Ness | Das Morgen ist immer schon jetzt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Ness Das Morgen ist immer schon jetzt


Erscheinungsjahr 2016
ISBN: 978-3-641-18978-5
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-641-18978-5
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was, wenn man NICHT einer der Außerwählten ist, wie sie immer in den Büchern beschrieben werden? Wenn man nicht der Held ist, der sonst üblicherweise die Zombies bekämpft, oder die Seelenesser oder was immer gerade das nächste unheilbringende Wesen sein mag, das die Welt bedroht. Was, wenn man einer ist wie Mikey? Der einfach nur seinen Abschluss hinbekommen möchte und zum Schulball gehen und vielleicht irgendwann den Mut aufbringen, Henna um ein Date zu bitten – bevor irgendjemand die Schule in Schutt und Asche legt. Wieder mal. Denn manchmal gibt es stinknormale Probleme, die echt wichtiger sind als der nächste Weltuntergang, und angesichts derer man erkennt, dass das eigene ganz normale Leben absolut einzigartig und außergewöhnlich ist.

Patrick Ness wuchs in den Vereinigten Staaten und auf Hawaii auf. Er lebte viele Jahre lang in London und war dort als Literaturkritiker für die Tageszeitung The Guardian tätig. Für seine Jugendbücher wurde er vielfach ausgezeichnet, er gewann unter anderem den renommierten Costa Children's Book Award und bereits zweimal die Carnegie Medal. Für »Sieben Minuten nach Mitternacht« erhielt er als erster Autor gleichzeitig die Carnegie Medal und den Kate Greenaway Award sowie neben unzähligen anderen Auszeichnungen den Deutschen Jugendliteraturpreis. Heute lebt Patrick Ness in Los Angeles und schreibt neben seinen Büchern nun auch Drehbücher.
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DAS ERSTE KAPITEL

DAS ERSTE KAPITEL, in dem die Botin der Unsterblichen in einer überraschenden Gestalt eintrifft; nachdem Indie Kid Finn von ihr durch die Wälder verfolgt wurde, blickt er seinem Schicksal in die Augen.

An dem Tag, an dem wir das Indie Kid Finn als Letzte lebend sahen, hingen wir alle auf dem Feld ab und redeten über die Liebe und den Leib.

»Ich glaub das nicht«, sagt meine Schwester. Als ich den Unterton in ihrer Stimme höre, hebe ich den Kopf. Sie blickt mich an und nickt mir im Sonnenschein leicht genervt, aber beschwichtigend zu, dann wendet sie sich an Henna und schüttelt den Kopf. »Man hat immer eine Wahl. Es ist mir egal, ob du es für Liebe hältst – übrigens KEIN Wort, das man leichtfertig in den Mund nehmen sollte –, aber selbst wenn, selbst wenn das Wort zutrifft, hast du immer noch die Wahl, das Richtige zu tun.«

»Ich sagte, ich liebe sein Aussehen«, erwidert Henna. »Ich habe nicht behauptet, dass ich ihn liebe. Du verdrehst meine Worte. Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum … wie dein Herz sich weitet. Eigentlich ist es nicht das Herz, sondern der Leib. Du spürst es und alles andere ergibt sich einfach.«

»Nein, tut es nicht«, widerspricht meine Schwester entschieden. »Tut. Es. Nicht.«

»Mel –«

»Du kannst es spüren und trotzdem das Richtige tun.«

Henna runzelt die Stirn. »Was hat das mit richtig oder falsch zu tun? Ich beschreibe lediglich ein vollkommen normales menschliches Gefühl, wenn ich sage: Nathan ist ein heißer Typ.«

Ich blicke in mein Geschichtsbuch, berühre die vier Ecken und zähle stumm mit. Aber ich merke, dass Jared mich beobachtet.

»Du behauptest also, du hättest keine Wahl«, sagt Mel. »Du behauptest, wenn du ihn hättest küssen können, hättest du es getan, egal wer euch sieht. Egal, ob er bereits vergeben ist oder nicht. Egal, ob Tony –«

»Ich bin nicht mehr mit Tony zusammen …«

»Ja, aber du weißt, wie sensibel er ist. Du hättest ihn verletzt und danach behauptet, keine andere Wahl gehabt zu haben. Was totaler Quatsch ist.«

Henna schlägt frustriert die Hände vors Gesicht. »Melinda –«

»Es regt mich einfach auf.«

»Das merke ich.«

»Und nenn mich nicht Melinda.«

»Henna hat recht«, sagt Jared. Er liegt da, den Hinterkopf an Hennas Po gelehnt. »Du spürst es tief im Bauch.«

»Ich dachte, bei einem Kerl sitzt es tiefer«, sagt Mel.

