossen. Das Menu mit Hasenkeule in Rotwein dauerte mit allem Drum und Dran mehrere Stunden und endete, wie üblich, mit Ziegenkäse vom benachbarten Bauern und etwas „luftigem“ Süßem bei einer Tasse aromatischen Espressos. Abb 10 Der Innenhof des Landhauses Abb. 11 Altes Farmgebäude vor der Erneuerung Tagsüber fand ein Sprachkurs für die etwa 20 deutschen Teilnehmer statt, geleitet von Studentinnen aus Tours und aus Bordeaux. (Allerdings lernte ich wohl am meisten bei unserer Gastmutter!) Abb. 12 Tochter im Vorgarten Sie zeigten uns auch die Sehenswürdigkeit der Stadt, saßen mit uns in gemütlichen Straßencafés, dies zusammen mit einigen einheimischen Franzosen, mit denen wir uns befreundet hatten und auch so manchen Ausflug unternahmen, beispielsweise in die nähere ansprechende Umgebung oder sogar an den Atlantik westlich von Nantes, in einem Tag zu schaffen. Eher offizielle Besuche mit wichtigeren Personen, als repräsentativ für deutsche Studenten angelegt, führten uns zu einigen der berühmten Schlösser der Loire (von denen ich durch Erzählungen meines Vaters aus Weltkriegszeiten schon viel gehört hatte) [5]. Entlang der Loire, auf halbem Weg zwischen Tours und Orleans, erreicht man eines der bekanntesten Loire-Schlösser. Es war im 16. Jahrhundert Residenz der französischen Könige, wurde nach der Revolution wiederhergestellt und als Vorbild für die Restauration fast aller heute bekannten Schlösser des Loiretals diente. Heute zum Teil als Museum benutzt, kann man dort in Blois viele Insignien der französischen Herrscher bewundern. Ich glaube mich an die dekorative Ausstattung im Design der Monarchen zu erinnern, wie die goldene Fleur-de-Lys, die in vielen schmuckvollen Varianten zu sehen ist. Die stilisierte Lilie gilt in der Heraldik als Symbol für Reinheit und Unschuld wurde zum Inbegriff der französischen Königswappen. Abb. 13 Schloss Chenonceau Auf dieser Loire-Fahrt passierten wir auch das Schloss von Amboise, das ebenfalls häufig als wichtige königliche Residenz fungierte. Wie viele Ansiedlungen war Amboise ursprünglich ein gallisches Oppidum, dann ein römisches Castellum, wurde im 10. Jahrhundert stark befestigt. Ab 1495 entstand hier der erste Renaissancegarten Frankreichs. Das oben gezeigte Chenonceau (Abb. 13) liegt 12 km südlich, abseits des Loiretals, und ist ein Wasserschloss mit einer Galerie, die den kleinen Fluss Cher überbrückt, somit direkt in einem Flussbett gebaut. Es ist neben Versailles das meistbesuchte Schloss des Landes und gilt zuweilen als das „eleganteste, feinste und originellste der Loire-Schlösser“. Uns blieb nur Zeit für einen kurzen Blick von außen. Ein weiteres, noch bekannteres Kleinod ist etwas östlich in Chambord zu finden. Ursprünglich als Jagdschloss konzipiert wirkt es seither wie ein Schloss aus dem Märchen. Wir fuhren eines späten Abends dorthin, um uns ein Spektakel mit „son et lumière“ anzuschauen, das bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Ich höre noch heute, wie der Prinz im farbenfrohen Licht der (elektrischen) Dämmerung von einem zum anderen Ende der Vorderfront reitet. Bei späteren Frankreichbesuchen hatte ich noch mehrfach Gelegenheit für Besuche dieses prachtvollen, mitten in einem wunderschönen Park gelegenen Bauwerks. Näher bei Chinon gelegen ist Azay-le-Rideau, das ebenfalls zu den bekannten Renaissanceschlössern der Loire-Region gehört. Sein attraktives Ambiente wurde in unser Besichtigungsprogramm einbezogen. Über Schlösser, Burgen, Altstädte und Flusslandschaften hinaus gab es vieles mehr in Chinons Umgebung zu bestaunen. Machen wir erst einmal mit der Baukunst weiter: Seitdem ich ein Schuljunge war, haben mich mittelalterliche Bauten begeistert, und davon gab es so einige eindrucksvolle nicht weit von dem Dorf entfernt, in dem ich aufgewachsen bin: der Hildesheimer Dom und die Michaeliskirche, der Kaiserdom in Königslutter oder die Kaiserpfalz in Goslar am Harzrand. Jetzt hatte ich Gelegenheit, Gallia Romanica [6] kennenzulernen am Beispiel einiger romanischer Kirchen, die einen Vorgeschmack dafür gaben, was man aus dieser Epoche im Süden Frankreichs erwarten konnte (siehe nächstes Kapitel). Da war die Abtei Fontevraud auf halbem Wege zum Städtchen Saumur als (angeblich) größtes klösterliches Gebäude Europas. Gegründet um das Jahr 1100 gehört die Kirche in ihrer Schlichtheit und asketischem Geist der Romanik an. Etwas Besonderes ist eine erhaltene romanische Küche mit achteckigem Grundriss und einer raffinierten Verschachtelung geometrischer Figuren. Wesentlich bescheidener macht sich die Kirche Saint-Nicolas (errichtet um 1120, Abb. 14) im 260-Seelen-Dorf Tavant etwa 10 km flussaufwärts der Vienne. Was für eine Überraschung, wenn man den Kirchenraum betritt: der Blick fällt auf (mit Beschädigung) erhaltene großflächige Fresken im Innenraum der Apsis. Die Überraschung wächst bei einem Besuch der Krypta (Abb. 15). Dort tragen acht gedrungene Säulen ein vollständig ausgemaltes Gewölbe. Sie sind wohl niemals übermalt worden und wechseln zwischen Darstellungen von Heiligen, allegorischen sowie kosmologischen Themen. Abb. 14 Saint-Nicolas in Tavant Weder romanisch noch kirchlich orientiert ist eine Stadtarchitektur, wie sie sich in der Ortschaft Richelieu präsentiert. Der Ort wurde ab 1631 vom bekannten Kardinal 20 km südlich von Chinon auf Grundlage einer eher seltenen Planung erbaut. Noch heute ist sein rechteckig-symmetrischer Grundriss innerhalb der Stadtmauern zu erkennen. Um einen Anreiz zur Besiedlung seiner Stadt zu geben, stellte der Kardinal den Interessenten das Bauland kostenlos und steuerfrei zur Verfügung. Im Norden, Süden und Westen sind je ein Stadttor vorhanden, Bauwerke mit hohen Räumen für hölzerne Fallgitter. Das Tor im Osten ist „blind“, da dahinter der Schlosspark liegt; aus Symmetriegründen hat man es dennoch in der Stadtmauer angedeutet. Weitere Sehenswürdigkeit ist die exakt in Nord-Süd-Richtung verlaufende Grande Rue, beiderseits von je 14 Bürgerhäusern in einheitlichem Stil gesäumt. Das Ganze ein recht ungewöhnliches Stadtbild. Abb. 15 Fresken in Tavant (CC BY-SA 3.0 by Manfred Heyde) Ein sehr viel größeres, eher monströses Bauwerk...