Müller / Schneider Theater ist kontrollierter Wahnsinn
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-89581-363-4
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Reader. Texte zum Theater
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-89581-363-4
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was ist für Sie Theater?
H. M.: Kontrollierter Wahnsinn. Wahnsinn heißt, daß man im Idealfall an keine Verantwortung gebunden ist. Insofern ist alles Verrückte Kunst.
Das Buch versammelt chronologisch geordnet vielschichtige Überlegungen Heiner Müllers zum Theater in Kuztexten, Statements, Diskussionen, Gesprächen und Interviews aus vier Jahrzehnten. Der Reader zeichnet damit auch wesentliche Entwicklungen des Theaters in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach.
Eine Sammlung von Äußerungen und Texten Heiner Müllers zu Theater, Schauspiel und Dramatik.
Weitere Infos & Material
PATHOS UND LAKONIE Diese Publikation versammelt Äußerungen Heiner Müllers aus mehr als drei Jahrzehnten. Es geht um das Theater als Multimedium, um seinen historischen und aktuellen Ort, seine wechselhaften Beziehungen zu den Künsten und sein prekäres Verhältnis zu Geschichte und Politik. Und um die notwendige Metamorphose des Theaters angesichts der durchgreifenden digitalen Mediatisierung aller Lebensbereiche. In ihrer Abfolge sind diese Texte also zugleich ein Parcours durch die Theater- und Geistesgeschichte dieser Jahrzehnte. Sie vergegenwärtigen uns durch das Medium Müller hindurch wesentliche Entwicklungen des Theaters in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zugleich weisen Müllers hier zusammengeführte Überlegungen oft weit hinaus über Zeit und Anlaß ihres Entstehens und rufen Motive und Problemfelder auf, die den nachfolgenden Diskurs über Sinn und Formen des Theaters antizipiert haben und ihn zuweilen initiierten, und die ihn noch immer umtreiben. Die Auswahl ist in diesem Sinne subjektiv, Erinnerung ist Arbeit an der Gegenwart. »Das ist ganz wörtlich Äschylos: ›Eine Schlacht knüpfen mit Schiffsstößen‹ klingt als Formulierung auf Anhieb wahnwitzig. Die meisten Übersetzer versuchen das dann so zu formulieren, daß man versteht, was gemeint ist, aber man versteht viel mehr, wenn man sich darauf einläßt. (…) Es ist ein Platz, der nicht mit einer Bedeutung aufgeht, also in einer Interpretation, das ist ein leerer und dunkler Raum, in dem jeder selber seine Kerze finden muß. (…) Der Sinn muß gefunden werden, der darf nicht verkauft, verpackt oder angeboten werden. Den müssen die Leute finden oder wenigstens suchen. Suchen ist sogar wichtiger als Finden.« Müllers Denken ist rhizomatisch, die Adern verzweigen und überlagern sich, und er zieht seine Gedankenlinien oft kreisend in aufschlußreichen Permutationen. Gedanken und Denkfiguren, die ihm besonders wichtig sind, kehren wieder mit aufschlußreich veränderten Nuancierungen und in anderen Zusammenhängen. Eines seiner Themen markiert sich dabei immer entschiedener: sein Unbehagen am üblichen interpretativen Zugriff von Regie und Darstellung auf die Stücke und Stoffe, der sofort werten und erklären will. Müller sieht darin einen paternalisierenden Übergriff auf Kunst und Publikum. Er will die Sinngebung des theatralen Geschehens dem Zuschauer anvertrauen, will sie ihm überantworten als ästhetischen und zugleich sublim politischen Vorgang. Robert Wilsons frühes Inszenieren schätzt er deswegen so hoch und beschreibt es immer wieder als beispielhaft, weil es »den Bestandteilen, den Elementen von Theater die Freiheit läßt und sie nie interpretierend benutzt«. Müllers Sorge als Autor, der seine Texte nicht dem schauspielerischen »Kannibalismus der Einfühlung« ausliefern will, trifft hier auf sein Verständnis vom Theater als Medium komplexer künstlerischer Kommunikation. Schon 1975 will er »die Vorgänge fragmentieren, damit die Produktion nicht im Produkt verschwindet«. Im Herbst 1995, wenige Monate vor seinem Tod, sagt er in einem seiner Gespräche mit Alexander Kluge: »Die Realität kann man nur sehen, wenn man sie in Teile zerlegt, in Segmente. Wenn jeder Zuschauer bewegt wird, die Teile neu zusammenzusetzen, wird sie zu seiner eigenen Realität, auch in Verbindung mit der eigenen Traumrealität. Das wäre ein Theater der Zukunft. (…) Das war auch ein Traum von Brecht, und er hat es nie gemacht.« Sucht man bei Heiner Müller nach einer theatrologischen Grundfigur, so findet man sie wohl hier. Das Theater, das er vorfand, war für diesen Anspruch wenig geeignet. Zeitgemäße Bilder des Tragischen findet er nur in Pina Bauschs Tanztheater und in Einar Schleefs chorischoratorischen Versuchen. »wie kann man verhindern, daß der schauspieler mit der bühne verschmilzt wie der funktionär mit seinem schreibtisch?