E-Book, Deutsch, 368 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 205 mm
Musser Und im Gepäck das Leben
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96362-877-1
Verlag: Francke-Buch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 368 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 205 mm
ISBN: 978-3-96362-877-1
Verlag: Francke-Buch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Für Abbie, die ihr perfektes Leben im Griff zu haben scheint, geht die Welt unter, als ihre beiden Söhne von zu Hause ausziehen und ihr Mann zu ihr auf Abstand geht. Plötzlich steht sie ganz allein da in ihrer durchgestylten Stadtwohnung.
Doch statt zu verzweifeln, rafft sie sich auf und folgt ihrem Sohn auf den Jakobsweg. Dort lernt sie besondere Menschen kennen wie Rasa, die iranische Flüchtlingshelferin, die nur im Untergrund arbeiten kann. Oder Caroline, die eine Reportage über Pilger schreiben will und dabei von den Schatten ihrer Vergangenheit eingeholt wird.
Gemeinsam erleben sie, dass die Herausforderungen der Wanderschaft sie an das Wesentliche ihres Lebens heranführen und manchen hochfliegenden Zukunftsplan infrage stellen??…
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Kapitel 1
Abbie
5. April 2018
Seit zwanzig Jahren habe ich die Geschichte meiner Familie sorgfältig zusammengeknüpft. Und jetzt, wo sie beginnt, sich aufzudröseln, stecke ich in einem wirren Knäul aus Angst und Sorge.
Mein Sohn Bobby schlingt gerade in der Küche ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade herunter. »Mom, ich muss dir was sagen.«
Bobby ist ein vernünftiger Typ, also muss ich nicht damit rechnen, dass er mir eine schwangere Freundin oder den Konsum von Drogen beichtet. Aber damit habe ich nicht gerechnet.
»Ich glaube, ich gönne mir ein Jahr Pause.«
»Du machst was?«
»Du weißt schon, zwischen Schule und Uni.«
»Und was willst du machen?«
»Rumreisen. Stephen sagt immer, wie toll seine Auszeit war. Und da habe ich mir das so überlegt.«
Stephen Lefort ist Bobbys Chef bei der Zeitung, wo er gerade ein Praktikum in der Grafikabteilung macht.
Ich bin sprachlos. Man hat mir schon oft vorgeworfen, zu perfektionistisch zu sein, und so ist es ja auch, das gebe ich ja auch offen zu. Aber ich kann doch von meinem Sohn erwarten, dass er das Nächstlogische tut: nach der Schule aufs College gehen, oder? Schließlich haben wir seine Privatschule bezahlt, er hat bei den Aufnahmetests erstklassig abgeschnitten und wurde bereits bei drei hervorragenden Colleges angenommen.
In meiner Kehle wächst ein Angstkloß. Um ehrlich zu sein, habe ich gespürt, wie uns Bobby Stück für Stück verlässt. Im Lauf der letzten zwei Jahre hat er sich mit seinem großherzigen, kreativen Wesen mal für die Schule, mal für Sport, für Mädchen oder für fromme Dinge interessiert.
Bill macht sich deswegen keine Sorgen. Das hat er noch nie gemacht.
»Ich wollte mit dem Rucksack durch Europa touren, die ganzen Museen besuchen, wie Swannee es auch gemacht hat. Und natürlich eine Weile in Paris bleiben, bei ihrem Künstlerfreund, Jean-Paul.« Er wird leicht rot unter seinem buschigen Pony. »Sowas eben.«
Ich versuche die Angst herunterzuschlucken. »Ich halte das nicht für eine so gute Idee, jetzt nach Paris zu fahren, angesichts des islamischen Terrors und der ganzen Schläferzellen überall.«
»Aber wäre es nicht cool, wie Swannee durch Europa zu tingeln?«
Swannee ist meine Mutter und sie lernte Jean-Paul schon als Teenager kennen, während der Unruhen im Frühling 1968. Sie ist Künstlerin und ihre Zeichnungen aus dieser Zeit zeigen Polizeigewalt, ausgebrannte Autowracks und Chaos.
