Müller | Zwei Wochen im Juni | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Müller Zwei Wochen im Juni

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-24934-2
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-641-24934-2
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Ein Familienroman, bei dem man permanent salzigen Meeresduft in der Nase hat.« freundin

Ada liebt ihr Elternhaus mit dem herrlichen Bauerngarten, von dem aus man das Meer glitzern sieht. Doch ohne die Mutter ist Gragaard nicht mehr das, was es immer war. Gemeinsam mit ihrer Schwester Toni räumt Ada das Haus samt Bootsschuppen aus. Dabei werden längst vergessene Erinnerungen wieder wach, als hätten all die alten Dinge Geschichten in sich bewahrt und warteten nur darauf, sie zu erzählen. Die juniblauen Tage an der Ostsee werden zu einer Reise in die Vergangenheit der Familie – und zeigen zugleich beiden Schwestern neue Wege auf. Aus einem schmerzlichen Abschied wird ein mutiger Aufbruch.

»Eine Geschichte über Geschwisterliebe und Selbstfindung als leichte Sommerlektüre.« Hörzu
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Autoren/Hrsg.


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1.
Ada
Ich habe was, was du nicht hast. Ihr Spiel auf Autofahrten. Toni, die immer hinter dem Beifahrersitz und der Mutter saß, gehörte die rechte Hälfte der Welt, ihr, Ada, die linke. Der Himmel zählte nicht mit, nur das, was auf der Erde war. Die Straße war die Trennlinie. Und gebannt schauten sie hinaus. Toni, drei Jahre älter, ganz die Mutter mit ihren dunklen Haaren und den blauen Augen, sah durch das rechte Seitenfenster, was sich wohl alles auf ihrer Seite zeigen würde, und Ada auf das, was links kam. Die Welt war eine Wundertüte. Auf Tonis Seite erschien gerade ein Reh, bei Ada kurz darauf eine Herde grasender Kühe. Toni gehörte ein Bauer auf einem Mähdrescher, Ada eine kleine Strohdachkate, die auch schon mal bessere Tage gesehen hatte. Immer wieder blickten sie hinüber, was die andere wohl gleich bekäme. Einmal verfiel Toni in einen Schreikrampf. Minutenlang war bei ihr nichts gewesen außer öden Feldern mit Strommasten. Ada dagegen hatte einen Förster, drei Häuser, einen stillgelegten Bahnhof und zwei Fahrradfahrer auf einem Feldweg abbekommen. Toni schrie so lange, bis der Vater am Straßenrand anhielt. Die Mutter wandte sich fragend nach hinten, und Toni forderte unter Tränen, sie müsse mit Ada die Seiten wechseln. Unbedingt. Sofort. Sie tauschten die Plätze, der Vater fuhr weiter, es war jedoch wie verhext. Kaum saß Ada auf der rechten Seite, kamen dort die tollsten Dinge zum Vorschein: ein ehrwürdiges Herrenhaus, davor Pferde auf der Weide. Toni schmollte, denn sie ritt und liebte Pferde, und links waren nur eine Baustelle und ein verfallener Schuppen zu sehen. Und dann stand rechts auf einer Koppel ein Zirkus mit einem großen blauen Zelt, Wohnwagen und Tieren. Einen faltigen Elefanten, sogar einen Tiger im Käfig gab es. Und Ada malte sich gerade aus, all das samt Seiltänzerin und Messerwerfer zu besitzen und die Zirkusdirektorin zu sein, da zischelte Toni: »Auch wenn ich links sitze, gehört die rechte Hälfte der Welt trotzdem mir!« Gegenüber der Wiese mit dem Zirkuszelt, auf der linken Straßenseite, stand ein Clown. Er winkte dem Auto mit seinen Programmzetteln in der Hand und einem breiten Grinsen zu. Und Ada sagte nur: »Dann gehört der aber mir!