Neggers Haus der Angst
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-95576-246-9
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: MIRA Taschenbuch
ISBN: 978-3-95576-246-9
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit jeder neuen Drohung, die Lucy erhält, wächst ihre Angst, und als ganz in ihrer Nähe ein Schuss fällt, weiß sie, dass es höchste Zeit ist zu handeln. Der Sicherheitsexperte Sebastian Redwing, ein Freund ihres verstorbenen Mannes, muss ihr helfen! Doch je länger Sebastian bei Lucy und ihren Kindern in Vermont bleibt, je erotischer die Gefühle werden, die sie füreinander empfinden, desto näher rückt die tödliche Gefahr aus Lucys Vergangenheit in Washingtons Politkreisen, in denen Macht alles ist...
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1. KAPITEL
„Witwe Swift?“ Lucy zog eine Grimasse, als ihre Tochter ihr den neuesten Dorfklatsch erzählte. „Wer um alles in der Welt nennt mich denn so?“
Madison zuckte mit den Schultern. Sie war fünfzehn – und sie saß am Steuer. Auch das war etwas, woran Lucy sich erst noch gewöhnen musste. „Jeder.“
„Und wer ist jeder?“
„Na, zum Beispiel die sechs Leute, die in diesem Kaff wohnen.“
Lucy beachtete den sarkastischen Unterton nicht. Großer Gott. Aber vielleicht war das ja auch ein Zeichen von Anerkennung. Ein bisschen merkwürdig zwar, doch immerhin. Freilich gab sie sich keinen Illusionen hin: Sie war keine „echte“ Vermonterin. Selbst nach drei Jahren war sie immer noch eine Außenseiterin, noch immer jemand, von dem die Leute erwarteten, dass er jeden Moment seine Sachen packen und zurück nach Washington ziehen würde. Lucy wusste, dass Madison sich nichts sehnlicher wünschte. Als sie zwölf Jahre alt war, da hatte das Leben im ländlich-beschaulichen Vermont für sie noch viele Abenteuer bereitgehalten. Für eine Fünfzehnjährige war es dagegen eine Zumutung. Wenigstens hatte sie jetzt ihren Führerschein. Aber warum konnte sie nicht im schicken Washingtoner Stadtteil Georgetown leben?
„Na gut“, meinte Lucy, „dann sag jedem, dass ich lieber Lucy genannt werde, oder Mrs. Swift oder meinetwegen Ms. Swift.“
„Klar, Mama.“
„Eine Bezeichnung wie ‚Witwe Swift‘ wird man ja nie wieder los.“
Madison schien die ganze Sache so sehr zu amüsieren, dass sie darüber vollkommen ihre Nervosität vergaß, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie einparken musste. Sie kam mühelos in einen Parkplatz vor dem Postgebäude im Zentrum des kleinen Vermonter Dorfs hinein.
„Das war ja einfach“, sagte Madison. „Also – Schalthebel auf Parken. Handbremse anziehen. Motor ausschalten. Schlüssel abziehen.“ Sie lächelte ihrer Mutter zu. Für ihren Ausflug in die Stadt hatte sie ein kurzes Sommerkleid angezogen; die dünnen Riemchen-Sandaletten, die sie dazu tragen wollte, hatte Lucy ihr allerdings verboten. „Siehst du? Ich habe nicht einen einzigen Elch angefahren.“
Seitdem sie in Vermont wohnten, hatten sie gerade einmal zwei Elche gesehen, aber keinen von ihnen auf dem Weg in die Stadt. Lucy sagte lieber nichts dazu. „Gute Arbeit.“
Madison sprang aus dem Wagen und lief hinüber zum Dorfladen, um „mal nach den Pantinen zu schauen“. Sie sagte es allerdings mit einem so unschuldigen Lächeln, dass es überhaupt nicht ironisch wirkte. Lucy ging zum Postamt, um einen Stapel Broschüren für ihr Reisebüro zu verschicken. Sie hatte sich auf Abenteuertrips spezialisiert, und ihre Website wurde oft angeklickt. Das Geschäft lief gut, um nicht zu sagen ausgezeichnet. Sie hatte tatsächlich eine Marktlücke entdeckt und begonnen, für sich und die Kinder eine Existenz aufzubauen. Es brauchte eben alles seine Zeit.