»Das ist etwas anderes.« Jared setzt sich auf. »Dein Schwanz oder was auch immer – das ist nur Lust. Tierisches Verlangen. Hier geht es um viel mehr.«

»Genau«, stimmt Henna ihm zu.

»Du spürst es hier.« Jared legt die Hand auf den Bauch. Es ist ein nicht gerade kleiner Bauch, und wir alle wissen, dass Jared nicht grundlos die Aufmerksamkeit darauf lenken würde. »Plötzlich ist es so, als wäre alles, was du bis dahin geglaubt hast, falsch. Als spielte nichts mehr eine Rolle. Alles, was kompliziert war, ist plötzlich so einfach wie ein Ja oder Nein. Denn dein Bauch ist der eigentliche Boss, und er sagt dir, dass dein Verlangen berechtigt ist, es zwar nicht die Antwort auf alles ist, aber die Fragen erträglicher macht.«

Er hält inne und blickt in die Sonne. Alle wissen, was er meint. Und er weiß, dass wir es wissen. Allerdings redet er so gut wie nie darüber. Wir wünschten, er würde es.

»Dein Bauch ist nicht dein Boss«, sagt Mel tonlos.

»Oh«, seufzt Jared, als es ihm dämmert. »Tut mir leid …«

Mit einem Kopfschütteln tut Mel seine Bemerkung ab. »So habe ich es nicht gemeint. Auch dein Herz ist nicht dein Boss. Es hält sich zwar dafür, aber das stimmt nicht. Du hast immer eine Wahl. Immer

»Man kann nicht bewusst entscheiden, nicht zu fühlen«, sagt Henna.

»Du kannst entscheiden, was du tust.«

»Ja«, sagt Jared. »Aber das ist schwer.«

»Für die Christen der Frühzeit war der Bauch der Sitz der Seele«, stelle ich fest.

Alles ist still, nur ein frischer Windstoß streicht durchs Gras, ganz für sich allein, er scheint zu sagen: Achtet nicht auf mich.

»Das weiß ich von Dad«, füge ich hinzu.

Mel widmet sich wieder ihrem Laptop und den Hausaufgaben. »Und woher will ausgerechnet Dad das wissen?«, fragt sie.

Der Wind frischt auf (ich stelle mir vor, wie er höflich sagt: Tut mir schrecklich leid – der Wind kommt anscheinend aus England –, und ich überlege, wie er es bis hierher zu uns geschafft hat). Henna muss mit der Hand das Blatt Papier mit den Aufgaben festhalten, damit es nicht weggeweht wird. »Wozu braucht man heutzutage noch Papier?«

»Bücher«, sagt Jared.

»Toilettenpapier«, sagt Mel.

»Weil Papier ein Gegenstand ist«, sage ich. »Manchmal braucht man Gegenstände statt Gedanken.«

»Das war keine Frage an euch.« Henna klemmt den Zettel – ein Handout zum Bürgerkrieg, das wir alle ausgeteilt bekommen haben – unter ihr Tablet.

Ich berühre wieder die vier Ecken meines Schulbuchs und zähle im Stillen mit. Dann zähle ich noch einmal. Und noch einmal. Jared beobachtet mich, versucht es aber nicht zu zeigen. Wieder zerzaust eine britische Brise mein Haar (Top of the morning? Ach nein, dieser Gutenmorgengruß ist ja irisch). Es ist ein sonniger Tag, zu dem der Wind gar nicht passt. Wir kommen nur bei schönem Wetter hierher, und das hatten wir seltsamerweise schon im April und Anfang Mai. Das Feld ist eigentlich gar keins, sondern nur ein Grundstück, das nie bebaut wurde, weil der Besitzer entweder gestorben ist oder eine Scheidung ihn daran gehindert hat oder so was, es ist nur ein großes grasbewachsenes Viereck am Ende unserer Straße, auf dem sich noch von Hand abgesägte Baumstümpfe befinden. Baumreihen grenzen es von den anderen Grundstücken ab. Man muss wissen, wo es ist, um es zu finden, was niemand außer uns tut, weil wir ohnehin abgelegen leben und jenseits des Felds nur undurchdringliches Dickicht wartet. Nachts hört man die Kojoten und das ganze Jahr über haben wir Rotwild in unserem Garten zu Besuch.

»Hey«, sagt Jared. »Hat noch jemand das Thema Wiederaufbau nach dem Bürgerkrieg gewählt oder bin ich der Einzige?«

»Ich«, melde ich mich zu Wort.

»Du?«, fragt Mel beunruhigt. »Ich ebenfalls.«

»Und ich auch«, sagt Henna.

»Also alle«, stellt Jared fest.