»Das war damals eine sehr konfuse und chaotische Zeit, Bobby.«
»Weiß ich. Ist es nicht krass, dass Swannee dabei war?« Seine braunen Augen leuchten wie der Eiffelturm bei Nacht. »Und ich könnte die ganzen Museen besuchen wie Uroma Sheila auf ihrer Reise durch Europa. Das wird eine Familientradition!«
Der Kloß rutscht mir durch die Kehle und plumpst in den Magen. »Bobby! Deine Uroma ist auf dieser Reise mit dem Flugzeug abgestürzt!«
Er spricht einfach weiter. »Und ich muss unbedingt nach Wien. Die Gemälde im Kunsthistorischen Museum wollte ich schon immer mal sehen, das weißt du.«
Nein, das wusste ich nicht. Höchstens meine Mutter. Mit ihr würde er über solche Dinge reden.
»Außerdem geht es nicht nur darum, möglichst viel Kunst aufzusaugen. Stephen hat gesagt, ich könnte von unterwegs für die Press schreiben. Er kennt Leute in der Nähe von Wien, bei denen ich wohnen kann, und ich kann auch den Missionaren bei der Flüchtlingsarbeit helfen.«
Sein hübsches, jungenhaftes Gesicht strahlt vor Aufregung und Begeisterung. Er ist eine jüngere Version von Bill und ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Sein dickes, widerspenstiges rotbraunes Haar fällt ihm ins Gesicht und verdeckt die Augen, die hellbrauner, strahlender und freundlicher nicht sein könnten. Er ist auch so groß wie sein Vater, fast einsfünfundachtzig, schlaksig, und der Flaum auf seiner Oberlippe ist in letzter Zeit immer mehr zu einem kratzigen Dreitagebart geworden.
Ich suche nach einem Fluchtweg aus der Küche, aber Bobby steht genau in der Tür. Die Worte kreisen wie heulende Geister um mich herum: Bereitschaftspolizei, Unruhen, Flugzeugabsturz, Flüchtlinge. Ich setze ein Lächeln auf. »Wow. Hört sich an, als hättest du schon eine ganze Weile darüber nachgedacht«, sage ich leise.
Als ich Bill abends davon erzähle, zuckt er nur mit den Achseln. »Wir müssen ihn ziehen lassen, Abbs. Bobby ist eine treue Seele. Der hält sich aus Schwierigkeiten raus. Wenn Jason ins Flugzeug steigen wollte, dann würde ich mir schon eher Sorgen machen. Aber für ihn gibt es genug Regeln im Internat, die er noch brechen muss. Spätestens Weihnachten fliegt er von der Schule.«
Ich finde daran nichts lustig. Beide Jungs ziehen gleichzeitig aus. Und keiner von beiden so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich schließe die Augen und sehe den sechzehnjährigen Jason, blaue Augen, blondes Haar, wie er sagt: »Die haben ein super Footballteam, Mom. Du hast gehört, was der Scout gesagt hat. Die brauchen mich.« Er hatte gezwinkert und mich angegrinst, wohlwissend, dass ich dem Grübchen in seiner rechten Wange nichts entgegenzusetzen hatte.
»Bobby macht das schon«, sagt Bill. »Er kümmert sich doch die ganze Zeit schon um uns.«
»Mensch, Bill. Das ist doch das Problem. Er will sich um alle Menschen kümmern. Gibt sein ganzes Geld einem Obdachlosen oder einem armen Künstler. Er weiß nicht mal, wie man ein Bahnticket kauft oder ein Hotel findet. Er musste noch nie ...«
Bill gebietet mir mit einer Hand Einhalt. »Und genau deswegen müssen wir ihn ziehen lassen. Er lernt das schon. Ohne uns.«
Drei Monate später stehen wir in der Rotunde des Atlanta History Centers, der ganze Middleton-Bartholomew-Clan, und lauschen Swannee.
»Es war eine ganz schöne Meisterleistung, das Baby hierherzubringen«, sagt sie.
