Nett / Simkin | Ein Offizierssohn wird (k)ein Bandit! | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 150 Seiten

Nett / Simkin Ein Offizierssohn wird (k)ein Bandit!

Gejagt vom Krieg bis ans Ende der Welt - und der Jugend
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7529-1253-1
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Gejagt vom Krieg bis ans Ende der Welt - und der Jugend

E-Book, Deutsch, 150 Seiten

ISBN: 978-3-7529-1253-1
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Westgrenze der UdSSR, 1941: der knapp zehnjährige Sohn eines Grenzschutzoffiziers erlebt den Überfall der deutschen Wehrmacht. Der geliebte Vater wird vermisst, die resolute Mutter flieht mit ihm nach Osten, immer voller Angst, dass `aus dem Offizierssohn ein Bandit werden´ könnte. Über verschiedene, ebenso unterschiedliche wie eindrückliche Stationen hinweg verschlägt es den schmächtigen, autoritär erzogenen Flüchtlingsjungen und seine standesbewusste und energische Mutter über 12.000 km weit bis ans gegenüber liegende Ende der Sowjetunion. Diese Strapazen erlebt der Junge als Abenteuer, die aus ihm einen Mann machen sollen.

Peter Simkin arbeitete in Russland u.a. als leitender Ingenieur und Autor / Regisseur kleinerer Theaterstücke. 1995 nach Deutschland ausgewandert, war er in der Consultingbranche tätig; zu seinen Interessen gehören u.a. Geschichte und Psychologie. Bernhard Nett forschte als Soziologe in Ländern des globalen Südens zu Entwicklungsproblemen sowie als Medienwissenschaftler zur Wirkung der Digitalisierung auf die Arbeitswelt; er interessiert sich für Kultur, besonders Literatur.
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Das Rehkitz ist tot


Der alte Herr aus Kiew: „Es ist wahrscheinlich sehr ungewöhnlich, dass ich mir schon in einem sehr frühen Alter die Gesichter unserer Nachbarn merkte, und ihre zärtliche Fürsorge. Man trug mich damals noch auf Händen, in eine Decke eingewickelt, und zeigte mich den Nachbarn, meine „schwarzen“ Augen. Viele glauben mir nicht, aber als ich meiner Mutter ihre Gesichter nach dreißig oder vierzig Jahren beschrieb, war auch sie erstaunt, denn es hatte tatsächlich solche Nachbarn und Nachbarinnen wie die gegeben, die ich beschrieb, in der Zeit, in der ich noch ein Säugling war. Wirklich seltsam! Aber es war so.

Ich wurde an einem besonderen Ort geboren, am zentralsten Teil Kiews: der Ecke der Korolenko und der Fundukleyevskaya. Ich glaube, dass Fundukley ein Gouverneur Kiews in der Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen war, der große Bedeutung gehabt hatte; Korolenko war ein russischer Schriftsteller. Später wurden diese Straßen dann umbenannt: Aus der Korolenko wurde die Wladimirskaya (engl.: Volodymyrska Street) nach dem Großen Kiewer Fürst - und aus der Fundukleyevskaya die Lenina1. An der Ecke dieser beiden Straßen stand unser Haus, das ehemalige Theater-Hotel, und gegenüber lag unser berühmtes Opernhaus.

Durch die Fenster unseres Hauses konnte man nach hinten heraus ein Gebäude sehen, das unauffällig, gar nichts Besonderes, zu sein schien. Es sollte sich aber später heraus stellen, dass es das Präsidium der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften war, gewissermaßen das Allerheiligste der ukrainischen Wissenschaft. Und irgendwie hat es sich so ergeben, dass ich mehr als die letzten dreißig Jahre des Lebens mit diesem Gebäude und dieser Institution verbunden war, dort an einem akademischen Institut arbeitete.

Mein Vater war Militär, sogar Karriereoffizier. Als ich geboren wurde, trug er bereits die Marineuniform – und ich erinnere mich noch gut, was das damals bedeutete! Als sich die Uniform abgenutzt hatte, gab mein Vater sie seinem Vater; sie wurde nun umgeschneidert, mit der inneren Seite des Stoffes nach außen. Eines Tages besuchte uns mein Großvater von irgendwo (er lebte nicht in Kiew) und machte Faxen in der umgearbeiteten Uniformjacke, die man umgangssprachlich `Kapitanke´ nannte (Opa hatte immer schon gerne den Clown gespielt).