„Witwe Swift“, murmelte sie vor sich hin. „Mist.“
Sie wünschte, sie könnte die Bezeichnung mit einem Lachen abtun. Aber so einfach war die Sache nicht. Sie war jetzt achtunddreißig Jahre alt. Colin war vor drei Jahren gestorben. Sie wusste, dass sie eine Witwe war, doch sie wollte nicht so gesehen werden. Im Grunde genommen wusste sie eigentlich überhaupt nicht, wie sie von den anderen gesehen werden wollte. Jedenfalls nichts als Witwe.
Der Ort döste in der Julihitze. Nicht die leiseste Brise bewegte die Blätter der riesigen Ahornbäume auf dem Dorfplatz. Einen Laden, das Postamt, die Eisenwarenhandlung und zwei Bed-&-Breakfast-Pensionen – mehr gab es hier nicht. Manchester, das ein paar Meilen nordwestlich lag, bot beträchtlich mehr Einkaufsmöglichkeiten und Freizeitvergnügen.
Aber Lucy wollte ihre Tochter nicht so weit fahren lassen. Sie hatte ihren Führerschein schließlich erst seit zwei Wochen. Das hatte nichts damit zu tun, dass Madison noch nicht reif war für dichten Verkehr und belebte Straßen. Sie selbst konnte sich noch nicht an den Gedanken gewöhnen.
Als sie ihre Besorgungen auf dem Postamt erledigt hatte, ging sie wie gewohnt zur Fahrerseite ihres allradbetriebenen Geländewagens – ihren „Vermont-Wagen“, wie Madison ihn mit einem Anflug von Spott nannte. Sie wollte einen Jetta. Sie wollte die Stadt.
Seufzend erinnerte sich Lucy daran, dass ihre Tochter den Wagen lenkte. Fünfzehn – das war noch so jung. Sie ging hinüber zur Beifahrerseite und war überrascht, dass Madison noch nicht hinter dem Steuer saß. Autofahren war das Einzige, was ihre Tochter in diesem Sommer davor bewahrte, sich abgrundtief zu langweilen. Nicht einmal die Aussicht, am nächsten Tag nach Wyoming zu reisen, hatte sie aufmuntern können. Nichts würde sie auf andere Gedanken bringen – höchstens die Aussicht, doch noch ein Schuljahr bei ihrem Großvater in Washington verbringen zu können.
Wyoming. Lucy schüttelte den Kopf. Eigentlich war es eine verrückte Idee.
Sie ließ sich auf den von der Sonne erhitzten Beifahrersitz fallen und überlegte, ob sie den Trip dorthin nicht besser streichen sollte. Madison hatte sich bereits dagegen ausgesprochen. Und J. T., ihr zwölfjähriger Sohn, wäre auch lieber zu Hause geblieben und hätte nach Würmern gegraben. Sie wollte nach Jackson Hole fahren, um einige Fremdenführer aus dem Westen kennen zu lernen.
Im Prinzip ist es Zeitverschwendung, überlegte Lucy. Mit ihrem Reisebüro spezialisierte sie sich auf das nördliche Neu-England und die kanadischen Seen, und sie hatte gerade damit begonnen, Winterreisen nach Costa Rica zu organisieren. Dorthin hatten sich ihre Eltern zurückgezogen und eine Pension eröffnet. Sie hatte also genügend, um das sie sich kümmern musste. Jetzt auch noch Montana und Wyoming ins Programm zu nehmen würde nur bedeuten, dass sie sich verzettelte.
Der wahre Grund, warum sie nach Wyoming fuhr, war Sebastian Redwing und das Versprechen, das sie Colin gegeben hatte.
Aber auch das war genau genommen Zeitverschwendung. Eine Überreaktion von ihr, um nicht zu sagen, reine Dummheit. Nur weil sie ein paar seltsame Dinge erlebt hatte.
Lucy lehnte sich in ihren Sitz zurück. Sie spürte etwas unter ihrem Po. Es war vermutlich ein Kugelschreiber, ein Lippenstift oder ein Spielzeug von J. T. Sie fischte nach dem Gegenstand.
