Nelte | Denkanstöße 2020 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: Denkanstöße

Nelte Denkanstöße 2020


19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-97898-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: Denkanstöße

ISBN: 978-3-492-97898-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Die wichtigsten Erkenntnisse zusammengefasst.«Spiegel Online

Denkanstöße 2020 vereint kompaktes Wissen, ausgereifte Argumente und spannende Positionen eines Jahres.Alexander von Schönburgverrät das Geheimnis lässigen Anstands,Kai Strittmatterberichtet vom Alltag in Chinas Überwachungsstaat,Julian Nida-RümelinundNathalie Weidenfeldwidmen sich einer neuen Ethik im Zeitalter des technologischen Wandels undRoland Schulz‘ bewegender Text über das Sterben erkundet eines der größten Tabus unserer Zeit.
Nelte Denkanstöße 2020 jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Vorwort


ERKENNTNISSE
Aus Wissenschaft und Philosophie

Julian Nida-Rümelin, Nathalie Weidenfeld
Digitaler Humanismus

Michael Schmidt-Salomon
Entspannt euch!

Roland Schulz
So sterben wir


ERFAHRUNGEN
Aus der Welt

Andreas Altmann
In Mexiko

Kai Strittmatter
Die Neuerfindung der Diktatur


EINSICHTEN
Aus Gesellschaft, Biografie und Psychologie

Isabell Werth, Evi Simeoni
Vier Beine tragen meine Seele

Heike Specht
Ihre Seite der Geschichte

Alexander von Schönburg
Die Kunst des lässigen Anstands

Autorinnen und Autoren
Quellen


Michael Schmidt-Salomon


Entspannt euch!


Ob in der Politik, im Kino oder im Gottesdienst: Die Welt wird uns vorgeführt als ein Ort, an dem ein unaufhörlicher Kampf zwischen »Gut« und »Böse« vorherrscht. Doch diese moralische Perspektive verstellt den Blick auf die Realität. Je genauer wir hinschauen, desto klarer erkennen wir, dass es gute und böse Menschen ebenso wenig gibt wie gute und böse Katzen, Elefanten, Regenwürmer oder Delfine.

Einer weitverbreiteten Fehlannahme zufolge kam »das Böse« mit der Menschwerdung in die Welt. Doch selbst in dieser Hinsicht überschätzen wir uns gewaltig. Denn in der Natur geht es keineswegs so »ritterlich« zu, wie frühere Biologen geglaubt haben.[16] Verhaltensweisen, die wir beim Menschen als Betrug, Raub, Versklavung, Vergewaltigung oder Mord klassifizieren würden, sind in der nichtmenschlichen Natur weitverbreitet.[17] Unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, führen sogar regelrechte Vernichtungskriege, die erst enden, wenn alle männlichen Mitglieder der »Feindesgruppe« ausgerottet wurden.[18]

Hätten Schimpansen einen Begriff »des Bösen«, so würden sie ihn zweifellos auf die Mitglieder der verfeindeten Nachbargruppe anwenden. Denn dies ist seit jeher die Funktion dieser moralischen Kategorie: Böse sind stets »die anderen«. Wir projizieren die Kategorie »des Bösen« auf andere, um mit »guten Gründen« auf sie böse sein zu können. Die Belegung »des Fremden«, »des Abweichlers«, »des Gegners« mit dem »Signum des Bösen« erlaubte erst jene Eskalation von Gewalt, die sich wie ein blutroter Faden durch die Geschichte der Menschheit zieht.

Ist der Gut-versus-Böse-Komplex erst einmal erfolgreich in das Denksystem integriert, so ist keine Gewalttat grausam genug, als dass sie nicht doch im Dienste einer vermeintlich »großen, gerechten Sache« verübt werden könnte. Man könnte sagen: Die Erfindung »des Bösen« war für die Entwicklung der »Kriegskunst« ebenso bedeutsam wie die Erfindung der Steinschleuder, des Schießpulvers oder der Mittelstreckenrakete.