An der Familie meines Vaters war ungewöhnlich, dass sowohl sein Urgroßvater, Großvater und Vater je 25 Jahre in der zaristischen Flotte gedient hatten; noch ungewöhnlicher aber, dass sie aus dem Städtchen Berdichev kamen, das keinerlei Zugang zu irgend einem Meer hat: das war schon erstaunlich! Auch die Tatsache, dass alle drei - den Erzählungen des Vaters und denen seines Vaters zufolge (die ich selbst hörte) strikte Atheisten waren, obwohl die Menschen in dieser Kleinstadt sonst sehr gläubig waren.

Bevor sie zur Marine gingen, waren sie Gerber gewesen (die man in der Ukraine `Kozhemyako´ nannte). Einer der Helden des ukrainischen Epos, Mykyta Kozhemyako, ist ein Mann mit großartiger Stärke, der mit seinen riesigen Armen, mit seinen Pratzen, alles zerquetscht. Solche Pranken hatten damals alle von dort, auch mein Vater! Von nur durchschnittlicher Größe, vielleicht sogar noch kleiner, waren sie doch körperlich äußerst stark und hatten diese mächtige `Zange´ (so nannte ich diese Hände, mit der sie die ganze Zeit Leder in einer bestimmten Lösung geknetet hatten.) Vielleicht war es das, warum sie in der Flotte genommen wurden: weil sie so stark und gesund waren (obwohl sie ja wohl keinen wirklich gesunden Beruf hatten.)

Sie, die Leute aus der kleinen Stadt, die Kräftigen: den Erzählungen des Vaters zufolge waren sie - gewissermaßen von Natur her - Raufbolde. Es wurden Kämpfe arrangiert: man fand immer Anlässe für Schlägereien! Natürlich gewannen immer sie (das war wohl auch ein Grund für die Erfindung von Anlässen für die Schlägereien). Und, wie alle normalen Menschen tranken sie Wodka.

Zur Flotte kam man normalerweise im Alter von 18-20 Jahren, zum Kozhemyako wurde man jedoch schon mit 10-12 Jahren, noch als Kind. Das Wichtigste war damals, sich irgendwo zu arrangieren, besonders bei den Jungs: wie gut, wenn ein Kind weniger zu ernähren war! Die Familien waren in der Regel groß und es war wichtig, so bald wie möglich jedes überschüssige Maul loszuwerden. Die Familie des Vaters hatte sieben Kinder (er hatte sechs Schwestern).

Auf jeden Fall hatten die Jungs bis zur Armee genug Zeit! Zum Arbeiten! Aber auch für Rowdytum und für Unsinn! Danach waren sie dann plötzlich in der Marine, ihre "Erziehung" war einfach zu Ende! Sie durchliefen die Marine und versuchten, möglichst lebendig zurück zu kehren. Auf den alten Fotografien trugen die Jungs gestreifte Matrosenhemden. Nur mein Vater nicht: der war – wie schon gesagt – in Marineuniform, obwohl er – wie ich später erfuhr - in den Grenztruppen diente. Er nahm am Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution teil, absolvierte irgendeine Schule und kam so zu den Grenztruppen. Die Dnjepr-Flottille bewachte die Flussgrenzen, das heißt: die Grenze zu Polen, vor allem in Weißrussland im Gebiet von Prypjat und Mosyr2.

Peter: "Dnjepr-Flottille?“

„Ja, die Dnjepr-Militärflottille! So wurde sie sogar auf den Bändern meiner Matrosenmütze genannt. Sie sollte die Grenzen schützen. Manchmal fuhren sie bis zum Schwarzen Meer runter und nahmen dort an irgendwelchen allgemeinen Manövern oder Ähnlichem teil. Mein Vater begann früh, mich auf das Schiff mitzunehmen und mir die `maritimen Angelegenheiten´ beizubringen. Ich erinnere mich, dass ich noch recht klein war - aber schon in Marineuniform und der Mütze mit den Bändern! Die Matrosen reichten mich von Hand zu Hand weiter, und sagten: `Das ist der des Schiffskommandanten, das Söhnchen des Kommandanten´, und solche Sachen. Na ja, im Allgemeinen lernte ich dort ihr ganzes Leben kennen, und sie fütterten mich dafür mit einem leckeren Brei, der mir bei meiner Mama zu Hause natürlich nie so lecker geschmeckt hätte!

