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E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Neumann / Ikas Feuerland

Eine Reise ins lange Jahrhundert der Utopien 1883-2020

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-641-28157-1
Verlag: Siedler
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Eine fesselnde Zeitreise in die Ära der großen Utopien - von Nietzsches »Übermensch« bis zu Susan Sontags Traum vom großen Frieden in Europa
Alles beginnt mit einem gewaltigen Knall: Der Ausbruch des Vulkans Krakatau 1883 ist wie ein Sinnbild für die ungeheure Kraft der utopischen Energien, die sich im langen 20. Jahrhundert entladen werden. Nietzsches »Übermensch« und Wittgensteins Revolution der Sprache, die Utopie vom grenzenlosen Fortschritt und die revolutionäre Kunst der Käthe Kollwitz, Freuds Eroberung des Unbewussten und der zerplatzte Traum vom Ende der Geschichte – all dies erweckt Peter Neumann in Szenen, Geschichten und Porträts meisterhaft zum Leben. Er lädt uns ein auf eine fesselnde Zeitreise ins Feuerland der Utopien, die uns trotz ihrer oft destruktiven Energie bis heute faszinieren und nicht loslassen.
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Rapallo 1883: Die Vision vom Übermenschen
Friedrich Nietzsche und Richard Wagner reißen die Welt aus dem Schlummer Zur Not hätte er diesen Stapel von Papieren höchstpersönlich über die Alpen getragen. Bis ans Ende der Welt. Da es vorläufig aber noch keinen Grund gibt, an der Zuverlässigkeit der Post so zu zweifeln wie an der moralischen Tugendhaftigkeit des Menschen, hat sich Friedrich Nietzsche an diesem 14. Februar 1883 vom italienischen Rapallo aus auf den Weg ins benachbarte Genua gemacht, um sein Manuskript direkt auf die Reise nach Deutschland zu schicken. Per Express! Die Publikation duldet keinen weiteren Aufschub. Das Buch, eine Abrechnung mit seinem Zeitalter, hat sich Nietzsche in nicht einmal zehn Tagen von der Seele geschrieben. Zehn absolut heitere, frische Januartage, in denen so vieles möglich schien, woran er selbst nicht mehr geglaubt hatte. Es soll ein Buch »für Alle und Keinen« werden, der Untertitel ist mit Bedacht gewählt: »Für Alle«, weil das, wovon das Buch spricht, ausnahmslos alle angeht; »für Keinen«, weil es dafür eine Sprache gefunden hat, die sich der Sprache, in der heutzutage alle Welt plappert, widersetzt. Es ist die Sprache der Moral, die Nietzsche so verachtet, die Redeweise jener Spießer, die sich nur an der Afterweisheit der Sonntagsprediger, der Priester und Bildungsphilister weiden, anstatt sich selbst auf den Weg des Denkens zu begeben. Wohin man blickt in diesem neunzehnten Jahrhundert: Noch nie ist eine Epoche so klug gewesen und weiß so wenig. Überall Kopien, Imitationen, Masken, mit denen sich die Menschen behelfen. Ein regelrechtes Karnevalsfieber hat dieses Jahrhundert ergriffen und ihm alles Leben, alle Luft zum Atmen geraubt. Zum Wohle der Moral versteht sich, zum Wohle der Mächtigen. Damit muss Schluss sein! Wie heiter und frei fühlt es sich an, wenn erst einmal der Glaube an Moral und Sittlichkeit, an alle Werte ins Wanken geraten ist! Kann nicht alles auch ganz anders sein, als es sich die Menschen auf ihrem kleinen Stern vorstellen? Kann das Gute nicht auch schlecht sein, das Schlechte nicht auch gut? Nietzsche ist der Überzeugung: Es kann! Man muss die Welt aus den Angeln heben, sie wird ihren Platz dann schon von ganz alleine wiederfinden. Aber dazu braucht es einen Propheten, der den Menschen von der Wahrheit kündet. Ihnen sagt, dass ihre Begriffe von »wahr« und »falsch«, »gut« und »schlecht«, »geschmackvoll« und »grässlich« abgegriffen sind wie alte Münzen. Nietzsche