Müller / Roth | Geigen der Hoffnung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Müller / Roth Geigen der Hoffnung

Damit ihr Lied nie verklingt.
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-86334-769-7
Verlag: adeo Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Damit ihr Lied nie verklingt.

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-86334-769-7
Verlag: adeo Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zusammengepfercht stehen die Menschen in verriegelten Waggons, die am Bahnsteig auf die Abfahrt warten. Es geht ins Verderben - das ahnen längst alle. Plötzlich hält ein Mann sein Instrument durch eine Luke nach draußen und ruft einem Passanten zu: 'Nehmen Sie die Geige! Ich werde ohnehin nie mehr spielen.' Zwei Hände greifen in letzter Minute danach, ehe sich der Deportationszug in Bewegung setzt. Fast 40 Jahre später beugt sich Amnon Weinstein über eine zerkratzte und verfärbte Geige. Mühsam restauriert der Geigenbauer das ramponierte Instrument. Über 60 Geigen hat Amnon Weinstein im Lauf der Jahre aufgespürt und wieder zum Klingen gebracht. Diese 'Violins of Hope' werden heute in den größten Konzertsälen der Welt gespielt - und erinnern daran, dass wir das Leid der Opfer nie vergessen dürfen. Für Recherchen zum Buch war Journalistin Christa Roth mehrfach bei Amnon Weinstein in Tel Aviv zu Gast.

Titus Müller studierte in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift 'Federwelt'. Titus Müller ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u. a. mit dem 'C. S. Lewis-Preis' und dem 'Sir Walter Scott-Preis' ausgezeichnet. Seine Bücher werden regelmäßig zu Bestsellern.
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Dass die Nacht bereits hereingebrochen war, bemerkte Amnon Weinstein nicht. Über eine Geige gebeugt saß er in seiner kleinen Kellerwerkstatt, vor ihm das kalte, flackernde Licht einer Neonröhre. Von allen Seiten betrachtete er das Instrument. Geruhsam, sorgsam. Dann seufzte er tief. Die Geige befand sich in einem erbärmlichen Zustand, das sah er sofort. Die Oberseite ramponiert und abgenutzt. Das Holz gesplittert, ausgebleicht. Die gelackte Unterseite dagegen glänzte geradezu herausfordernd und wies weit weniger Gebrauchsspuren auf. Es schien, als würden beide Teile nicht zusammenpassen. Als seien sie zusammengesetzte Hinterlassenschaften aus verschiedenen Welten, die nichts weiter miteinander verband als die Passform. Das Verstörendste aber, das erst auf den zweiten Blick zum Vorschein kam, befand sich im Inneren des filigranen Klangkörpers. Denn was aussah wie schwarzer Staub, stellte sich als Asche heraus.

„Nehmen Sie meine Geige oder ich verbrenne sie!“ Mit diesen Worten suchten Ende der 1940er-Jahre zahlreiche verzweifelte Musiker die Werkstatt auf, die Amnons Vater Moshe gehörte, einem der ersten Geigenbauer Israels. Viele, die zu ihm kamen, hatten die Vernichtungsversuche der Nazis nur nach außen hin überlebt. Verachtet, verschleppt und verstümmelt an Leib und Seele quälten sie sich nach dem Krieg durch ihr neues Leben. Mit der Vergangenheit abzuschließen gelang den wenigsten. Auch diejenigen, die selbst nicht unmittelbar Opfer von Gewalt geworden waren, hatten zu oft mitansehen müssen, wie anderen Schreckliches widerfuhr. Die Erinnerungen an die Nazizeit waren ihnen allen ständige Begleiter. Manchen sogar in Form von Musik. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich wieder das Violinkonzert von Brahms hören konnte, sagten sie etwa. Auf Instrumenten zu musizieren, die vor den Toren der Konzentrationslager gespielt werden mussten, während entkräftete, vor Angst gelähmte Menschen in die Gaskammern getrieben wurden? Allein die Vorstellung daran war unerträglich. Um sich davon frei zu machen, sollten die einst geliebten Instrumente verstummen, in der Hoffnung, das Erlebte möge entsprechend verblassen.