Der sozialpsychologische Mechanismus, der uns dazu treibt, in den anderen »Agenten finsterer Mächte« zu sehen, spiegelt sich auch in dem moralischen Dualismus wider, den Anthropologen in nahezu jeder menschlichen Kultur festgestellt haben.[19] Was ist damit gemeint? Nun, wir Menschen verfügen in der Regel nicht über ein Moralsystem, sondern über zwei grundverschiedene Moralsysteme – nämlich eine Binnenmoral für die Mitglieder der eigenen Gruppe (die Insider) und eine Außenmoral für die Mitglieder fremder Gruppen (die Outsider). Gegenüber den treuen Repräsentanten der eigenen Gruppe verhalten wir uns in der Regel fair, freundlich und hilfsbereit, gegenüber »Abweichlern« oder den Mitgliedern anderer Gruppen legen wir jedoch ganz andere Verhaltensweisen an den Tag.

Den »Fremden«, »Feinden«, »Ungläubigen« treten wir oft unfair, unfreundlich, erbarmungslos gegenüber, denn so steht es auch in den »heiligen Schriften« geschrieben, auf die sich viele von uns noch immer berufen. So heißt es im Alten Testament zwar »Du sollst nicht morden!«[20], gleichzeitig aber wird uns aufgetragen, dass wir »Feinde« keineswegs verschonen dürfen. Im Gegenteil: »Du wirst alle Völker verzehren, die der Herr, dein Gott, für dich bestimmt. Du sollst in dir kein Mitleid mit ihnen aufsteigen lassen … Du wirst ihren Namen unter dem Himmel austilgen. Keiner wird deinem Angriff standhalten können, bis du sie schließlich vernichtet hast.«[21]

Im Neuen Testament findet sich zwar das bemerkenswerte Gebot der »Feindesliebe«[22], dies hindert »den Erlöser« jedoch nicht daran, die ewige Höllenfolter, welche »die Bösen« im »Jenseits« erwartet, in schillerndsten Farben auszumalen: »Der Menschensohn wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reich alle zusammenholen, die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben, und werden sie in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt. Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen.«[23]

Auch der Koran ist von diesem moralischen Dualismus geprägt. Barmherzig, gütig und milde zeigt sich Allah nur jenen gegenüber, die sich seinen Geboten unterwerfen. Alle anderen erwartet am »Jüngsten Tag« nicht nur das »ewige Feuer«, sie werden in der Hölle mit »Eiterfluss« und »Jauche« getränkt, erhalten einen »Trunk aus siedendem Wasser«, der ihnen die »Eingeweide zerreißt«, werden mit »eisernen Keulen« geschlagen, müssen Kleidungsstücke aus flüssigem Kupfer und Teer tragen und vieles andere mehr.[24]

Wir sehen hier den Grund dafür, warum Nächstenliebe und Fernstenhass so oft Hand in Hand gehen – getreu der Devise: »Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein!« Welche Folgen dies haben kann, zeigt das Leben des Osama bin Laden, des ehemaligen Anführers der Terrorgruppe al-Qaida, der bereits während seines Studiums eine erste Wohlfahrtsorganisation gründete und ein wahres Vermögen an Witwen und Waisen spendete. Für Osama bin Laden bestand überhaupt kein Widerspruch darin, sich einerseits als sanftmütigen Philanthropen und Vorreiter einer »Religion der Nächstenliebe, der Gerechtigkeit zwischen den Menschen« zu verstehen,[25] andererseits aber den kaltblütigen Mord an Tausenden von Menschen zu befehlen, um möglichst großen Schrecken unter »den Ungläubigen« zu verbreiten.

Das Wahnhafte an solchen Selbst- und Fremdstilisierungen zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Austauschbarkeit. Denn es gibt kaum etwas Relativeres als absolute Moralvorstellungen. Ob islamistische Extremisten oder christliche Kreuzzügler, ob ultraorthodoxe jüdische Siedler oder radikale Hindus: Sie alle sehen sich als heldenhafte Kämpfer für das Gute in einer Entscheidungsschlacht gegen das universelle Böse. Der Unterschied zwischen ihnen besteht allein darin, wo sie jeweils die »Mächte der Finsternis« verorten. Was dem einen als Inbegriff des Bösen schlechthin gilt, erscheint dem anderen als Ausdruck reinster Tugend. Man könnte dies auch als eine kulturübergreifende Borderlinestörung beschreiben.