nennt diesen Wahrsager den »Übermenschen« und hat ihm den Namen Zarathustra gegeben. Friedrich Hartmann [Public domain], via Wikimedia Commons Prophet der Moderne: Friedrich Nietzsche will die Moral überwinden. Aber bevor der »Übermensch« sein Werk tun kann, müssen die alten Werte ins Wanken geraten. Zarathustra ist ein Einsiedler, der nach Jahren der Einsamkeit und Selbstbesinnung seine Bergwelt verlässt, um den Menschen seine Weisheit mitzuteilen. Die heutigen Menschen, die »letzten Menschen«, wie Zarathustra sie nennt, sind freilich zu satt, um auf seine weisen Worte zu hören. Nichts verstehen sie. Aber auch gar nichts. »Was ist Liebe?«, »Was ist Schöpfung?«, »Was ist Sehnsucht?«, fragen sie – und blinzeln. Wir haben das Glück gefunden, sagen sie – und blinzeln. Ehemals war alle Welt irre, sagen selbst die Gescheitesten unter ihnen – und blinzeln. Es ist lächerlich! Schenkt man den Alten Glauben, soll Zarathustra, der große Weise aus dem Morgenland, bereits bei seiner Geburt in ein schallendes Gelächter ausgebrochen sein, das seither nicht mehr verklungen sei. Als Anwalt gegen traditionelle Autoritäten kündet er von einer Welt des Kampfes zwischen den Mächten des Guten und des Bösen. Zarathustra selbst ist es gleichviel: Die Hoffnung auf Erlösung, auf eine andere, bessere Welt hat er längst aufgegeben. Wie können die Menschen bloß glauben, sie könnten etwas ändern? Die Hoffnung an sich ist im Grunde das größte Übel von allen: Sie zwingt den Menschen, das Leben nicht wegzuwerfen, sondern weiterzumachen und sich immer wieder von Neuem quälen zu lassen. Sinnlos! Die Hoffnung auf Aufklärung, auf Fortschritt, auf Ruhm, Glanz und Herrlichkeit hat das Jahrhundert in einen Dämmerschlaf versetzt. Wenn man es jetzt wecken will, muss man so radikal wie möglich sein und sagen: Nichts davon ist wahr; es gibt aber auch nichts, das größer und besser und an dessen Stelle zu setzen wäre. Denn gerade in diesem Größer und Besser liegt doch bereits das Problem. Es gibt ein Wort, das Zarathustras Haltung der Gleichgültigkeit auf den Begriff bringt: Zarathustra ist Nihilist. Ein Nihilist ist eine Person, die sich keiner Autorität beugt, die kein einziges Prinzip bedingungslos akzeptiert, egal, wie sehr es geschätzt wird, egal, von wem und woher es kommt. Solange sich der Mensch aber noch mit moralischen Lehrsätzen zufriedengibt, mit Schmerzzäpfchen, hilft alles nicht: Also hinfort mit ihm, der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss. Die Devise des Übermenschen lautet: Nicht vom Übel muss die Welt befreit werden, sondern von ihren falschen Erlösern. Früher, als sie noch befreundet waren, hätte der Komponist Richard Wagner ein solcher Übermensch sein können. Nur hat sich Wagner, dieser »Oberkirchenrat«, inzwischen selbst schon eine Art von Religion zurechtgezimmert. Seine neueste Oper Parsifal strotzt nur so vor christlichen Erlösungsfantasien. Für einen wie ihn, Nietzsche, der Gott schon lange für »tot« erklärt hat, ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Mit einem Wort: Abscheulich! An Wagner und das, was zwischen ihnen vorgefallen ist, denkt Nietzsche an diesem Vormittag auf seinem Weg nach Genua aber nicht wirklich. Später am Tag wird er dann jedoch an Heinrich Köselitz, einen seiner treuesten Begleiter und Weggefährten, vermelden, was in der Abendausgabe des Caffaro steht. Etwas, womit er nie gerechnet hat, ist geschehen: Richard Wagner, sein von ihm so sehr gehasster Feind und sein einziger Freund, ist, wie es dort in einer Annonce steht, tags zuvor im Alter von 69 Jahren in Venedig gestorben. Schon als sie am 16. September 1882 aus Bayreuth hier ankamen, ließ der Regen die Kanäle über die