Muschg | Sax | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 465 Seiten

Muschg Sax

Roman
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-406-61518-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 465 Seiten

ISBN: 978-3-406-61518-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Es ist nicht die Heizung, wenn es im Haus 'zum Eisernen Zeit' im schweizerischen Münsterburg in den Wänden klopft. Die drei jungen Rechtsanwälte, die als 'Trockenwohner' in die nicht geheuere Dachwohnung ziehen, scheinen die Wiedergänger eher anzuziehen, als sie zu vertreiben. Das beginnt mit dem Freiherrn von Sax und seiner tödlichen Schädelwunde – sie ist bis heute an der erhaltenen Mumie zu besichtigen –, aber mit ihm endet es nicht, und nicht einmal mit dem 'Gespenst des Kommunismus' und den bösen Geistern des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine Mitgift des Herrn von Sax spukt freilich durch alle Kapitel dieses Romans: die berühmteste Minnehandschrift des Mittelalters, die er als Kriegsbeute mitgehen ließ. Diese Handschrift lebt. Wer sie öffnet, wird mit Haut und Haar hineingezogen. Das gilt auch für dieses Buch.Mit Figuren wie von Fellini und einer labyrinthischen Architektur bereitet uns der Roman ein aufregendes, mitunter abgründiges Leseerlebnis. Wer den Sehnsüchten, Liebesgeschichten, Plänen und Karrieren von Muschgs Figuren nachforscht und dabei die dünne Wand zwischen den Lebenden und Toten durchstößt, begegnet der Frage, die beide Seiten umtreibt: die nach dem gelebten und dem ungelebten Leben. Spannend, hoch erotisch und visionär: das Leseabenteuer einer Geisterbeschwörung.

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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1;Cover;1
2;Titel;3
3;Widmung;5
4;Impressum;6
5;Erstes Buch;8
5.1;1: April 1970. Dach;9
5.2;2: 6. September 1970. Fest;24
5.3;3: 7. September 1970. Jugendreise;45
5.4;4: 7. September 1970. Dämmerung;62
5.5;5: 1946 –1970. Vorleben eines Engels;75
5.6;6: 17. September 1970. Sidonie;91
5.7;7: 1971. Seestücke;108
5.8;8: 1972/73. Zwei gehen;121
5.9;9: 1971–1977–1984. Salomon;138
5.10;10: 1985–1989. Sternwarte;153
6;Zweites Buch;170
6.1;11: 1990/91. Diktat Horner;171
6.2;12: Dezember 1991. Rätsel;185
6.3;13: 1992. Flordeliza;199
6.4;14: 1994. Therese;216
6.5;15: 1994. Adriana;230
6.6;16: 1993. Sturmzeichen;247
6.7;17: 1994. Schuppisser;260
6.8;18: 1994. Jacques;272
6.9;19: 1997–2010. Entgeisterung;284
7;Drittes Buch;295
7.1;20: März 2010. Diebold;297
7.2;21: März 2010. Schieß;308
7.3;22: März 2011. Shaidan;321
7.4;23: 2011. Schnitt;334
7.5;24: November 2011. Zum Löwen;344
7.6;25: November 2011. Aspermunt;359
7.7;26: November 2011. Begebenheit;379
7.8;27: Januar 2012. Gaul;394
7.9;28: 2013–2013. ÖKODROM;408
7.10;29: 24. September 2013. Tableau;424
7.11;30: September 2013. Alles gut;441
8;Inhalt;457
9;Aus dem Verlagsprogramm;460
10;Zum Buch;464


