Nagelschmidt Was kostet die Welt
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-641-05027-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-05027-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wohin mit dem plötzlichen Geld?
Als sein Vater stirbt, nimmt der Taugenichts Meise das unerwartete Erbe und begibt sich auf Reisen. Die Devise: Ausgeben statt horten. Er hat sich geschworen, alles anders zu machen als sein Vater. Doch zurück in Berlin findet er nicht mehr in sein altes Großstadtleben zurück.
Von dem verbliebenen Geld unternimmt Meise eine letzte Reise: in die tiefste westdeutsche Provinz – auf ein Weingut im Moseltal. Dort erwartet ihn ein Kulturschock sondergleichen, auf den er nicht vorbereitet ist. Und er muss sich ein paar unbequemen Fragen stellen, die sich nicht mehr beiseite schieben lassen. Wie will ich (nicht) leben, wie will ich (nicht) arbeiten, welche Beziehungen will ich (nicht) führen? Auf dem dörflichen Großereignis des Sommers, dem Weinfest, kommt es schließlich zum großen Showdown.
Tragisch und komisch, mit präzisen Beobachtungen und jeder Menge schwarzen Humor lässt Nagel seinen Helden Meise scheitern – mal an sich selbst, mal an den Anderen.
Autoren/Hrsg.
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(S. 168-169)
Das Schnattern der Turmfalken ist ein monotones, schimpfendes Geräusch, wie ein hochgepitchtes Quietscheentchen, in einer Tonlage, von der man sich wünscht, dass nur Hunde sie hören könnten. Ich habe dieses Gepiepe noch nie gehört. Dass es Turmfalken sind, weiß ich auch nur, weil Flo gesagt hat, dass am Nachbarhaus abends welche sitzen. Es gibt hier auch jede Menge Fledermäuse. Nachts sieht man sie angeblich über den Hof jagen und Mücken fangen. Wo sie tagsüber von der Decke hängen, wusste Flo auch nicht. »Gute Frage«, hat er gesagt, und ich habe mich gefreut, wie ich mich immer freue, wenn andere auch mal etwas nicht wissen. Besonders wenn es sich um Schlauberger wie Flo handelt. Ich beuge mich übers Balkongeländer, kann die Vögel aber nirgendwo entdecken. »Was suchst du denn?«
Ich zucke zusammen wie ein Schuljunge, der wichsend vorm Schlüsselloch der Mädchenumkleide erwischt wurde. Judith steht im Hof. Mit der rechten Hand schirmt sie ihre Augen vor der Sonne ab, die schon ziemlich tief am Himmel steht. »Ach, nichts. Ich guck nur, wo die Vögel sitzen.« Judith zeigt auf das Dach des Nachbarhauses. Ich verfolge die Linie ihres Fingers, sage »Ah, ja!«, obwohl ich die Viecher immer noch nicht entdecken kann, und drehe mich wieder zu ihr um. »Und du so?« »Ich war spazieren. Ist noch so schön draußen.« Sie trägt Flipflops, einen kurzen schwarzen Rock und ein tailliertes grünes Oberteil.
Es sind die ersten halbwegs figurbetonenden Kleidungsstücke, die ich an ihr sehe. Ihre dunklen Haare hat sie zu einem kurzen Zopf zusammengebunden. Auf der Nase sitzt eine runde Sonnenbrille. Von hier oben sieht sie gar nicht mal schlecht aus. »Da hast du Recht«, sage ich. »Und, hast du noch was vor?« »Nee, was soll ich vorhaben«, sagt sie. »Ja, weiß ich ja nicht.« »Nee, nichts geplant. Der Flo ist mit seiner Mutter weg.« »Ich weiß, hab ihn heute beim Frühstück noch gesehen.« »Ach so.« Ich überlege, was ich als Nächstes sagen könnte. Dann gebe ich mir einen Ruck. »Also, ich weiß zwar nicht, ob ich dich damit locken kann, aber ich hab noch’ne Flasche Wein im Kühlschrank. Wenn du Lust hast, komm hoch und leiste mir Gesellschaft.«
»O toll, Wein! Hurra!«, lacht Judith. Ich lache auch. »Und außerdem gibt es von hier oben gleich einen top Sonnenuntergang zu sehen.« Das ist so ziemlich der lahmste Spruch, den ich jemals einer Frau gegenüber geäußert habe. Mein Hirn ist so ausgedörrt, dass mir einfach nichts Besseres einfällt. Sie überlegt, sieht sich kurz um, als wären ihr irgendwelche Verfolger auf den Fersen, und sagt dann: »Okay. Ich geh nur kurz ins Haus und hol mir einen Pullover.«