« Jetzt saß sie selbst am Steuer und fuhr durch dieselbe Landschaft, in der sie aufgewachsen war und die sich kaum verändert hatte seit damals. Ein paar Windräder waren dazugekommen. Mehr Maisfelder. Ada liebte die Gegend, um diese Jahreszeit besonders. Die Weizenfelder leuchteten sommergolden, die Knicks waren in sattem Grün, und auf einer Weide standen gelassen Kühe, deren braunes Fell in der Abendsonne ebenfalls zu glänzen schien. Es hatte offensichtlich geregnet, ihre Heimat wirkte wie frisch aus der Waschanlage. Nach den holprigen Landstraßen, den vielen Kurven und der Allee bei Höby dann der magische Moment: der Blick aufs Meer. Sobald Ada auf den Feldweg Richtung Ostsee bog, lag es da, das Blau des Wassers, darüber der Himmel mit Wolkenbergen, von der Sonne angestrahlt. Wolken, das hatte sie damals von Maxim gelernt, die nur am Meer so schön waren. Der Weg bog nach rechts und führte nun am Wasser entlang, Ada fuhr an der Scheune von Bauer Jensen vorbei und an der weißen Strohdachkate von Greta Andersen mit der so einladenden blauen Haustür. Gretas Auto stand nicht davor, und die Gardinen waren zugezogen. Ostern hatte Ada die Mutter hier in Gragaard das letzte Mal besucht, und ihr fiel wieder ein, wie ihre Mutter am Ostermontag in der Tür gestanden und so lange gewinkt hatte, wie das Auto den Feldweg entlangfuhr, und wie sie im Seitenspiegel ihre Mutter kleiner werden sah und noch einmal hupte. Ihr Abschiedsritual. Jetzt erschien am Ende des Weges hinter alten Kastanienbäumen das große zweigeschossige Haus, »unsere Möchtegern-Villa«, wie ihre Mutter immer gesagt hatte. Ein herrlich verwinkeltes, unperfektes Haus mit einer hellen Fassade, die einen Anstrich vertragen konnte, ein Haus, das ein Locationscout vom Film vor Jahren für die Dreharbeiten zu einem Schwedenkrimi hatte mieten wollen. Wochenlang hatte er Nora Hoffmann umworben und mehrfach die Summe erhöht, doch sie hatte sich nicht kaufen lassen. Der Dreh hätte bedeutet, dass sie für Wochen aus ihrem Haus vertrieben worden wäre. Innen hätten die Filmleute es sogar umgebaut. Mit der ihr eigenen Klugheit hatte die Mutter gewusst, dass kein Geld der Welt diesen Eingriff hätte wiedergutmachen können. Ada hatte damals gespürt, dass ihre Mutter das Angebot eher wegen des Hauses und seines Seelenfriedens als um ihrer selbst willen abgelehnt hatte. Denn dass das Haus eine Seele besaß, davon war sie stets überzeugt gewesen. Es war ein seltsames Gefühl, auf das Haus zuzufahren, wie immer, und zu wissen, dass nicht ihre Mutter die Tür öffnen und in den an den großen Zehen ausgebeulten Hausschuhen im Windfang stehen würde, nicht heute und auch an keinem der nächsten Tage. Nie wieder. Zum Glück musste Ada diese ungewohnte Leere im Haus nicht lange allein aushalten, Toni wollte gegen acht kommen. Die Stockrosen im Vorgarten waren in voller Blüte und tanzten im Wind, ein Begrüßungskomitee in Rot, Hellgelb und Rosa. Ihr Vater hatte oft erzählt, dass er sich bei der Hausbesichtigung als Erstes in die Stockrosen verliebt habe. Er war es, der unbedingt ein Haus am Meer hatte haben wollen und dann am wenigsten davon gehabt hatte. Seit über zwanzig Jahren lebte er nicht mehr, und Ada verband mit dem Haus in Gragaard vor allem ihre Mutter. Ada parkte vor dem Haus, wie sie es immer tat. Als sie ausstieg, atmete sie tief die gute Luft ein, die wie eh und je nach Ostsee, Heckenrosen und Strand roch. Ein paar Möwen kreischten über ihr. Ada holte ihre Tasche aus dem Kofferraum, schloss das Auto ab, obwohl das hier draußen nicht nötig war, nahm den Haustürschlüssel, der an ihrem Schlüsselbund ganz selbstverständlich hing, als gehörte Gragaard noch zu ihrem Leben. Und so war es ja auch, obwohl sie ihr altes Zuhause schon vor vierundzwanzig Jahren zum Studium verlassen hatte. Beim Blick auf den üppig blühenden Garten, der rechts vom Haus lag, stellte Ada fest, dass die Natur dieses Jahr ein paar Wochen früher dran war. Sie öffnete die Tür, betrat den Windfang, sah die ordentlich aufgereihten Schuhe im kleinen Regal und die Jacken ihrer Mutter an der Garderobe. Die Ordnung hatte die Mutter überdauert. Ada trat in den dunklen Flur. Alles schien wie immer zu sein, ihre Mutter hätte