« Er sucht nach Mitteln und Formen gesteigerter Kunsthaftigkeit jenseits vom geläufigen mimetischen Abbildrealismus und linearer Narration. »Ich merke, wenn ich ins Theater gehe, daß es mir immer langweiliger wird, an einem Abend einen einzigen Handlungsablauf zu verfolgen. Das interessiert mich eigentlich nicht mehr«, schreibt er 1974. Zeitgleich pointiert John Cage in New York: »Für eine theatralische Aktion würde ich auf Anhieb sagen, daß die Mindestzahl nötiger Handlungen, die gleichzeitig ablaufen, fünf ist. Helle Köpfe durchschauen ziemlich rasch eine niedrigere Zahl.« Dann: »Bei MAUSER (1970) war es das erste Mal, daß ich überhaupt keine Vorstellung hatte von einer Realisierung auf einer Bühne. (…) Bei HAMLETMASCHINE jetzt genauso; (…) Das heißt, das sind Stücke oder Texte, deren einziger Schauplatz zum Beispiel mein Gehirn ist oder mein Kopf. In diesem Schädel werden die gespielt. Wie macht man das auf dem Theater?« Kleist, Müllers hochwichtige Bezugsperson, hatte dasselbe Problem. Seine »Penthesilea« konnte er sich auch nicht auf den zeitgenössischen Schauspielbühnen vorstellen. Voller Hoffnung schickte er das Manuskript an Goethe. Der vermerkt, Kleists Talent sei eben ein dialektisches, und seine Stücke seien wohl für das unsichtbare Theater geschrieben. Spät, mit 53, beginnt Müller selbst zu inszenieren, aus Notwehr gegen ein Theater, das seinen Texten nicht auf gleichem ästhetischen Niveau begegnet. 1982: DER AUFTRAG im 3. Stock der Berliner Volksbühne. Mit dem Auftritt von Jürgen Holtz zur zentralen Szene »Der Mann im Aufzug« fallen Bühne und Zuschauer plötzlich in völliges Dunkel. Darin öffnet Holtz’ Stimme die surreale, traumgleiche Bildpartitur des Textes. Aus dem Zuhören wird ein Hören. Im gleichen Jahr inszeniert Müller mit Ginka Tscholakowa auf der Hauptbühne seine MACBETH-Adaption. Die Hauptrollen falten sie auf in mehrere Figuren und Spieler, darunter, jung und unbekannt, Corinna Harfouch und Ulrich Mühe, die er aus der Theaterprovinz geholt hat. Ein Spiel ständig wechselnder Perspektiven beginnt. Die Hexen immer dabei, als »geschichtsoptimistisches Moment«, die alle Machtansprüche zerstören. In der Pause läuft das Premierenpublikum irritiert durch die Foyers. Horst Sagert, Maniker kostbarer Bildwelten, kommt auf mich zu und sagt aufgeregt, er habe soeben eine tolle Erfahrung gemacht. Er habe nicht verstanden, was gemeint sei. Dann habe er beschlossen, nicht mehr verstehen zu wollen und einfach nur zu hören und zu schauen. Und plötzlich verstehe er alles. Im Jahr darauf wird Sagert am Berliner Ensemble einen magisch schwebenden URFAUST mit Corinna Harfouch inszenieren. »Der Text darf nicht als Mitteilung, als Information transportiert werden, sondern muß eine Melodie sein, die sich frei im Raum bewegt. Das wäre die Qualität, die das Theater wieder bekommen muß«, fordert Heiner Müller. In seinen Textmelodien fallen Pathos und Lakonie ineinander. Sie treiben einander hervor, als könnten sie nur gemeinsam auftreten und in der Gestalt des jeweils anderen. Schon seine frühen Stücke – etwa KLETTWITZER BERICHT und DER LOHNDRÜCKER – haben diesen Klang. Bei Brecht war es ein gelegentlicher Tonfall, bei Müller wird es zum durchdringenden dramatischen Gestus auf seiner Suche nach einer zeitgemäßen Sprache für das Tragische. Auch seine theoretischen Äußerungen sind damit grundiert. Immer entschiedener bevorzugt er, sie mitzuteilen über Interviews und dokumentierte Diskussionen und Gespräche. Durch deren transitorisches Wesen biete diese Publikationsweise den Vorteil, daß er sich in den folgenden Gesprächen dann präzisieren, modifizieren, korrigieren oder auch einfach widersprechen kann, sagt Müller. Auch seine Werkausgabe möchte er folgerichtig nicht zu kanonisierender Gliederung aufbereitet haben, sondern »brutal chronologisch«. Dieser Reader folgt seinem Wunsch. Und widersinnig erschiene da, dem Fluß der Gedanken, diesem lebendigen Denken voller dialektischer Verve, das immer vermeidet, zu Theoremen zu gerinnen, ein exegetisch-ordnendes Traktat voranzustellen. Lieber eine Episode, die der Herausgeber dem Verleger vor einiger Zeit gemailt hat: lieber alexander, du fragst, was mir bei heiner muellers sprechen in den sinn kommt. ich erinnere sofort dieses kuriose begebnis im spaetsommer ’89: im theater im palast der republik hat die intendantin vera oelschlegel QUARTETT inszeniert. sie spielt selbst die merteuil und tritt am premierenabend im kostuem mit der mitteilung vor das publikum, dass valmont nicht anwesend ist. der schauspieler, der ihn spiele, sei am vortag ueber die offene ungarische grenze in den westen gefluechtet. doch habe sich der autor des stuecks bereit erklaert, zur rettung der premiere die rolle einzulesen. heiner mueller setzt sich unter applaus an ein seitlich hingestelltes rokoko-tischlein und richtet sich dort ein mit whisky- und seltersflasche, glaesern, aschenbecher, zigarrenetui und zuendhölzern und dem textbuch. dann nickt er der wartenden merteuil ermutigend zu. was sich jetzt entwickelte, wurde mir zur...