Auch unschuldige Geigen, Bratschen oder Celli, die nie Teil der Tötungsmaschinerie geworden waren, wurden nach 1945, als man das Ausmaß der Verbrechen erfuhr, nahezu unantastbar. Sie zu spielen kam einem Frevel gleich. Immerhin waren nicht wenige deutscher Machart. Moshe Weinstein, der 1938 mit seiner Frau Golda gerade rechtzeitig aus dem damals noch polnischen Vilnius in das britische Mandatsgebiet Palästina fliehen konnte, nahm sich der nutzlos gewordenen, weil schwer verkäuflichen Ware an. Er verstaute sie in der hintersten Ecke seiner eigentlich viel zu kleinen Werkstatt und schützte sie so vor dem Verfall. Sein Handeln kam in gewisser Weise einer Form des Widerstands gegen die Nazis gleich. Denn die Instrumente – und damit auch die viele Arbeit, die darin steckte und seine eigene hätte sein können – zu Brennholz zu verarbeiten, war für ihn im Grunde nichts anderes, als sie nachträglich ebenfalls den Nazis zum Opfer fallen zu lassen. Das aber brachte Moshe nicht übers Herz. Genauso wenig wie darüber zu reden. Für seinen 1939 in Tel Aviv zur Welt gekommenen Sohn Amnon bedeutete dieser sprachlose Umgang mit der Nazizeit ein Leben im Schatten des Holocausts.

„Die Begriffe ‚Oma‘, ‚Opa‘ oder ‚Tante‘ und ‚Onkel‘ kannte ich als Kind nicht“, eröffnet er mir eines Nachmittags in der Werkstatt. In den Achtzigern hat er sie von seinem Vater übernommen und verbringt nun Tag für Tag in ihr – wie in einem Kokon. Außer Amnons Eltern und einem Bruder seines Vaters, der in die Vereinigten Staaten gezogen ist, hat niemand sonst den Krieg überlebt. „Meine Mutter und meine Schwester haben einmal versucht auszurechnen, wie viele Angehörige unserer Familie umgebracht wurden“, erzählt er und hält plötzlich inne, um mich direkt anzuschauen. „Sie kamen auf fast 400 Namen!“ Den Nachsatz, dass es wohl auch deshalb so viele seien, weil die Familien oft mit zehn oder mehr Kindern gesegnet waren, nehme ich kaum wahr. Überwältigt von der schieren Zahl weiß ich nichts zu erwidern und werde mir stattdessen der betretenen Stille bewusst, die sich schlagartig zwischen uns breitmacht. Nach ein paar Sekunden schließlich, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkommen, setzt Amnon mit gesenkten Lidern nach: „Wie kann ein Mensch am Morgen aufstehen, sich mit einem Kuss von seiner Frau verabschieden, den Tag über Juden umbringen und am Abend auf dem Klavier Chopin spielen, als sei nichts gewesen?“ Ihn treiben solche Gedanken um. Er weiß zwar, dass er auf Fragen wie diese niemals irgendwelche Antworten erhalten wird. Aber anders als früher will er sie jetzt, im stattlichen Alter von fast 80 Jahren, nicht länger ignorieren, sondern sich ihnen stellen. „Ich versuche es immer wieder“, sagt er etwas leiser und klingt dabei, als würde er sich rechtfertigen. „Ich suche einen Weg, um zu verstehen, wie so etwas Furchtbares geschehen konnte.“

Vergangenheitsbewältigung – für Amnons ehrgeizigen Vater Moshe bedeutete das vor allem verdrängen. Und vergessen, dass es einmal ein Leben gegeben hatte, in dem so viele andere gewesen waren, die auch später noch geliebt und vermisst wurden, aber dennoch unerwähnt blieben. Für ihn zählte die Gegenwart, das Auskommen seiner Familie. „Mein Vater wollte nie mit uns über früher sprechen. Sein Kummer war zu groß“, sagt Amnon, während er sich an einer Geige zu schaffen macht. Mit einem schmalen Pinsel trägt er an der Zarge durchsichtigen Lack auf, der sofort süßlich-stechend in die Nase steigt. Worüber hätte Moshe sprechen sollen, denke ich bei mir. Wie seine weißrussisch-polnische Heimat, die lange Zeit wie keine andere Region im Baltikum für Aufklärung stand, mit der Besetzung durch Hitler-Deutschland gezwungen wurde, nicht nur sich, sondern auch alles in ihr gediehene Jüdische aufzugeben? Vilnius, in das der junge, Geige spielende Moshe aus Brest-Litowsk wegen des Konservatoriums gezogen war, galt schon früh als einer der liberalsten Orte Europas. Hier fanden verfolgte Juden aus Mitteleuropa und Russland Schutz. Das sprach sich schnell herum. Weil immer mehr von ihnen in das Stadtgebiet zogen und dort zur größten Minderheit aufstiegen, nannte man Vilnius bald das „Jerusalem des Nordens“. Doch die Hochzeit dieses kulturellen Zentrums währte nur ein paar Hundert Jahre. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war davon nichts mehr übrig. Hunderttausende Bewohner waren ermordet worden. Und die, die den Nazis entkommen waren, wurden von den Sowjets vertrieben oder deportiert. Ab Mitte der 1940er-Jahre besiedelten ausschließlich Litauer und Russen die Stadt neu und veränderten damit nachhaltig ihr Gesicht.