»Das Baby« ist das Cyklorama, ein Rundgemälde, das länger als ein Footballfeld ist, sechs Tonnen wiegt und so hoch ist wie ein dreigeschossiges Haus. Als wir noch Kinder waren, gingen meine Eltern mit meinen Schwestern und mir nach Grant Park in den Zoo und dort in das alte Backsteingebäude, in dem das Cyklorama seit hundert Jahren stand. Wir liefen durch den kreisrunden Raum und betrachteten die Schlacht um Atlanta, während Mama die Geschichte erzählte. »1864 kam der Wendepunkt im Sezessionskrieg. ... Das Bild war ursprünglich für ein Publikum aus dem Norden gedacht. ... Seht ihr den Soldaten mit dem Clark-Gable-Gesicht?«
Ich war zugleich fasziniert und abgestoßen von den blutüberströmten Soldaten und toten Pferden.
Das gewaltige Gemälde ist jetzt in einem aufwendigen Verfahren an sein neues Zuhause in Buckhead gebracht worden. Sowohl Mama als auch Daddy wurden als Berater für dieses Projekt hinzugezogen. Mama, weil sie die Mary Swan Middleton ist, eine bekannte Künstlerin aus Atlanta, und Daddy, weil er seit über vier Jahrzehnten Stadtplaner in Atlanta ist.
Wir alle dürfen vor der eigentlichen Eröffnung hinter die Kulissen schauen: Mama und Daddy; Nan, Ellie und ich, unsere Ehemänner und Kinder. Mamas Bewegungen sind anmutig, das Licht fällt auf ihr weißes Haar. Sie erklärt uns, was alles nötig war für diesen Umzug.
Bobby schaut seiner Großmutter mit begeisterter Verehrung zu. Als Kind war er gern bei ihr zu Hause und sah ihr beim Malen zu. Er hat sie schon zu vielen Ausstellungen begleitet, ihre Gemälde getragen und ihr geholfen, sie in den Häusern von Buckhead aufzuhängen. Er atmet bei ihr Farbe, Terpentin und Geschichten ein und greift sofort selbst zum Pinsel, wenn er nach Hause kommt.
Das Einzige, was ich malen kann, sind weiße Wände.
Mein Vater, rechts neben mir im Rollstuhl, sagt etwas und ich beuge mich zu ihm. »So schön, dass du hier bist, Abbie. Ich weiß noch genau, wie wir uns damals das Gemälde angeguckt haben. Du und deine Mom und deine Schwestern.«
Denselben Kommentar hat er in den vergangenen zwanzig Minuten schon zweimal gemacht. Derselbe Angstkloß meldet sich wieder. Eigentlich ist Daddy inzwischen blind, aber er hat da- rauf bestanden, mit uns gemeinsam das Cyklorama anzuschauen, und es gibt keinen Wunsch, den Mama, meine Schwestern und ich ihm abschlagen würden. Wir versuchen verzweifelt, ihm seine Gesundheit zu erhalten und jeden Dämon abzuwehren, sei es Krankheit oder Depression, der ihn befallen will. Aber natürlich kämpfen wir auf verlorenem Posten.
Bill steht auf der anderen Seite. Ich greife nach seiner Hand und halte sie fest. Gott sei Dank ist er bei all den Veränderungen mein Fels in der Brandung. Mein Blick huscht von Daddy zu Bobby und zu Jason und ich denke nur, ich kann doch nicht alle drei auf einmal verlieren. Nicht jetzt. Noch nicht.
