E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Müller Wer braucht schon Wunder
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-29650-6
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-641-29650-6
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warmherziger Humor und eine leise Melancholie – in ihrem unverwechselbaren Sound erzählt Anne Müller vom Weggehen und Aufbrechen und vom Erwachsenwerden. Vor dem einzigartigen Hintergrund der Schleilandschaft weckt die Autorin die frühen 80er Jahre zum Leben.
Autoren/Hrsg.
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1.
Der Kakadu
Fränki war mir nicht unbedingt sympathisch, als ich mich bei ihm vorstellte, aber ich ihm, und das war wichtiger, denn er war der Boss, und er sollte mich einstellen. Er sollte das Gefühl haben, dass ich genau die Richtige war, um den Kakadu als Aushilfe im Service mit zu schmeißen, denn es gab ja schon Biggi, die fest angestellt war und wie Fränki zum Inventar gehörte. Köche, Küchenhilfen und Aushilfen wechselten, aber Fränki und Biggi waren die Konstanten im Kakadu, seit er eröffnet hatte, wir wussten alle nicht mehr, wann das genau gewesen war. Inzwischen gehörte der Kakadu aber so zu unserer kleinen Stadt, dass ihn sich keiner mehr wegdenken konnte, und alles, was man sich nicht mehr wegdenken kann, ist im Grunde schon immer da gewesen. Es war auch nicht so, dass Fränki die Kneipe von jemandem übernommen hatte; vorher war in dem Gebäude, an dem nun ganz selbstverständlich draußen ein breites, bunt bemaltes Holzschild mit der Aufschrift »Kakadu« hing, ich weiß nicht mehr was, gewesen, es war einfach ein großes, leer stehendes Haus mitten in der Stadt, nahe der Kirche und nicht weit vom Hafen. Ein Haus, das einer Erbengemeinschaft gehört hatte, die sich nach jahrelangem Streit irgendwann darauf einigte zu verkaufen. An Fränki, der auch nicht aus Kappeln stammte, sondern ein weit Zugereister war. Doch inzwischen zählte auch das nicht mehr. Wer eine der akzeptablen Kneipen am Ort besaß, die für manche zum zweiten Wohnzimmer geworden war, der brauchte keine Einbürgerungsurkunde. Fränki war Fränki, alle nannten ihn so, keiner von den Stammgästen sagte Frank oder siezte ihn, und das hätte er sich auch verbeten. Sein Nachname stand auf dem kleinen Klingelschild außen am Eingang des Kakadu. F. Hoffmann. Wenn man draufdrückte, klingelte es oben in seiner Wohnung. Eine Kneipe braucht keine Türklingel. Sie ist geöffnet oder geschlossen. Fränki, immer im Jeanshemd mit schwarzer Lederweste drüber, spülte gerade Biergläser am Tresen. In dem Moment wusste ich noch nicht, dass das Abwaschen und Polieren der Gläser zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehörten, es schien ihn zu beruhigen, ihm eine innere Befriedigung zu geben, wenn sein Tresen blitzte. Hinter ihm standen die Spirituosen im Regal. Whisky, Rum, Liköre, Schnäpse. Die Vormittagssonne spiegelte sich in den vielen Gläsern und Flaschen, es sah aus wie eine Orgel aus Licht und Glas. Die alte Standuhr tickte, und alles wirkte so aufgeräumt und friedlich. Schwarzer Kaffee duftete zu mir rüber aus einem Becher mit Stones-Zunge. »Und? Schon mal gekellnert?«, fragte Fränki mit seiner tiefen, sanft-kratzigen Raucherstimme. »Nee.