ihr einfach nur entgegenkommen müssen und sie umarmen. Ada spürte ein tiefes Bedauern. Sie hätte ihre Mutter viel öfter in den Arm nehmen und ihr sagen sollen, dass sie sie liebte. Ada stieß die angelehnte Tür zum Wohnzimmer auf. Der Flügel stand da, eine fast unsichtbare Staubschicht auf dem schwarzen Lack, das helle Ledersofa mit der karierten schottischen Wolldecke, eines der vielen edlen Mitbringsel Tonis von ihren Reisen, vielleicht noch von der Mutter so ordentlich zusammengelegt, der sandfarbene Teppich mit dem Blumenmuster und der alte Ohrensessel in beigem Samt, in dem Nora Hoffmann einen großen Teil ihrer Lebenszeit verbracht hatte und in dem sie vor sechs Wochen eingeschlafen war. Greta, die in der Kate den Feldweg entlang wohnte, war wie jeden Vormittag mit Toffy, ihrem Golden Retriever, spazieren gegangen und hatte sich gewundert, dass im Wohnzimmer Fernsehlicht flackerte. Greta näherte sich über den Rasen an und sah durch die Fensterscheibe Nora in ihrem Sessel. Und als diese auf ein Klopfen nicht reagierte, betrat Greta das Haus und konnte nur noch den Tod ihrer Freundin und Nachbarin feststellen. Sie rief Toni an und diese Ada. Ada erinnerte sich noch genau an den Moment. Sie war im Atelier gerade dabei, einen Blauton zu mischen, als das Handy klingelte. Sie ging bei der Arbeit nicht bei jedem ran, aber als »Toni« im Display erschien, war ihr sofort klar, dass es etwas Wichtiges sein musste, normalerweise telefonierten die Schwestern nicht tagsüber. Sie telefonierten sowieso nicht oft miteinander. »Ada, zum Glück erwische ich dich! Greta hat mich gerade angerufen. Mama ist tot.« Tonis Stimme brach ab, sie schluchzte. Ada wusste nicht, wann sie Toni das letzte Mal hatte weinen hören. Mehr noch durch das Schluchzen ihrer Schwester als durch die Worte wurde ihr klar, dass etwas Schlimmes, etwas Endgültiges passiert war. Etwas, das ihr Leben durchrütteln würde. Ada musste sich setzen und ließ sich auf die Fensterbank nieder. Sie lehnte die Stirn an die kühle Scheibe und sah über die Dächer von Ottensen. Ein Anblick, der ihr nur zu vertraut war, doch aus allem schien die Farbe entwichen zu sein. Dabei hörte sie ihre große Schwester, die sich, ganz Toni, schnell wieder gefasst hatte. »Mama ist vor dem Fernseher eingeschlafen, sie sah ganz friedlich aus, sagt Greta. Ich fahre gleich hin, kommst du auch?« »Ja, klar«, antwortete Ada und wusste nicht, wie sie in ihrem Zustand Auto fahren sollte. Die Welt da draußen war immer noch voller Grautöne. »Ada, alles okay bei dir? Vielleicht nimmst du besser den Zug, und ich gabel dich in Eckernförde am Bahnhof auf.« Ada ging in die Küche, wie sie es immer tat, wenn sie in Gragaard ankam, öffnete den Kühlschrank. Er war leer. Absolut leer. Darauf war sie nicht gefasst. Ihre Mutter hatte immer ihre Lieblingssorte Käse gekauft und Bier kalt gestellt, und wenn Besuch kam, war der Kühlschrank voller guter Sachen. Ada musste sich hinsetzen. Vom Küchenstuhl aus am kleinen Holztisch sah sie sich um. Die Einbauküche war schlicht mit ihrer Front aus Kiefer und auch schon immer da gewesen. Die Wände waren seit der letzten Renovierung aprikotfarben, nur die Decke war weiß. Das...


Müller, Anne
Anne Müller wuchs in Schleswig-Holstein auf und lebt heute in Berlin. Nach dem Studium der Theater- und Literaturwissenschaften arbeitete sie zunächst als Radiojournalistin, dann schrieb sie Komödiendrehbücher fürs Fernsehen. Ihre Romane »Sommer in Super 8«, »Zwei Wochen im Juni« und »Das Lied des Himmels und der Meere« begeisterten zahlreiche Leserinnen und Leser. In ihrem neuen Roman »Wer braucht schon Wunder« lässt sie die 80er Jahre wieder auferstehen und erzählt vom letzten Sommer, bevor man das Elternhaus verlässt und ins Leben aufbricht.



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