E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Muschg Nicht mein Leben
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-406-82968-0
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählung
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-406-82968-0
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Voller Trauer und Schönheit – "Nicht mein Leben" ist eine dichte, bewegende Erzählung über Wahrheit und Lüge im Leben und Lieben des August Mormann, das vielleicht persönlichste Buch des Büchner-Preisträgers Adolf Muschg.
August Mormann, achtzigjähriger, zunehmend fragiler ehemaliger Schweizer Gymnasialprofessor für Alte Sprachen und Autor leidenschaftlicher Essays über Europa, sucht sich eine Grabstätte auf einem Zürcher Friedhof. Seine viel jüngere, aus Japan stammende dritte Ehefrau Akiko Kanda möchte einmal mit ihm in seinem Grab liegen. Ein anrührender Liebesbeweis in einer komplizierten Ehe. Das und die Entdeckung, dass sein Grab-Nachbar sein ehemaliger Mitschüler Robin ist, der ihm, dem verwaisten und von seinen Halbgeschwistern allein gelassenen Jungen, einst sein geistiges Überleben ermöglicht hat, bringt Mormann dazu, sein Leben und dessen Spielregeln zu überdenken. Als er von einer nicht nur wegen des Überfalls Russlands auf die Ukraine überschatteten Europa-Konferenz in Triest nach Hause kommt, ist seine Frau verschwunden.
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1 Nachtgang
Darf ich mit dir in ein Grab? fragte Aki, nachdem sie mit August, ihrem Mann, auf beider Wohl angestoßen hatte. Sie hatten eine Weile wortlos in den ergrauten Garten geblickt, über den Teich, der sich nicht rührte, und auf die Palisade dahinter, welche die kleine Felsenlandschaft mit der Zwergföhre am Ufer zum Bild zusammenfaßte. Es war Februar, halb drei Uhr früh, im zweiten Jahr der Covid-19-Pandemie. Die Behörden hatten den Verkehr zwischen Menschen aufs Nötigste beschränkt, Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen verboten und, wo sie unvermeidlich waren, der Maskenpflicht unterstellt. Das alleinlebende Paar hatte seinen Nachtlauf absolviert, dann geduscht und sich im Mantel, wie jedesmal, auf die fast ebenerdige Terrasse ihres Atelierhauses gesetzt, um die Mühsal ausklingen zu lassen. Solange der schneereiche Winter dauerte, hatten sie mit ihren Stöcken wie Langläufer ohne Skier ausgesehen, die staken müssen, statt zu gleiten. Inzwischen war der Schnee, außer der schmutzige am Straßenrand, fast überall weggeschmolzen, und ihr Marsch über nasse Felder begann dem Freizeitsport der Senioren ähnlicher zu sehen, die sie waren – August in Übereinstimmung mit seinem Jahrgang, Aki aus kameradschaftlicher Rücksicht. «Sportlich» hätte sie sich nicht mehr genannt, aber sie verausgabte sich auch nicht, während sie Augusts schweren Atem nicht überhören konnte. Drei Kilometer bergauf und bergab waren für den bald achtzigjährigen Pfeifenraucher kein Pappenstiel, aber er war auch über die Jahre hinaus, wo sich einer in guter Form sehen lassen muß – was nach Mitternacht, wenn sie das Haus verließen, auch vergebliche Mühe gewesen wäre. Meist begegneten sie schon im Dorfbild, erst recht in der Höhe oder am Waldrand, keiner Menschenseele mehr, und vielleicht war ebendies der Reiz der Wanderung. Dabei war die nächtliche Siedlung keineswegs ruhig – sie ließ sich Töne entschlüpfen, welche man zum ersten Mal zu hören glaubte. Motorengeräusch war selten, da sich die Nachtwanderer an Nebenwege hielten, die, je höher sie stiegen, statt von Hägen und Hecken nur noch von kleinen Bachläufen begleitet und oft so dunkel waren, daß sie einander gegenseitig die Stirnleuchten anknipsten, die dann die nächsten Schritte bläulich aufhellten. Erst wenn die Häuser und Gärten ganz zurückblieben, genügte, auch in bedeckten Nächten, das schwache Licht des großen Ganzen, so daß sie auf ihr eigenes gerne verzichteten, obwohl die verbreitete Helligkeit selten genug von einem offenen Himmel ausging, sondern die unauslöschliche Zivilisation in der Tiefe reflektierte, eine Erscheinung, die als Lichtverschmutzung bekannt ist. Doch erlaubte sie, Weite und Ferne zu erkennen, in der Tiefe den von Lichtgirlanden geränderten See, am Horizont die vertraute Reihe der Gipfel, die ein geisterhaftes Weiß zeigten. Selbst in klaren Nächten war die künstliche Grundhelligkeit ausreichend, die Sternbilder unscharf zu machen. Immerhin ließen sich die Figuren von Kassiopeia, Orion, des Kleinen und des Großen Wagens erkennen, die Aki in der App ihres Handys andächtig nachbuchstabierte, wobei sie stehenblieb und dem vorausgehenden August damit eine zum Aufatmen willkommene Pause gönnte. Dann lauschte er den Nachtgeräuschen nach, die ihre Umgebung zu melden hatte, und sie zeigte sich anhaltend, oft rätselhaft belebt. Einmal bellte ein Hund so lange, bis ihm ein anderer, aus weiter Ferne, antwortete; ihre Stimmen klangen angestrengt, gar hoffnungslos. Doch brauchte man im schweizerischen