Zur gleichen Zeit blühte die bekannteste jüdische Siedlung – das 1909 gegründete Tel Aviv – immer weiter auf. Ab 1921 städtisch verwaltet, erhielten die dort lebenden Juden von den Briten 1934 ihre volle Unabhängigkeit. Der „Frühlingshügel“, wie das Städtchen auf Deutsch heißt, war nur wenige Kilometer entfernt von dem in südlicher Richtung liegenden Jaffa aufgebaut worden, einer mittelgroßen, nicht unbedeutenden arabischen Hafenstadt. Hier, unter der heißen Sonne des Nahen Ostens, umgeben von fruchtig duftenden Orangenhainen, hätte der Unterschied zu den antisemitischen Pogromen im kalten Europa nicht größer sein können. Und wie zum Beweis wusste man über die prekäre Lage jenseits des Mittelmeers in der „Weißen Stadt“ Tel Aviv nur wenig. Wenn überhaupt. Das wiederum, was an grausamen Details zu erfahren war, wollten viele nicht wahrhaben, weil sie das Unaussprechliche schlicht nicht für möglich hielten. Man konzentrierte sich auf die alltägliche Arbeit in den ländlichen Kommunen, sogenannten Kibbutzim, und auf das Zusammenleben mit den Arabern vor Ort, das sich immer weniger friedlich und zunehmend feindlich gestaltete. Je mehr Juden nach Nahost gelangten. Diesem neuen sich anbahnenden Konflikt schenkte jedoch noch keiner wirklich Beachtung. Die Hauptsache in jenen Jahren war, jüdischen Ankömmlingen eine Heimstätte zu bieten. Überall wurden Straßen gebaut. Im Wochentakt entstanden neue Häuser, weil der Zustrom an Neueinwanderern immer mehr anschwoll. Zumindest bis zum Ende der 1930er-Jahre, als der Zionismus seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte.

Wie nah sich Moshe und Amnon waren, lässt sich für Außenstehende leicht ausmachen. In der Werkstatt hängen nicht nur mehrere Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die den Vater zeigen, sondern auch gerahmte Zertifikate, die auf seinen Namen ausgestellt sind. Die Inneneinrichtung, die einen Hauch von Antiquariat verströmt und mit teilweise fürchterlich verstaubten Instrumenten bis unter die Decke vollgestopft ist, trägt immer noch eindeutig seine Handschrift. Selbst die schmalen Laufwege, die sich Amnon etliche Male am Tag zwischen Tür, Schrank und Werkbank entlangschraubt, sind die gleichen, wie sie auch Moshe zurückgelegt hat. Unzählige Stunden haben beide hier mit- und nebeneinander gearbeitet. Wenn Amnon über seinen Vater spricht, scheint es darum beinahe so, als könnte dieser jeden Moment den Raum betreten.

Wie so viele, die den Visionen des österreichischen Publizisten Theodor Herzl über einen „Judenstaat“ anhingen, zog es auch Moshe und seine Golda in das pulsierende, aufstrebende Tel Aviv, als über Europa bereits dunkle Wolken hingen. Nachdem ihr Antrag auf Einwanderung nach Palästina durch die Briten genehmigt worden war, drehte sich bei beiden alles nur noch um ihre Ausreise. Obwohl sie einer zionistischen Familie entstammte, verfügte nur er über Hebräischkenntnisse. Golda erlernte die Sprache erst im verheißungsvollen „Heiligen Land“, nachdem sie ihr altes, unter...


Müller, Titus
Titus Müller studierte in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift „Federwelt“. Titus Müller ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u. a. mit dem „C. S. Lewis-Preis“ und dem „Sir Walter Scott-Preis“ ausgezeichnet. Seine Bücher werden regelmäßig zu Bestsellern.

Titus Müller studierte in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift "Federwelt". Titus Müller ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u. a. mit dem "C. S. Lewis-Preis" und dem "Sir Walter Scott-Preis" ausgezeichnet. Seine Bücher werden regelmäßig zu Bestsellern.



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