Ufer treten. Eine wahre Sintflut hatte sich über die Stadt ergossen. Und es will auch jetzt noch immer nicht aufhören zu schütten. Venedig, Königin des adriatischen Meeres, Besiegerin Konstantinopels, Bollwerk der Christenheit: seit Wochen eine einzige Riesenpfütze. Und er, Richard Wagner, muss darin herumwaten. Quartier haben die Wagners im Palazzo Vendramin-Calergi am nordöstlichen Ende des Canal Grande bezogen. Das Mezzanin, das Cosima und er, die Kinder Isolde, Eva und sein jüngster Sohn Siegfried bewohnen, besteht aus fünfzehn Zimmern, der Salotto zum Kanal hinaus ist rot tapeziert, mit Doppelfenstern und Mobiliar im Stil Louis XVI. Gegenüber erhebt sich der Fondaco dei Turchi im altertümlichen Rundbogenstil. Geisterhaft huschen die Gondeln auf dem Canal Grande vorbei. Nach hinten raus befindet sich ein – für das sonst vegetationslose Venedig – weitläufiges Hofareal, das auch jetzt im Herbst noch in frischem Sommergrün prangt, anmutig wie die Blumen in Klingsors Zaubergarten. Im Vergleich zu den Bequemlichkeiten in der Villa Wahnfried in Bayreuth alles in allem aber ein bescheidenes Heim. Heute, an diesem 22. Oktober, hat Wagner begonnen, einen Aufsatz für die Bayreuther Blätter zu verfertigen. Es soll eine Schrift über das »Bühnenweihfestspiel« werden. So hat er seinen Parsifal getauft, der im Sommer bei den Festspielen Premiere gefeiert hat. Getty Images/Hulton Archive Alles oder nichts: Für Richard Wagner ist die Kunst eine Religion. Allein sie vermag den Menschen noch aus seiner inneren Leere zu befreien. Die Bild der Weihe fügt sich in Wagners Vorstellung, dass die Oper in den Rang einer Religion zu erheben sei. Sie ist eine zeremonielle Handlung, die der Welt ihre Profanität austreiben soll. Der Gläubige ist, sobald er die Weihe empfangen hat, Teil eines größeren Ganzen, einer heiligen Gemeinschaft. Von ihr erhält er den Segen, und in ihren Dienst hat er sich fortan zu stellen. Ob vor oder hinter, über oder unter der Bühne: Wagner glaubt an die weltverändernde Kraft einer Kunstreligion. Allein sie ist für ihn noch in der Lage, die Gesellschaft vom Luxus und von der Herrschaft der Lieblosigkeit zu befreien. Gerade die Gestalt des Parsifal, des »reinen Tors«, der durch sein Mitleid zum Erlöser aufsteigt, hat das in seinem jüngsten Stück bewiesen. Der Sohn der Herzeleide und des vor seiner, Parsifals, Geburt im Kampf gefallenen Ritters Gamuret kennt selbst weder seinen Namen, noch weiß er, woher er kommt und wer seine Eltern sind. Ohne jede Ahnung irrt er durch die Welt, holt erst mit Pfeil und Bogen einen unschuldigen Schwan vom Himmel und bringt schließlich mit seinem Erbarmen Klingsors Zaubergarten zum Einsturz. Allein durch sein Mitleid, seine christliche Moral, gelingt es ihm, jenen Speer zurück in die Gralsburg zu bringen, mit dem Klingsor einst dem König Amfortas die Wunde geschlagen hat, die sich seither nicht mehr schließt. Es ist die heilige Lanze, mit der Christus damals am Kreuz von einem Soldaten traktiert wurde. Parsifal rettet so die Gralsritterschaft vor dem Zerfall, wird selbst König, und am Ende der Oper schwebt eine Taube als Zeichen göttlicher Gnade auf ihn herab. So viel Auferstehungsglaube muss sein! In den wenigen Stunden, in denen es nicht regnet, zieht es Wagner auf die Piazza San Marco. Am liebsten lässt er sich in...


Neumann, Peter
Peter Neumann, geboren 1987, ist promovierter Philosoph. Er lehrte an den Universitäten Jena und Oldenburg und ist seit November 2021 Redakteur im Feuilleton der Wochenzeitung DIE ZEIT. 2018 erschien bei Siedler „Jena 1800. Die Republik der freien Geister“. Peter Neumann lebt in Berlin.


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