Drei Wochen später liegen wir im Bett und lesen, Bill und ich. Die Kluft zwischen uns ist so breit wie der Chattahoochee River, der nach Süden durch Atlanta rauscht. Er klappt sein Buch zu. »Ich brauche eine Auszeit, Abbie.«
»Ja, ich weiß«, pflichte ich ihm bei. »Das kostet alles so viel Kraft, aber es wird besser, wenn wir erst in das Loft gezogen sind.«
»Das meine ich nicht.«
Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. »Und was meinst du?«
»Ich habe ein Projekt in Chicago angenommen. Es dauert drei Monate.«
Bill war schon öfter auf Dienstreisen. Aber drei Monate? Aus meiner trockenen Kehle kommt sekundenlang kein Wort. Dann platzte ich heraus: »Aber Bobby fährt am Montag!«
Bill rollt sich auf die Seite und sieht mich an. »Ja, aber es ist nicht so, als würde er aufs College gehen und uns brauchen, um seine Taschen auszupacken oder sein Zimmer einzurichten. Er packt einen Rucksack und fliegt nach Europa! Jason fährt am Dienstag ins Internat. Ich bin noch da, um die Jungs zu verabschieden und unsere ganzen Sachen einzupacken, keine Angst.«
Der Ausdruck in seinen Augen ist kühl, fast aggressiv. »Wieso warst du für unseren Umzug, wenn du dann drei Monate nicht da bist?«, flüstere ich.
Er liegt jetzt auf dem Rücken. Das Licht vom Nachttisch lässt seine grauen Haare hervortreten. Er trägt das schäbige orangefarbene T-Shirt, das er schon seit Jahren aussortieren sollte. Irgendwann funktionierte er es wenigstens zum Schlafanzugoberteil um. Durch einen Riss im Ärmel lugt seine braun gebrannte und durchtrainierte Schulter hervor. Er riecht noch immer nach Spaß und Action, aber seine Augen sind geschlossen und die Mundwinkel zeigen nach unten.
»Ich war nicht dafür, Abbie«, sagt er schließlich. »Du hast gebettelt und gebettelt und dann hast du es entschieden.« Seine Stimme klingt hart, verärgert. Und müde.
Ich versuche zu schlucken, aber die Trockenheit droht mich fast zu ersticken. Wir wohnen seit achtzehn Jahren im Grant-Park-Viertel von Atlanta. Aber dieser neue Ort, ein Loft in Atlantas beliebter Beltline, ist luftig und hat eine einzigartige Aussicht. Und Daddy hat geholfen, es zu entwerfen. Bill und ich waren uns einig, dass es ein kluger Schritt ist, dorthin zu ziehen. Wir waren uns einig ...
»Ich komme einfach nicht mehr damit klar, dass du immer alles kontrollieren musst, Abbs. Ich ... brauche eine Auszeit.«
Er rollt sich auf die andere Seite, weg von mir, und da weiß ich, dass wirklich alles auseinanderfällt.
Die Kisten stehen für den Umzugswagen bereit und ich sitze in unserem großen, leeren alten Haus auf dem Fliesenboden neben Poncie, unserer Spaniel-Promenadenmischung, die mich mit ihrem Blick anfleht, ihr zu erklären, was da gerade passiert. »Wir ziehen um, altes Mädchen«, sage ich. »Das habe ich dir doch schon erklärt.«
Sie schlittert jetzt schon seit Wochen von einem Zimmer ins nächste, die goldbraunen Augen traurig, als würde ich sie direkt vor ihrer kleinen feuchten Nase hintergehen. Wie kann ich es wagen, das ganze Haus einzupacken?
Auf meinem iPhone läuft Billy Joel. Ich nehme einen großen Schluck Wasser und kraule Poncies weiches, flauschiges Fell. Billy säuselt seinen Traum hinaus. Er möchte einfach nur zu Hause sein, mit der Person, die er liebt.
Wieder habe ich diesen Kloß im Hals und auf einmal muss ich weinen. Poncie schmiegt sich an mich, den Kopf auf meinem Schoß, und ich kraule und weine, kraule und weine, während Billy mein Leben in Liedform zum Besten gibt.
Ich kann seine Sehnsucht nachempfinden.
Sie wohnt auch in mir.
Ach wenn doch nur.
Wie kann alles nur so schieflaufen?
Ich brauche eine Auszeit, Abbie.
Die Kisten sind durchnummeriert und in einer Excel-Tabelle notiert, damit das Umzugsunternehmen sie beim Ausladen gleich ins richtige Zimmer bringen kann. Ich habe alles bis ins Kleinste vorausgeplant.
Außer ...
Ich brauche eine Auszeit.