1
April 1970. Dach
Thomas Schinz, Privatbankier, hatte von seinem Rotarier-Freund Peter Leu am 6. April 1970 gerade eine rote Mauritius erworben und sich zur Feier des Tages eine Zigarre angesteckt. Darauf wünschte er, auf die legendäre Aussichtsterrasse der Liegenschaft geführt zu werden. Der Briefmarkenhändler erbleichte. Als sie nach einer halben Stunde wieder in die Beletage zurückgekehrt waren, legte Leu ein umfassendes Geständnis ab. Der Bankier war auf vieles gefaßt gewesen, auf eine endgültig zerstörte Ehe, eine Krankheit zum Tode, eine verheimlichte Straftat und natürlich auf einen Konkurs. Aber nicht auf eine Gespenstergeschichte. Um vier Uhr nachmittags hatte ihn Leu vor dem Hauptportal des Hauses «zum Eisernen Zeit» in Empfang genommen. Schinz inspizierte die Sonnenuhr über dem Torbogen; ein Metallstab ragte schräg aus der Sandsteinfront und kam eigentlich nie in den Fall, seinen Schatten auf den Fächer mit der Stundenskala zu werfen, denn die Hausfront lag zur Nordseite hin. Ultima necat lautete die Devise im geknickten Spruchband, und Leu lieferte gleich die Übersetzung: «Die letzte tötet.» Schinz bemerkte nur, daß eine Uhr, die gar keine Stunden anzeige, auch keine letzte zu melden habe. Aber auch er wußte einen Spruch, mit dem er sich als Bub im Album der Mädchen verewigt hatte: «Mach es wie die Sonnenuhr,/ Zähl die heitern Stunden nur.» Das Bronzeschild an der Tür zeigte Leus Geschäftsadresse an. Darunter ein doppelt gewinkelter Pfeil: «Hermann Frischknecht, Velos». Der ist doch Kommunist? fragte Schinz. Leu erklärte, Hermann sei sonst ein ordentlicher Mann, ein guter Handwerker. Seine Werkstatt im Soussol, nur von der Hofseite zugänglich, störe sehr wenig, auch sei er ein pünktlicher Zahler. Doch mal sehen, was der für eine Ordnung hat, entschied Schinz. Leu ging voran, in die Kluft zwischen den Häusern, eine Sackgasse ohne Namen, in der sich ein Torbogen öffnete; sie gelangten in den Hof des «Eisernen Zeit». Er lag fast ganz im Laubschatten; die Linde mußte so alt sein wie die Häuser, von denen nur die Rückseite zu sehen war, mit Ausnahme der Biedermeierfront des Hauses «zum Schwarzen Garten». Der Stamm war von Fahrrädern umlagert. Eines stand aufgebockt unter dem offenen Vordach, wo Frischknecht im Blaumann zugange war, ein Riese mit rosiger Tonsur im schütter gewordenen Haar. Schinz erkundigte sich nach den Parolen zum 1. Mai und wollte wissen, wie sich Frischknechts Partei die wild gewordenen Studenten vom Leib zu halten gedenke. Die Auskunft war unbestimmt, aber höflich. Typen wie Frischknecht behielten was Solides, befand Schinz auf dem Rückweg. Ihre politischen Hörner seien zwar kurz, aber wirksam, während die linken Geweihe, die sich Sohn Jacques und Genossen aufgesetzt hätten, nur zum Abstoßen gut seien. Sie traten in Leus «Schatzkammer», und Vera, die graublonde Sekretärin, erstarrte, als ihr Schinz mit der qualmenden Zigarre zuwinkte. Aber die Preziose lag hinter Glas wie ein medizinisches Präparat. Schinz beugte sich über das Miniaturprofil der jugendlichen Königin Victoria; er setzte die Musterung durch eine langstielige Lupe fort. Dann lehnte er sich in den Ledersessel zurück und hauchte Ringe gegen die Decke. Der Kopf des Fünfzigjährigen war rosig gepolstert und das graublonde Haar in der Mitte zu einer doppelten Mähne gescheitelt. Auch Peter Leu trug das Emblem der Rotarier am Revers, aber die großen Augen über der dünnen Nase blickten unstet, und sein schmaler Mund wurde von Hungerfalten abgeschnitten. Er legte die Hände zusammen; so ließ sich ihr Zittern unterdrücken. Schinz sagte nach einer Weile: Was macht das Schnitzelchen kostbar? Daß es auf einem Versehen beruht. Verabredet war POST PAID, und bei der ersten Serie ist dem Drucker POST OFFICE hineingerutscht, Gott weiß, warum. Das ist wie im richtigen Leben, Peter. Ohne Fehldruck keine Evolution. Wäre es beim Kopieren des Erbguts nichts weiter als korrekt zugegangen, wären wir immer noch Einzeller. Wenn du meinst, sagte Peter Leu. Als Kind habe ich gar nicht gewußt, daß man Marken kaufen kann. Ich dachte, man müsse auf Briefe warten. Da schenkte mir mein Vater zum achten Geburtstag einen großen Umschlag mit durchsichtigem Fenster. «1000 ganze Welt» für drei Franken. Plötzlich waren die Marken, die ich schon gesammelt hatte, nichts mehr wert. Erinnerst du dich an den alten Hirsch? Ein Sammler – Porzellan, Gobelins, Rüstungen. Und konnte ’38 nur mitnehmen, was er auf dem Leibe trug. Aber unterm Bild seiner toten Frau waren ein paar Briefmarken versteckt, von denen hat er noch zehn Jahre gelebt. Und sich dann doch vergiftet. Briefmarken sind sicherer als Gold, sagte Leu. Eine tote Frau habe ich auch, sagte Schinz, aber Mara lebt gerne gut. Ihr Vater ist im Realitätengeschäft. Wenn ein Wiener Grundstücke meint, redet er von «Realitäten». Thomas, ich habe einen