E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Nelte Denkanstöße 2015
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-492-96494-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-492-96494-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Alan Weisman fragt in seinem nächsten epochalen Werk: Hat die Erde eine Zukunft? Hannah Arendts Briefwechsel mit ihren Freunden beantwortet Fragen, die das Leben stellt, und die Liebe zwischen Max Frisch und Ingeborg Bachmann erscheint durch Ingeborg Gleichaufs Biografie in einem ganz neuen Licht. Denkanstöße 2015 versammelt die besten Erklärungen, Einführungen und Blickpunkte eines Jahres in einem zugänglichen Kompendium, das der Lust am Lesen neue Nahrung gibt.
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Michael Schmidt-Salomon
Humanismus Reloaded: Das neue Bild des Menschen
Vor einigen Jahren fand ich in einer Tageszeitung eine kurze Notiz, die von den Erlebnissen eines US-Amerikaners erzählte, der sich und der Welt beweisen wollte, dass der Mensch von Grund auf »gut« sei. Er hatte sich vorgenommen, Hunderte von Kilometern zu marschieren – nur mit dem Notwendigsten ausgerüstet, in der Hoffnung, dass er auf Artgenossen träfe, die ihm bereitwillig unter die Arme greifen würden. Da die lokalen Medien recht ausführlich über das hoffnungsvolle Anliegen des guten Mannes berichteten, wurde ihm beim Start ein fröhlich jubelndes Publikum beschert. Kaum aber hatte er die Stadtgrenze erreicht, erlebte er sein blaues Wunder. Es begann damit, dass ein Wagen neben ihm anhielt. Die beiden Insassen fragten ihn, ob er der Mann sei, der beweisen wolle, dass die Menschheit gut sei. Der ahnungslose Menschenfreund bejahte die Frage, und womöglich hoffte er insgeheim, ein paar aufmunternde Worte oder vielleicht sogar eine kleine Weggabe zu erhalten. Doch weit gefehlt! Die beiden Männer sprangen aus dem Wagen, schlugen unseren Helden nach Leibeskräften zusammen, beraubten ihn all seiner Habseligkeiten und warfen ihn anschließend – als letzten Gipfel der Boshaftigkeit – über die Brücke in den mehrere Meter darunter liegenden Fluss. Glücklicherweise kam der amerikanische Menschenfreund letztlich doch noch mit einem »blauen Auge« davon: Passanten entdeckten ihn wenig später, leisteten Erste Hilfe und brachten ihn in ein Krankenhaus, wo er sich allmählich von den Strapazen seines gescheiterten Experiments erholte. Wie lautet die »Moral von der Geschicht’«? Sollen wir davon ausgehen, dass der Mensch im Kern eine »Bestie« ist, der man nicht ungestraft über den Weg trauen darf? Nun, eine solche Interpretation wäre zweifellos verkürzt, denn sie ignoriert die Hilfeleistungen, die dem verletzten Menschenfreund eben auch zuteilwurden. Lernen kann man aus der Anekdote jedoch, dass man mit einem »blauäugigen« Humanismus, der die Realitäten verkennt, nicht allzu weit kommen wird. Denn die Natur ist kein Wunschkonzert. Der Mensch wird nicht gut, freundlich, hilfsbereit (wahlweise auch gottesfürchtig, asketisch, monogam), nur weil wir dies von ihm erhoffen. Gehen wir von falschen anthropologischen Voraussetzungen aus, werden unsere Pläne zwangsläufig scheitern. Wir benötigen daher eine realistische Sicht auf den Menschen – auch wenn uns das Spiegelbild, das uns die Forscher vor die Nase halten, nicht immer gefallen mag. Da jede Weltanschauung ein eigenes Bild vom Menschen zeichnet, ist kaum ein Gebiet der Wissenschaft ideologisch so hart umkämpft wie das der Anthropologie (Lehre vom Menschen). Umso wichtiger ist es, dass wir uns darum bemühen, der Frage nach dem Wesen des Menschen möglichst vorurteilsfrei zu begegnen. Auf jeden Fall sollten wir uns davor hüten, wissenschaftliche Prinzipien bloß deshalb aufzugeben, weil wir selbst Gegenstand der Untersuchung sind. Ein solcher vorurteilsfreier Blick fällt nicht nur religiösen Menschen schwer. Auch nichtreligiöse Humanisten haben ihre liebe Not damit, all die narzisstischen Kränkungen zu verkraften, die die wissenschaftliche Forschung der menschlichen Selbstverliebtheit zugefügt hat. Eine besondere Herausforderung stellt dabei die Aufhebung der »sakrosankten Trennlinie« dar, die der klassische Humanismus zwischen Mensch und Tier gezogen hatte. Schon Cicero (106–43), der Urvater des Humanismus, hatte die besondere »Würde« des Menschen in scharfer Abgrenzung zum Tier begründet. Doch ebendiese Abgrenzung wurde durch die evolutionsbiologische Forschung zunehmend obsolet.14 Aufstieg und Fall des Humanismus