Mittelland noch keine Rückkehr der Wölfe zu fürchten. Hatte Aki ihren Ausflug in die Sternbilder beendet, holte sie ihren Mann fast hastig ein, und er wartete auf ihre – zur Redensart gewordene – Bitte: shinanai, was sagen wollte: bitte noch nicht sterben! So viel Japanisch traute sie ihm zu, und wieder zu Atem gekommen, verneinte er in gebotener Heiterkeit. Näherten sie sich dem Waldrand, so hatten sie keine Hoffnung mehr, das Käuzchen zu hören, das seinen klagenden Ruf, aus welchem Grund immer, lieber in der Nähe ihres Hauses ertönen ließ. Die Waldkulisse erhob sich finster schweigend hinter der letzten Gebäudegruppe, die eine Kolonie schwer erziehbarer Jugendlicher beherbergte und um diese Stunde nicht minder schweigend war. Nur ein einziges Mal war aus den Häusern ein gedehnter, fast tierhafter Schrei gedrungen, dem, als sie stehenblieben, eine ebenso durchdringende Stille folgte. Ein Mensch mußte im Schlaf geschrien haben, die Wanderer konnten ihm nicht helfen und stahlen sich schweigend auf ihrem Aussichtsweg weiter, ohne einer Abzweigung in den Wald zu folgen. Aus seinen Tiefen war hie und da ein verträumtes Zwitschern zu hören, das weder alarmiert noch bedrohlich klang. Von seinem Vater wußte August, daß in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts von Münsterburg nach Ottersdorf Extrazüge gefahren waren, nur um einmal eine Nachtigall singen zu hören. Augusts Pfadfindername war «Famu» gewesen, der sich seit seiner Pensionierung wie von selbst zurückgemeldet hatte. Die Nachtübung, mit der er sich damals eine Lilie am Hut verdiente, hatte durch ähnliches Gelände geführt, aber seither war es nicht wiederzuerkennen, als habe sich das Solide daran ausgedünnt. Aus den Dörfern der Jugend waren Agglomerationen geworden, aus den Wäldern Erholungsgebiete oder Fitness-Parcours. In den Corona-Nächten hatten sie etwas von ihrer Fremde wiederhergestellt, und im beginnenden Frühling begann ihre schattenhafte Leere undurchsichtig zu werden. Das Paar wechselte hie und da leise ein Wort, oder Famu sagte ein Gedicht vor sich hin, das ihn in seiner Schulzeit befremdet hatte. «Wie scheint doch alles Werdende so krank», mit dem scheinbar tröstlichen Schluß: «Wahrlich! Ich werde immer bei euch sein». Doch ließ der Dichter, ein Apotheker, der sich im Ersten Weltkrieg vergiftet hatte, diese Worte von keinem Erlöser sagen, sondern von einem «alten Stein». Inzwischen verband sich die Entgeisterung des Alltags unwillkürlich mit der «außerordentlichen Lage», die nicht nur die übrige Welt im Griff hatte, sondern – was immer noch überraschend war – auch das eigene Land. August Mormann, alias Famu, nannte es «Swasiland», ein Scherz, der sich aufgrund einer irrtümlichen Briefadresse aus Amerika in seinem Kopf befestigt hatte, aber er verfehlte nie beizufügen, daß die Schweizer Post den Brief trotzdem an die richtige Adresse geliefert habe. Denn August war ein Patriot, obwohl dieser Punkt bei den Vorträgen, die er zugunsten des Beitritts zur Europäischen Union hielt, erklärungsbedürftig war. Darauf hatte er es ja angelegt und tat auch privat sein Bestes, mit den Widersprüchen der beinahe noch realen Existenz zu leben. Diese Sicht hatte er aus dem klassischen Athen geschöpft; der abgedankte Lehrer für Altgriechisch wollte brauchen, was er gelernt hatte. Damals war aus dem pfadfinderischen «Famu» ein «Outis» geworden; seine erste Frau, die von einem ehemaligen Schüler zu ihm übergelaufen war, hatte ihn auf den irrenden Odysseus umgetauft. Die Ehe dauerte nur zwei Jahre; auch seine nächste hatte die gemeinsamen Wanderjahre nach Amerika nicht überstanden. Er war allein weitergekommen, bis nach Japan, wo er Akiko als Dolmetscherin seiner Vortragsreise, damals schon über das Thema «Europa», kennengelernt hatte. Da war sie noch mit einem Lektor Florian Förster verheiratet, über den sie nicht gesprochen hatte. Viele Jahre später, als sie einem bekannten Japanologen nach Münsterburg gefolgt war, um dort einen Kurs für Anfänger anzunehmen, lebte sie allein in einer kleinen japanischen Kolonie und folgte, als ihr Visum auszulaufen drohte, schließlich dem Rat ihrer besten Freundin Naomi, einer namhaften Pianistin, durch Heirat einen Schweizer Paß zu erhalten: Der richtige Schweizer war dann der inzwischen als Gymnasialprofessor etablierte Famu oder Outis, der bei ihr wieder zum August werden durfte. Sie hatten sich, schon, als sie für ihn dolmetschte, näher kennengelernt, aber ihr Altersabstand verbot damals jede Fortsetzung. Als sie vierzig geworden und er schon der Pensionierung nahe war, fanden sie sich wieder, und da sprang eins in die Lücken des andern, ohne sie beim Namen zu nennen. Sie hatten viele Jahre zuvor zusammen in Tokyo ein Noh-Spiel besucht, das eine gemeinsame Spur hinterlassen hatte. Der Dichter Zeami hatte bei seiner Kunst zweierlei «Blüte» beschrieben: diejenige, die dem Anfänger durch seine Jugend zuwächst, und die seltene, die erst an einem alten Stamm...