Champagner kalt gestellt – wenn es dir recht ist. Dann trinken wir ihn auf dem Dach. Ich war noch nie oben. Da ist es aber gar nicht aufgeräumt … und sicher auch nicht. Kein Geländer? Nur ein falscher Schritt … und feuergefährlich. Du dürftest gar nicht rauchen. Schinz drückte die Zigarre aus. – Ich nehme das Tablett. Die Flasche wirst du noch tragen können. Das barocke Treppenhaus blieb bis zur vierten Etage stattlich. Erst beim Aufgang zum Dachgeschoß wich das gedrechselte Kirschholzgeländer einem einfachen Handlauf, und die Stufen waren ausgetretenes Tannenholz. Auf der Straßenseite war das Dachgeschoß abgeschrägt, aber zur Hofseite hin öffnete es sich mit einer Zeile ziemlich hoher Fenster. Der Aufbau stamme aus dem Biedermeier, erklärte Leu, hier habe ein Mathematikprofessor, ehemals Astronom, den Himmel beobachtet. Sie traten auf ein mit einem Holzrost gedecktes geräumiges Flachdach hinaus, von welchem der Blick in drei Himmelsrichtungen schweifte. Rechts außen an der Vorderkante erhob sich ein turmartiger Aufbau, ein Würfel aus wettergrauem Holz. Die Aussicht reichte über die Dächer in das noch junge Grün der Hügel bis zum Kranz der Alpen, die kaum körperlicher wirkten als das diesige Weiß des Aprilhimmels. Der Korken sprang in die Linden; Schinz übernahm auch das Einschenken. Zum Wohl! Schweigend taxierte er das Geländer, klopfte am Turmaufbau und begann die Front der Dachwohnung abzuschreiten. Durch die Lamellen glaubte er eine Ansammlung unförmiger Körper zu erkennen. Was lagerst du da oben? Särge? fragte er und probierte die Türen. In einer steckte der Schlüssel, und Schinz drehte ihn ohne Umstände. Eine unnatürliche Kälte schlug ihm entgegen. Als er den Lichtschalter ertastet hatte, stand er vor einer mit grauem Tuch verhängten Landschaft; hob man einen Zipfel, kam das gestreifte Damastpolster eines Stilmöbels zum Vorschein. Die Bilder an den Wänden waren alte Stiche mit idealen Landschaften. In der Mitte hing das Fotoporträt einer Dame im Profil; es traf Schinz wie ein Schlag, denn es war das Bild seiner toten Frau – wie kam es hierher? Das dunkle Haar war über dem langen Nacken zu einem losen Knoten geschürzt, die großen Augen blickten sinnend vor sich hin. Aber wann hätte sie ein Samtkleid mit einer Perlenkette getragen? Die hohe Büste hatte nichts von einer kranken Brust, auch war die Dame älter, als Chantal geworden war; es war auch ein älteres Bild – aus den zwanziger Jahren vielleicht. Und doch hatte er das Gefühl, die Dame könnte jeden Augenblick den Kopf wenden und ihn ansehen. Er löschte schnell das Licht und verriegelte die Tür. Leu blickte ihm mit der Miene eines Menschen entgegen, der zu einer schmerzhaften, doch unvermeidlich gewordenen Untersuchung stillgehalten hat. Aparte Räume, sagte Schinz. – Wer ist die Dame an der Wand? Frau Dr. Fanny Moser, sagte Leu. Das gleichmäßige Rauschen des Abendverkehrs war zu hören, das Brummen eines Flugzeugs. Dann fünf Schläge der nahen Augustinerkirche. Wo du gewesen bist, war einmal mein Kinderzimmer. Und auf der andern Seite? Da lebten die Eltern, flüsterte Leu. Plötzlich ließ er das Glas fallen, das auf dem Boden zersprang, und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. Mein Tinnitus. Auf dem Dach kommt er regelmäßig. Ich habe dich gewarnt. Ein krankhaftes Ohrgeräusch, soviel Schinz wußte; und als er Leu beim Arm genommen hatte, zog dieser ihn mit. Fast flohen sie unter das Dach und alle Treppen hinunter bis auf die zur Geschäftsetage. An der Schwelle stand Leu still und seufzte tief auf. Kein Mensch stellt sich vor … Sorgen, Peter? Wir werden verfolgt, seit dreißig Jahren. Schon meinen Vater haben sie zur Strecke gebracht. Und lassen nicht locker … Sie? fragte Schinz. Wer? Gehen wir ins Kabinett zurück, sagte Leu. Vera erhielt Erlaubnis zum Feierabend, doch Leu setzte sich erst, als das Klopfen ihrer Absätze verklungen war. Jetzt will ich es wissen, Peter. Auf deine Gefahr. Aber zwei Dinge mußt du mir schwören....


Adolf Muschg, geboren 1934 in Zürich, war u.a. von 1970–1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich und von 2003–2006 Präsident der Akademie der Künste in Berlin. Sein umfangreiches Werk, darunter die Romane 'Im Sommer des Hasen' (1965), 'Albissers Grund' (1974), 'Das Licht und der Schlüssel' (1984), 'Der Rote Ritter' (1993), 'Sutters Glück' (2001), 'Eikan, du bist spät' (2005) und 'Kinderhochzeit ' (2008), wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Georg-Büchner-Preis und dem Grimmelshausen-Preis. Unter dem Titel 'Wenn es ein Glück ist' erschienen 2008 seine Liebesgeschichten aus vier Jahrzehnten. Seine essayistischen Werke beschäftigen sich u.a. mit 'Literatur als Therapie?', Gottfried Keller, Goethe und Japan. 2005 erschienen im Verlag C.H.Beck Muschgs Reden 'Was ist europäisch?'.



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