Die Neigung zum moralischen Dualismus ist tief in uns verankert, da wir allesamt von Vorfahren abstammen, die sich dank diesem Dualismus gnadenlos gegen andere durchsetzen konnten. Aber das heißt keineswegs, dass wir unfähig wären, den moralischen Dualismus zu überwinden. Dabei kann uns paradoxerweise ausgerechnet jene Eigenschaft zu Hilfe kommen, die den Dualismus in der Vergangenheit zusätzlich noch verstärkt hat, nämlich unsere besondere Befähigung zu Mitgefühl, zu Mitleid und Mitfreude.

Nach allem, was wir wissen, ist der Mensch das empathischste Lebewesen auf diesem Planeten.[26] Offenkundig hat es in der Entwicklung zum modernen Menschen starke Selektionsvorteile für empathisches Verhalten gegeben, sodass die Gattung Mensch im Laufe der Zeit von der Evolution ebenso entschieden in Richtung Mitgefühl getrimmt wurde wie die Gattung der Großkatzen in Richtung Kraft und Geschwindigkeit. Der evolutionäre Selektionsdruck hat uns Menschen sozusagen zu geborenen Teamplayern gemacht – eine Eigenschaft, der wir unsere dominante Stellung in der Natur verdanken, die aber tragischerweise den Nebeneffekt hatte, dass der Hass auf diejenigen, die nicht zu unserem »Team« gehören, immer wieder befeuert wurde.

Gerade das Mitgefühl gegenüber den Mitgliedern der eigenen Gruppe wirkte in der Menschheitsgeschichte als schier unerschöpfliche Quelle des Hasses gegenüber den Mitgliedern anderer Gruppen. So reichte mitunter die (empathisch geteilte) Beleidigung eines einzelnen Gruppenmitglieds aus, um kollektive Blutfehden in Gang zu setzen, die über Jahrzehnte hinweg unzählige Opfer forderten.[27] Wir sehen: Nächstenliebe und Fernstenhass gehen nicht bloß Hand in Hand, eine besonders stark ausgeprägte Nächstenliebe kann sogar zu einer Intensivierung des Fernstenhasses führen, wenn »der Fremde« als Bedrohung für die eigene Gruppe empfunden wird.[28]

Allerdings ist unser Empathievermögen nicht notwendigerweise auf die Mitglieder unserer eigenen Gruppe begrenzt. Wir können mit »den anderen« sehr wohl auch dann noch mitfühlen, wenn wir mit erheblichem Aufwand darauf trainiert wurden, in ihnen bloß »den Feind« zu sehen. Eine solche empathische Horizonterweiterung ist selbst unter widrigsten Bedingungen möglich, wie die Geschichte vom sogenannten »Weihnachtsfrieden 1914« zeigt:

Damals, mitten in einer der schlimmsten Schlachten des Ersten Weltkrieges, verließen deutsche und britische Soldaten, angerührt von den Weihnachtsliedern der jeweils anderen Seite, ihre Schützengräben. Sie übergaben sich Geschenke, tauschten Fotos ihrer Liebsten aus, lachten gemeinsam über anzügliche Witze, halfen sich beim Begraben der Toten, spielten miteinander Fußball. Wäre es nach ihnen, den Soldaten, gegangen, erklärte später der schottische Weltkriegsveteran Murdoch McKenzie Wood, hätte nach diesen Szenen der Verbrüderung niemand mehr zu den Waffen gegriffen.[29]

Die wundersamen Ereignisse, die 1914 in der Umgebung von Ypern (Belgien) stattfanden, verraten ebenso viel über das Wesen des Menschen wie der kurze Zeit später (in der gleichen Gegend!) erfolgte erstmalige Einsatz von Senfgas (das deshalb auch als »Yperit« bezeichnet wird): Wir können mit allergrößter...


Nelte, Isabella
Isabella Nelte studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte, bevor sie sich mit einer antiquarischen Buchhandlung einen Lebenstraum erfüllte. Sie lebt mit ihrer Familie in einer alten Mühle im Taunus.



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