Die Kameraden des Vaters waren meist Grenzsoldaten. Sehr oft versammelten sie sich abends in unserer Wohnung. Die bestand aus einem Zimmer von etwa zehn Metern Länge. Daraus machte man mit Wandschirmen, wie man sie damals nutzte um etwas abzutrennen, einen Bereich, in dem ich schlief, einen für die Eltern und einen separaten, in dem ein Tisch stand. So gab es zwei `Schlafzimmer´ und ein `Wohnzimmer´. Die `Küche´ war auf dem Gemeinschaftsflur (ein langer, langer Korridor - den man wahrscheinlich immer noch so vorfindet. In letzter Zeit war ich aber nicht mehr da, es wurde ein Theaterhotel aus dem Haus). Wie dem auch sei, die Kameraden meines Vaters kamen immer dorthin.

Da ich erst im Jahr 1931 geboren wurde, verstand ich noch nicht alles, was sie sagten, aber jedes Mal, wenn Namen genannt wurden, waren mir viele schon bekannt. Denn es war üblich, dass Kinder - kaum dass sie sprechen gelernt hatten, also mit vier oder fünf Jahren - wenn Gäste kamen, auf einen Stuhl gestellt wurden und die gesamte Führung der kommunistischen Partei auswendig aufsagten - wer wofür verantwortlich ist, wer für was Minister ist: wir wussten all das, und das wurde für eine sehr gute Leistung gehalten.

Besonders viel hörte ich von Iona Jakir, den Papa schon seit dem Bürgerkrieg gut kannte. Er war Kommandant des Kiewer Militärbezirks. Wir standen an der Schwelle zum Jahr 1937 und ich hörte `den … hat man mitgenommen, und den …. hat man auch mitgenommen...´ Am Ende der Unterhaltung hörte ich dann auch noch, dass auch Jakir verhaftet worden war. Also war auch er jetzt `Feind des Volkes´ - Worte, die damals sehr oft zu hören waren.

Was kommt mir noch in den Sinn? Vater besaß ein Buch `Kurzer Geschichtskurs der bolschewistischen Partei´. Um keine Zeit zu verschwenden, nannte man das Buch allenthalben nur: `Kurzkurs´. Dort fanden sich Porträts der Menschen, an die sie glaubten - und über die sie jedes Mal staunten. Ich verstand nicht alles, weil sie mit leisen Stimmen sprachen, aber an ihre Überraschung erinnere ich mich gut: `Jakir kann kein Feind des Volkes sein!´ So etwas konnte nur ganz leise ausgesprochen werden! Diese ganze Geschichte, die in den Jahren `34/`35 angefangen hatte, eher verhalten noch als `Mord an Kirow´3 und so weiter - ich las ein Buch über Kirow (ein Kinderbuch: `Der Junge aus Urschum)´ - mir wurde schon damals einiges klar …“

Peter: „Gab es Freunde oder Bekannte, die `verschwanden´?“

„Ja, Freunde! Stepan beispielsweise war ein Freund des Vaters, vor dem Krieg Kapitän oder Major: er besuchte uns sehr oft, wurde ein enger Freund - plötzlich war er verschwunden! Er war irgendwohin nach Sibirien geflohen. Nach dem Krieg traf man sich wieder: er hatte überlebt! Noch ein Freund der Familie war verschwunden, genauer gesagt: eine Freundin meiner Mutter und ihr Ehemann, Rosa Petrovna und Lyonya Kiyashko. Auch sie waren nach Sibirien geflohen, wo sie sich irgendwo versteckt hatten. Einige Leute wechselten ihre Pässe; sie taten alles, was sie tun konnten, um weg zu kommen. Weil sie früh erkannt hatten, dass sie gerade solche Leute mitnahmen, an denen es keinerlei Zweifel gab!

Wie dreist sich die Offiziere der Spezialabteilungen benahmen! Und das in der Vorkriegszeit! Während des Krieges hasste die Armee diese Menschen, konnte aber nichts tun, weil jeder Kapitän des NKWD4 einem Oberst der Kampfeinheiten einfach so eine reinhauen konnte: denen war einfach alles erlaubt!

Auf Jahrzehnte hinaus werden wir kaum je wieder diese Art von Armee haben, die es davor gegeben hatte. Ein Militär, das war damals eine sehr respektierte Person mit einer relativ hohen Bezahlung! Und das Militär war verantwortlich für...



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