Marcus Tullius Cicero (106–43 v. u. Z.), der »Urvater des Humanismus«, war ein brillanter Redner, Anwalt, Politiker und Schriftsteller, aber er hatte mit einem »Makel« zu kämpfen: Er entstammte nicht dem römischen Hochadel, sondern dem Stand der eques (»Reiter« oder »Ritter«), weshalb er von den alteingesessenen Patrizier-Familien als »Emporkömmling«, als homo novus, betrachtet wurde und in ihren Reihen niemals die Anerkennung fand, die ihm aufgrund seiner Leistungen für den römischen Staat hätte zukommen müssen. Vermutlich war dies auch ein Grund dafür, warum Cicero der Bildung einen weit höheren Stellenwert einräumte als dem Stand, in den ein Mensch hineingeboren wurde. Als Kompensation seiner »niederen Geburt« vertiefte er sich mit besonderem Elan in das Studium des Rechts, der Literatur und der Rhetorik. Schon als Zwanzigjähriger begann er damit, die entscheidenden Begriffe der griechischen Philosophie – die, wie Cicero feststellte, eine größere Tiefe besaß als die römische – ins Lateinische zu übertragen. Und so beruhte auch der Begriff der »Humanität«, den Cicero in seiner Philosophie entwickelte und der zwei Jahrtausende später noch die Konzeption »humanistischer Gymnasien« prägen sollte, auf einer eigentümlichen Verbindung griechischen und römischen Gedankenguts. Für Cicero stand fest, dass der Mensch erst durch geistige Anstrengung, durch Bildung, zum »wahren Menschen« werde, während »alle Übrigen bloß ›Menschen‹ heißen, nur die aber es wirklich sind, die sich in den für die Menschen bezeichnenden Wissenschaften und Künsten [alternative Übersetzung: »in den der humanitas eigenen Künsten«] gebildet haben«.15 Unter dem Begriff »humanitas« verstand Cicero zweierlei, erstens Menschlichkeit (im Sinne von Hilfsbereitschaft, Fairness, Einfühlungsvermögen, nicht zuletzt auch Milde gegenüber dem unterlegenen Gegner) sowie zweitens Gelehrsamkeit (durch eine intensive Beschäftigung mit den Wissenschaften, der Philosophie, Rhetorik und Kunst sollte der Mensch sein Wesen verfeinern und zu einem kultivierten Mitglied der Gesellschaft heranreifen). Für Cicero waren diese beiden Aspekte untrennbar miteinander verbunden: Nur der kultivierte Mensch könne sich, wie er meinte, wahrhaft menschlich gegenüber seinen Mitmenschen verhalten, während die »barbarischen Völker« (jene ohne griechisch-römische Bildung) sich auch im zwischenmenschlichen Umgang als barbarisch (grausam, ohne jegliches Mitgefühl) erweisen würden. Ciceros »humanitas«-Begriff diente allerdings nicht nur zur Abgrenzung des kultivierten Menschen von »dem Barbaren«, sondern enthielt auch eine unverhohlene Kritik am Zustand der römischen Republik. Denn von »Humanität« war im Rom des letzten vorchristlichen Jahrhunderts wenig zu spüren: Ciceros erste Erwähnungen von »humanitas« fallen in die Zeit der bereits in der Antike als besonders grausam und ungerecht empfundenen Massenmorde des Diktators Lucius Cornelius Sulla (138–78 v. u. Z.), der in den Jahren 82 und 81 Tausende seiner politischen Gegner liquidieren ließ. Was Cicero besonders empörte, war, dass viele Anhänger Sullas diese Gelegenheit nutzten, um sich am Hab und Gut der Opfer zu bereichern. Zu den Profiteuren der politischen Säuberungsaktionen gehörte auch Sullas einflussreicher Günstling Lucius Cornelius Chrysogonus, der heute vor allem deshalb bekannt ist, weil er in einen der spektakulärsten Mordprozesse der römischen Republik, nämlich die Affäre um die Ermordung des wohlhabenden römischen Bürgers Sextus Roscius, verwickelt war. Da zum Zeitpunkt des Mordes die Liste der für vogelfrei erklärten Gegner Sullas bereits geschlossen war, gelang es nicht, Sextus Roscius nachträglich auf diese Liste zu setzen (eine zuvor immer wieder angewandte Strategie). Daher versuchten Chrysogonus und seine Komplizen, den gleichnamigen Sohn des Sextus Roscius für die Ermordung des Vaters verantwortlich zu machen (und dadurch sein Erbe an sich zu reißen). Aus Angst vor dem Diktator und dem Einfluss seines mächtigen Günstlings fand sich zunächst kein Verteidiger, der dem jungen Sextus Roscius beim Prozess zur Seite stehen wollte. Allein der zu diesem Zeitpunkt weithin unbekannte, gerade einmal 26-jährige Cicero bewies Zivilcourage – und ihm gelang, womit wohl niemand gerechnet hatte: Mit seiner Rede Pro Sexto Roscio Amerino (»Für Sextus Roscius aus Ameria«) überzeugte der junge Anwalt das Gericht sowohl von der Unschuld des Angeklagten als auch von den finsteren Absichten derer, die die Anklage gegen ihn angestrengt hatten. Cicero war sich der heiklen politischen Dimension des Verfahrens natürlich bewusst, was an vielen Stellen seiner Gerichtsrede deutlich wird. So bemühte er sich klarzustellen, dass Sulla von den Untaten seines Untergebenen Chrysogonus nichts gewusst haben könne. Allerdings plädierte er am Schluss doch in einer erstaunlichen Offenheit, die dem Diktator nicht gefallen haben dürfte, für Humanität und Rechtssicherheit anstelle von Grausamkeit und Willkür: »Keiner ist unter euch, der nicht wüsste, dass das römische Volk, das einst als so überaus mild gegenüber seinen Feinden galt, heute an Grausamkeit [crudelitas] im Inneren leidet. Reißt diese aus dem Staat, ihr Richter! […] Denn wenn wir zu allen Stunden sehen und hören, wie etwas Grässliches geschieht, so verlieren selbst wir, die wir von Natur aus ganz milde sind, durch diese ständigen Widerwärtigkeiten allen Sinn für Menschlichkeit [humanitas] aus unserem Herzen.«16 Mit diesen Worten, die den Freispruch des Sextus Roscius bewirkten, war Cicero mit einem Schlag als brillanter Redner bekannt. Schon ein Jahr zuvor hatte er in seinem ersten Verfahren...