« Ich lächelte ihn an, um meine mangelnde Erfahrung wettzumachen. Ich wusste, dass ich mit meinem Lächeln schon viel im Leben erreicht hatte, und auch wenn ich nicht unbedingt stolz darauf war, mit solchen Tricks zu operieren, es klappte so gut, dass ich schön blöd gewesen wäre, mein Lächeln nicht einzusetzen. Im Englischleistungskurs hatte ich zwei Mitschülerinnen gehabt, Sybille und Kerstin, die sich als Feministinnen bezeichneten. Für sie hieß das offenbar, auf keinen Fall mit einem BH, gewaschenen Haaren und einem Lächeln in die Schule zu kommen, als wäre das Verrat an der Sache. Ich verstand das nicht, denn man konnte beobachten, wie sie sich damit das Leben selbst schwer machten. Es war doch ganz leicht, mit einem Lächeln manche Herzen zu öffnen und zum Beispiel meinen etwas verklemmten Mathelehrer, Herrn Heitmeyer, davon zu überzeugen, dass eine Schülerin, die so intelligent lächelte, unmöglich eine Fünf im Zeugnis erhalten konnte, obwohl die Noten der Tests und Klausuren eher dafürsprachen. Heitmeyer trug immer so seltsam gestrickte Pullis mit misslungenen, puffärmelartigen Armkeulen, die ihm jegliche Autorität nahmen. Mich beschäftigte sehr, wer sie wohl gestrickt hatte und wem zuliebe er sie anzog und sich damit zum Affen machte. Den Trick mit dem Lächeln hatte ich übrigens auch bei anderen beobachtet. Ich war bei Weitem nicht die Einzige, auch Jungs wandten ihn an, und dann klappte es für sie besonders gut bei den Referendarinnen, die sie damit um den Finger wickelten. Die eine, Fräulein Jäger, soll sogar mit einem meiner Mitschüler, Henning Hansen, eine Affäre gehabt haben. Zum Glück erfuhr ich das erst nach dem Abi bei einer der Feten, dass die Jäger Henning erlegt hatte. Ich hätte sie sonst in der mündlichen Prüfung, die sie mir in Bio abnahm, nicht ernst nehmen können und mich die ganze Zeit gefragt, wie der Lehrkörper wohl so im Bett war. Fränkis Alter ließ sich schwer schätzen, und er verriet es niemandem. Irgendwo zwischen mittelalt und alt. Mit seinen blauen Augen und langen, lockigen Haaren, die ihm seitlich bis zu den Ohren und hinten bis zur Schulter reichten, wirkte er wie ein Rockmusiker. Er war meistens schlecht rasiert, und wenn er es dann doch mal tat, stand er mit einigen feinen Schnittwunden im Gesicht am Tresen, was dazu führte, dass ihm nicht wenige der männlichen Stammgäste Vorträge hielten, wie man sich richtig rasierte, und alle sich verwundert fragten, warum Fränki keinen elektrischen Rasierer besaß. Doch das lehnte er ab. Ein Elektrorasierer war gegen seine Ehre, denn Fränki hatte einen Hang zum Altmodischen und zu Antiquitäten. Der Kakadu war entsprechend voller alter Möbel, überall zusammengekauft von Fränki bei alten Leuten, die die Nähmaschinentische, dunklen Anrichten, Holzstühle und Tische nicht mehr wollten, oder bei den Nachfahren der Alten, die die traurigen Möbel noch nie gemocht hatten und sich lieber mit dem jetzt angesagten hellen Holz einrichteten. Manche, sagte Fränki, hätten ihm die dunklen Möbel, auch die Standuhr, geschenkt und sogar geliefert, so erleichtert waren sie, sie endlich loszuwerden, als klebte an den Möbeln schwere Vergangenheit. »Mensch, Fränki, da hättest du doch vielleicht noch Kohle dafür verlangen können, Leuten diese Möbel abzunehmen«, ärgerte ihn die Mittwochs-Skatrunde. Fränki hatte mal stolz verkündet, dass ihn die gesamte Einrichtung des Kakadu nicht mehr als 500 Mark gekostet habe. Es gab auch noch ein paar alte Sofas, deren Federung sich unter dem dunkelroten Samt hervorwölbte, aber für Frankis