Mel sieht mich an. »Bitte, tu’s nicht. Ich meine, würdest du bitte, bitte ein anderes Thema wählen?«

»Aber ich habe schon jede Menge Notizen gemacht …«, sage ich.

»Mit dem Wiederaufbau kenne ich mich aus.«

»Dann mach das doch auch.«

»Wir können nicht beide dasselbe Thema bearbeiten. Dein Aufsatz wird total schlau sein und ich stehe wie der letzte Idiot da.«

So ist das mit meiner Schwester. Sie hält sich für dumm. Aber das ist sie ganz und gar nicht.

»Sein Aufsatz ist garantiert viel besser als meiner«, sagt Jared.

»Mikey, überlass das Thema mir.« Jede Wette, an dieser Stelle werden die meisten denken: ältere Schwester, die herumkommandiert, und alle, die uns nicht kennen, werden sich fragen, wieso wir beide in der Abschlussklasse sind, wo sie doch über ein Jahr älter ist als ich, und die meisten werden meinen, aus Mels Frage den verwöhnten Ton einer vermeintlichen Quenglerin herauszuhören.

Die meisten Menschen lägen damit falsch. Mel nörgelt nicht. Sie fragt, und das sogar noch sehr nett. Die meisten Menschen würden in ihrem Blick auch nicht die Angst vor der bevorstehenden Prüfung lesen können.

Ich schon.

»Okay«, sage ich. »Dann schreibe ich eben über die Ursachen des Bürgerkriegs.«

Sie bedankt sich bei mir mit einem kurzen Nicken, dann bittet sie Henna: »Könntest du ebenfalls über die Ursachen schreiben?«

»Hey!«, protestiert Jared. »Und was ist mit mir?«

»Ernsthaft?«, fragt Mel ihn.

»Nö, eher nicht«, lacht Jared. Obwohl er groß und stämmig ist, sich schon mit elf rasierte und in unserem ersten Jahr auf der Highschool der angriffslustige Lineman des Footballteams wurde, ist er ein Mathecrack. Leg ihm Zahlen vor, dann ist er großartig. Versuch es mit Wörtern, aus denen er Sätze bilden soll, dann runzelt er die Stirn, und man bekommt eine Ahnung davon, wie er mit achtzig aussehen wird.

»Mel«, sagt Henna. »Du musst damit aufhören …«

Wie aus dem Nichts kommt ein Indie-Junge zwischen den Bäumen hervorgerannt. Seine altmodische Jacke flattert im Wind. Er schiebt seine schwarz gerahmte Brille hoch und rennt in etwa sechs Meter Entfernung an uns vorbei. Er sieht uns nicht – die Indie Kids tun das nie, selbst dann nicht, wenn wir im Unterricht direkt neben ihnen sitzen – und läuft quer übers Feld, ehe er dort in der gegenüberliegenden Baumreihe verschwindet, die, wie wir alle wissen, nur noch tiefer in den Wald hineinführt.

Ein paar Sekunden herrscht Stille, während wir uns wtf-Blicke zuwerfen. Dann folgt ein junges Mädchen aus der Richtung, aus der auch der Indie-Junge gekommen ist. Es sieht uns ebenfalls nicht, erstrahlt allerdings in einem so hellen Glanz, dass wir die Augen abschirmen müssen. Auch sie verschwindet hinter der jenseitigen Baumreihe.

Eine Minute lang spricht keiner ein...


Ness, Patrick
Patrick Ness wuchs in den Vereinigten Staaten und auf Hawaii auf. Er lebte viele Jahre lang in London und war dort als Literaturkritiker für die Tageszeitung The Guardian tätig. Für seine Jugendbücher wurde er vielfach ausgezeichnet, er gewann unter anderem den renommierten Costa Children's Book Award und bereits zweimal die Carnegie Medal. Für »Sieben Minuten nach Mitternacht« erhielt er als erster Autor gleichzeitig die Carnegie Medal und den Kate Greenaway Award sowie neben unzähligen anderen Auszeichnungen den Deutschen Jugendliteraturpreis. Heute lebt Patrick Ness in Los Angeles und schreibt neben seinen Büchern nun auch Drehbücher.

Koob-Pawis, Petra
Petra Koob-Pawis studierte in Würzburg und Manchester Anglistik und Germanistik, arbeitete anschließend an der Universität und ist seit 1987 als Übersetzerin tätig. Sie wohnt in der Nähe von München, und wenn sie gerade nicht übersetzt, lebt sie wild und gefährlich, indem sie Museen durchstreift, Vögel beobachtet und ihren einäugigen Kater daran zu hindern versucht, sämtliche Möbel zu ruinieren.



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