Der Atem stockte ihr, als sie das warme, schwere Metallstück in ihrer Hand sah.
Eine Pistolenkugel.
Sie widerstand dem Drang, das Ding aus dem Fenster zu werfen. Was, wenn es explodierte? Sie schauderte, als sie auf ihre Handfläche starrte. Das war keine leere Hülse. Sie hatte Leben in sich. Groß und schwer.
Jemand hatte diese verdammte Kugel auf ihren Sitz gelegt.
Die Scheiben waren heruntergelassen. Sie und Madison hatten die Türen nicht abgeschlossen. Jeder hätte vorbeikommen, die Kugel auf den Sitz werfen und einfach weitergehen können.
Lucys Hand zitterte. Nicht schon wieder. Verdammt, nicht schon wieder. Sie zwang sich, tief und gleichmäßig zu atmen. Sie kannte sich aus mit Abenteuerreisen – Paddeltouren, Kajakfahrten, Wandern, sie hatte Basiswissen in erster Hilfe. Sie konnte mit allen möglichen Herausforderungen einer jeden Reise fertig werden.
Aber nicht mit Pistolenkugeln.
Und sie wollte auch nichts mit solchen Dingen zu tun haben.
Madison kam mit einigen anderen Teenagern aus dem Dorfladen. Sie hielt den Autoschlüssel so lässig in der Hand, als würde sie schon seit Jahren fahren. Die Mädchen lachten und redeten durcheinander, und sogar als Lucy die Pistolenkugel in die Tasche ihrer Shorts schob, dachte sie: Doch, Madison, du hast Freundinnen hier. Seit dem Ende des Schuljahrs hatte Madison nämlich behauptet, sich überhaupt nicht wohl zu fühlen. Vermutlich nur, um darauf hinzuweisen, wie wichtig Washington für sie war.
Sie sprang auf den Fahrersitz. „Schnall dich an, Mama. Wir sind startklar.“
Lucy sagte nichts von der Kugel. Das war schließlich nicht das Problem ihrer Kinder, sondern ihr eigenes. Sie hoffte immer noch, dass sie nicht mit Absicht belästigt wurde. Die Ereignisse, mit denen sie in den vergangenen Wochen hatte fertig werden müssen, waren zufällig, harmlos, bedeutungslos. Sie hatten nichts miteinander zu tun. Sie waren nicht dazu gedacht, sie einzuschüchtern.
Der erste Zwischenfall hatte sich am Sonntagabend ereignet. Das Fenster im Esszimmer hatte offen gestanden, und die Vorhänge blähten sich in der Sommerbrise. Dieses Fenster öffnete sie normalerweise nie. Madison und J. T. sowieso nicht. Lucy hatte nicht mehr an den Vorfall gedacht, bis am darauf folgenden Abend das Telefon klingelte, kurz bevor es dunkel wurde. Als sie müde den Hörer abnahm, hörte sie nur ein heftiges Atmen, dann wurde die Verbindung unterbrochen. Merkwürdig, hatte sie gedacht.
Als sie dann am Dienstag in ihren Briefkasten schaute, der am Anfang der Einfahrt stand, hatte sie das untrügliche Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Irgendetwas hatte sie beunruhigt – das Knacken eines Zweiges, das Knirschen von Kies. Und sie war ganz sicher, dass sie es sich nicht eingebildet hatte.
Am nächsten Morgen hatte sie dieses Gefühl wieder gehabt, als sie die Hintertreppe fegte. Zehn Minuten später hatte sie eine ihrer Tomatenstauden auf der Veranda vor dem Haus gefunden. Jemand hatte sie aus dem Boden gerissen.
Und heute nun die Pistolenkugel auf ihrem Autositz.
Vielleicht machte sie sich nur etwas vor. Jedenfalls glaubte sie nicht, dass das alles ausreichte, um deswegen zur Polizei zu gehen. Jeder Zwischenfall konnte, für sich genommen, einen ganz harmlosen Grund haben – ihre Kinder, deren Freunde,...