Lieblingsgäste, picklige Teenager im Stimmbruch, die zwei Stunden lang vor einer Cola herumhingen und ihn mit ihren hohen, albern giggelnden Stimmen nervten, waren die abgewetzten Sofas immer noch gut genug. Auch ich hatte hier auf den Samtsofas schon mit Freundinnen gesessen, KiBa oder Kakao getrunken und Probleme gewälzt. Meist ging es um Jungs, um unerreichbar Angeschwärmte (»er hat heute auf dem Schulhof zu mir rübergeguckt und gelächelt«), um Verflossene (»er hat mich heute nicht mal mehr gegrüßt und einfach weggeguckt«) oder um aktuelle Probleme an der Liebesfront. Es fühlte sich auf jeden Fall sehr erwachsen an, die Herzensangelegenheiten nicht mehr nur in der Pause auf dem Schulhof oder in unseren Mädchenzimmern zu bekakeln, sondern jetzt auch in einer Kneipe. Dabei hatte ich Fränki und Biggi schon erlebt, auch Aushilfen, meist Schülerinnen, wie sie sich mehr oder weniger gut schlugen. An den gelben Wänden des Kakadu hingen vergrößerte, gerahmte Landschaftsaufnahmen von Fränki selbst, der sich immer auch ein bisschen als Künstler und Intellektueller gab. Doch daran, wie er die Ostsee, den Strand, die Schlei und ihre Ufer fotografiert hatte, erkannte man sofort, dass er nicht von hier war. Wir Einheimischen hätten nie solche Fotos gemacht. Schwer zu sagen, was es genau war. Fränki fotografierte zum Beispiel den blühenden Raps bei Sonnenschein, ein Beweis, dass bei uns ab und zu auch die Sonne schien, aber ehrlich gesagt hatte ich den kaltleuchtendgelben Raps viel öfter unter einem grauen oder bewölkten Himmel gesehen, was meiner Meinung nach auch viel besser aussah. Unser Himmel war selten strahlend blau, unterm Strich nur wenige Wochen im Jahr. Im Grunde genommen wählte Fränki mit seinem Blick von außen Motive für Apothekenkalender und Postkarten aus, und wenn unsere Gegend eines nicht war, dann ein Postkartenmotiv. Dafür gab es zu viel Wind, Regen und Wolken, war es zu rau. Auf jeden Fall waren wir weit ab vom Schuss, am Ende der Welt, kurz vor Dänemark. Dass es nördlich von Hamburg noch ein bisschen deutsches Land gab, wussten viele ja gar nicht. Diese geografische Unwissenheit und Ignoranz bekamen wir Einheimischen immer schmerzlich zu spüren, sobald wir uns südlich von Hannover begaben. Wir waren einfach nicht existent. Terra incognita. Das unbekannte Land zwischen den zwei Meeren. Von dem das eine, von uns weit entfernte Meer die Nordsee war und das andere, nur ein paar Kilometer weg, die Ostsee. In der »Tagesschau« kamen wir so gut wie gar nicht vor, das letzte Mal bei der Schneekatastrophe 78/79. Angesagte Kinofilme, Moden oder Strömungen erreichten uns hier oben, wenn überhaupt, immer mit Verspätung. Mit verspäteter Verspätung sogar noch. Als meine Freundin Anja mit einem Foto von Kim Wilde zum »Salon Chic« in Kappeln ging, weil sie genau so einen Haarschnitt wollte, da grinste Friseur Kühn sie an. »Jo, min Deern, das ischa man auch bloß ’ne Föhnfrisur mit kurzen Haaren.« Damit beschämte er nicht nur Kim Wilde und Anja, sondern uns alle! Für das Vorstellungsgespräch bei Fränki im Kakadu hatte ich extra meine langen Haare gewaschen, trug sie offen und hatte mir eine, wie meine Mutter gesagt hätte, »anständige« Bluse angezogen, weil ich den Ferienjob unbedingt haben wollte. Genau genommen hatte ich aber keine Ferien mehr, ich war fertig mit der Schule. Ein paar Jungs aus meinem Jahrgang hatten mit weißer Farbe für alle...