E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Müller Sozialpädagogisches Können
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7841-3302-7
Verlag: Lambertus-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-7841-3302-7
Verlag: Lambertus-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die in Fachwelt und Ausbildung breit rezipierte Publikation über das Konzept multiperspektivische Fallarbeit des 2013 verstorbenen Burkhard Müller wurde in der Neuausgabe von Ursula Hochuli Freund durchgesehen und in Hinblick auf den Stand des Fachdiskurses aktualisiert.
Das Buch eignet sich als Lehrbuch für die Aus- und Weiterbildung in Studiengängen der Sozialpädagogik und Sozialarbeit, aber auch PraktikerInnen der Sozialen Arbeit werden viele hilfreiche Themen und Reflexionsfragen entdecken.
Prof. Dr. Burkhard Müller war Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hildesheim. Er starb im Jahre 2013.
Prof. Dr. Ursula Hochuli Freund ist Professorin am Institut für Professionsforschung und -entwicklung der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW (Hochschule für Soziale Arbeit) in Olten mit Arbeitsschwerpunkt methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit.
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1Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit lehren: Einleitende Anmerkungen
Dieses erste Kapitel können Studierende, für die das Buch eigentlich gedacht ist, überschlagen – oder aber zum Schluss lesen. Für Lehrende hingegen dürfte es hilfreich sein, wenn zunächst kurz erläutert wird, worin die Besonderheit des gewählten Zugangs im Vergleich zu anderen Konzepten für methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit besteht. Dabei wird vorausgesetzt, dass die historischen ebenso wie die aktuellen Diskussionen zu den Handlungsmodellen sozialpädagogischer Professionalität in etwa bekannt sind (vgl. zur Übersicht Dewe/Otto 2015; auch Olk 1986, Müller 2004, 2004a, 2008, 2015b, Dörr/Müller 2012, Becker-Lenz u.a. 2011, 2013, Galuske 2013, Hochuli Freund/Stotz 2015). In Bezug auf solche Diskussionen soll dieses Buch eingeordnet werden – während für Studienanfängerinnen jedes Fachbuch entweder für sich brauchbar ist, oder eben nicht. Zunächst ist es vielleicht selbstverständlich, aber doch wichtig, dass „Konzept“ oder „Methode“ im Feld der Sozialen Arbeit nicht technologische Theorieanwendung meint, sondern auf einen selbstreflexiven „kasuistischen“ Diskurs verweist (Hörster 2005, 2015, Müller 2011), durch welchen Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen das fallspezifisch notwendige Wissen generieren und überprüfbar machen. Es geht um eine „Hermeneutik“, eine Kunstlehre des Fallverstehens (Dilthey), nach dem schon von Schleiermacher formulierten Grundsatz: „Die Dignität der Praxis ist unabhängig von der Theorie; die Praxis wird nur mit der Theorie eine bewußtere“ (1826: 11). Professionelles Handeln ersetzt also nicht Alltagsverstand. Auch für professionelles Handeln gilt, jedenfalls im sozialpädagogischen Kontext: Statt dass der Handelnde eine vorgegebene Theorie anwendet, ist er selbst konstruktiv tätig. Unter den Bedingungen eines spezifischen Feldes entwirft er, indem er handelt, seine Antwort auf die Anforderungen der Situation. Er ist wie der Tennisspieler, so sagt Bourdieu, der ans Netz geht, wenn es die Situation erfordert (Gebauer/Wulf 1993: 7). Die Frage, wie man das sozialpädagogische „Tennisspielen“ lehren und lernen kann, außer durch Üben mit Versuch und Irrtum, besteht aber gleichwohl. Das zentrale Problem für jeglichen Versuch, in diesem Sinne Handlungskompetenz in der Sozialen Arbeit lehrbar zu machen, ist zweifellos die hohe Komplexität der damit gestellten Aufgabe: •Es soll eine Grundlage für professionelle Kompetenz gelegt werden, die in einer Vielfalt beruflicher Felder einsetzbar ist – ohne die Besonderheiten der einzelnen Berufsfelder außer Acht zu lassen; •es sollen innerhalb dieser Felder Fähigkeiten zu den Einzelfällen angemessenen Handlungsweisen entwickelt werden – ohne die überindividuellen Strukturen zu vergessen; •dies verlangt einen interdisziplinären Zugang im Schnittbereich von sozialwissenschaftlichen, sozialpolitischen, pädagogischen, psychologischen, juristischen, ökonomischen und nicht zuletzt ethischen Perspektiven – ohne sich darin zu verlieren. Gleichzeitig in diese Komplexität einzuführen und Handlungssicherheit zu vermitteln, erscheint als Quadratur des Kreises. Niemand hat eine wirksame Zauberformel dafür. Unvermeidlich fällt deshalb in den Ausbildungen beides ein Stück weit auseinander: Die Vermittlung von Einsichten in die Komplexität des Feldes wird Aufgabe theoretischer Ausbildung; die von Handlungssicherheit und professionellem Habitus wird Aufgabe praktischer Initiationsprozesse (Hospitationen, Projekte, Praktika, Anerkennungsjahre etc.). Inzwischen gibt es Ansätze, beides wieder zu verknüpfen, ohne – wie in den klassischen Methodenansätzen – Theorie mit Praxisanleitung gleichzusetzen, sondern Theorie der Sozialen Arbeit als kritische Instanz gegenüber Modellen der Praxisanleitung zu nutzen; so zum Beispiel v. Spiegel 2004/2013, Heiner 2007/2010, 2010a, Cassée 2007/2010, Michel-Schwartze 2007/2009, 2016, Pantucek 2006/2012, Braun/Graßhoff/Schweppe 2011, Hochuli Freund/Stolz 2011/2015. Einzelne davon knüpfen ausdrücklich an das Konzept multiperspektivischen Fallverstehens an. Die Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Praxis als Spaltung zu beklagen führt kaum weiter. Jene ist (jedenfalls zu einem bestimmten Grad) der unumgängliche Preis des erreichten Professionalisierungs-Niveaus Sozialer Arbeit; vergleichbare Professionen haben ihn ebenfalls zu zahlen (Müller 1999). Wer die unmittelbare Einheit von theoretischer Ausbildung und Praxiseinführung wollte, würde damit faktisch die Rückkehr zu eigentlich überwundenen Stadien sozialpädagogischer Professionalisierung fordern – die allerdings in vielen Feldern immer noch mehr Regel als Ausnahme sind. Gerade aber die Unvermeidlichkeit der (relativen) Trennung von wissenschaftlichen und praktischen Lernprozessen in der Ausbildung erzeugt erst das eigentliche Problem sozialpädagogischer Methodenlehre. Denn die Studierenden, die dann Praktikerinnen werden, haben den Graben zwischen beidem in jedem Falle zu bewältigen. Die Frage ist, ob sie ihn nur durch einen großen Sprung überwinden, mit dem sie das Ufer der Wissenschaft endgültig hinter sich lassen; oder ob sie Fähigkeiten entwickeln, sich in beiden Sphären, in der praxisentlasteten Reflexion wie in Handlungs- und Entscheidungsanforderungen, sicher zu bewegen und zwischen diesen Sphären zu pendeln. Und die Frage ist auch, ob es dafür Hilfsmittel – im Bild gesprochen Brücken und Boote – gibt, die den Übergang über den Graben erleichtern, also zeigen, „wie ein fruchtbares Verhältnis von Wissenschaft und Praxis möglich ist“ (v. Spiegel 2013: 11). Wenn man dies als allgemeine Aufgabe sozialpädagogischer Methodenlehre betrachtet, dann kann man unter den bisherigen Ansätzen drei theoretische Annahmen über die Art des zu lösenden Problems finden. Sie sind auch als Mischformen denkbar, und überlappen sich in der empirischen Realität unvermeidlich. (1) Die Annahme, es gehe darum, das Sachgebiet, auf dem Sozialpädagoginnen und Sozialarbeiter Experten sind, möglichst präzise und operational zu beschreiben. Die Annahme unterstellt, dass sie auf ihrem besonderen Arbeitsfeld eine exklusive Expertenschaft beanspruchen können, mit spezifschem und von anderen Feldern klar unterscheidbarem theoretischem Wissen und entsprechendem Können (Müller 2012a). Die klassischen Professionalisierungsstrategien Sozialer Arbeit folgten diesem Modell. Vor allem in der Konkurrenz und Kooperation mit andern helfenden Professionen blieb das Expertenmodell aber eine umstrittene Option. Dies zeigt sich besonders in der noch unentschiedenen Debatte darüber, ob das neue Interesse an standardisierbaren diagnostischen Verfahren und an „evidenzbasierter Praxis“ (Hüttemann 2006) in der Sozialen Arbeit ein Professionalisierungsschub oder eine expertokratische Verirrung sei (Olk 1986, Peters 2002, Widersprüche 2003, Heiner 2004, Müller 2005, Dewe 2013). Die Stärke der Anlehnung an das Expertenmodell ist sicher, dass es Soziale Arbeit nahe an andere professionelle Tätigkeiten heranrückt, damit vergleichbar macht und die Überprüfbarkeit jeweiliger Erfolge verspricht. Die Schwäche kann man darin sehen, dass das Modell nahelegt, die Wirkungsmöglichkeiten des Experten und seiner standardisierbaren Verfahren systematisch zu überschätzen und die Bedeutung nicht standardisierbarer Handlungsmöglichkeiten sowie die Abhängigkeit von der Kooperation der Klientinnen und von Kontextfaktoren zu unterschätzen (Hochuli Freund/Stotz 2015). Auch die neuere Diskussion, für die weniger spezialisiertes Fachwissen als die Fähigkeit zur Herstellung gelingender Arbeitsbündnisse der Angelpunkt professioneller Kompetenz ist (Müller 1991, Becker-Lenz 2005, Oevermann 2011), konnte das Problem nie ganz bewältigen, dass Soziale Arbeit, wegen der vielfältigen Bedarfslagen ihrer Klientel und der eigenen Eingebundenheit in die Kontrollfunktionen sozialstaatlicher Strukturen, nur partiell in der Lage ist, das zu tun, was sie nach ihrem Selbstverständnis gerne tun möchte. Dies vermittelte bei manchen Beobachtenden den Eindruck, Soziale Arbeit sei (ähnlich wie Schulpädagogik) wohl professionalisierungsbedürftig, aber nur eingeschränkt professionalisierungsfähig (Oevermann 2000, 2002). (2) Die Annahme, Soziale Arbeit müsse – gerade in Abgrenzung gegen spezialisierte Expertenkulturen und ihrer Eigenlogik – die Frage nach der Lebenswelt, den „Bewältigungsaufgaben“ und jeweiligen gesellschaftlichen „Problemkonstellationen“ ihrer Adressaten (Böhnisch u.a. 2005; ähnlich Hamburger 2012) ins Zentrum rücken. Kern des Problems sind aus dieser Sicht die unabgeschlossene Institutionalisierung von Infrastrukturen für die Arbeit in gesellschaftlichen Bruchzonen einerseits; und eine „doppelte Entgrenzung – sowohl der sozialen...