E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Neuy-Lobkowicz ADHS kompakt
1. Nachdruck. 2025
ISBN: 978-3-608-12423-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Diagnostik und Therapie für Klinik und ambulante Praxis
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-608-12423-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Astrid Neuy-Lobkowicz (vormals Astrid Neuy-Bartmann), Dr. med., ist Fachärztin für Psychotherapie und Psychosomatik. Sie gründete mit anderen Kollegen das ADHS-Zentrum in München und hat eine Facharztpraxis mit Schwerpunkt ADHS in Aschaffenburg. Zum Thema ADHS hält sie viele Vorträge und hat weitere Bücher mit Kollegen veröffentlicht. Sie ist selbst Betroffene und Mutter von fünf Kindern, von denen drei ADHS haben.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizin, Gesundheitswesen Medizin, Gesundheit: Sachbuch, Ratgeber
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Sachbuch, Ratgeber
Weitere Infos & Material
Teil 2
Diagnostik und Therapie
2.1
Die noch immer gültige S3-Leitlinie für die Diagnostik und Therapie von ADHS im Erwachsenenalter wird nur in Ansätzen umgesetzt. Es ist erstaunlich, dass ein Großteil der niedergelassenen Kollegen diese nicht kennen und damit auch nicht in ihre Praxis implementieren. Ich höre leider immer noch viel zu oft auch von Kollegen, dass ADHS überbewertet, eine Modediagnose sei oder Gedöns.
Hier noch einmal die wichtigsten Symptome im Erwachsenenalter (vgl. auch Kap. 1.1).
ADHS-Symptome im Erwachsenenalter
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Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung
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Innere Unruhe, Getriebenheit
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Ungeduld
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Impulsivität und schnelle Stimmungswechsel
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Mangelnde Selbstdisziplin und Zuverlässigkeit
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Motivationsstörung, vor allem dann, wenn etwas keinen Spaß macht; »Aufschieberitis«; Aufgaben werden nicht zu Ende gebracht
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Priorisierungsprobleme, das heißt Unfähigkeit zu sehen, was wichtig und was unwichtig ist; Schwierigkeiten, den Überblick zu behalten
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Chaos, desorganisierte Arbeitsweise
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Vergesslichkeit
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Falsche Zeiteinschätzung, Probleme mit Pünktlichkeit und schlechtes Zeitgefühl
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Instabiles Selbstwertgefühl, Selbstzweifel
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Hoher Gerechtigkeitssinn
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Risikobereitschaft
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Schwierigkeiten mit Mitmenschen und berufliche Probleme
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Erhöhtes Risiko, im Laufe des Lebens weitere körperliche und seelische Begleiterkrankungen zu entwickeln
Es existieren zwei Diagnosesysteme, anhand derer ADHS diagnostiziert wird: Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, derzeit in seiner fünften Ausgabe (DSM-5) (American Psychiatric Association, 2013), und die ICD-10 bzw. die ICD-11.
Tab. Die ICD-10 Kriterien für ADHS
| F90.– | Hyperkinetische Störungen |
| F90.0 | Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung |
| F90.1 | Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens |
| F90.8 | Sonstige hyperkinetische Störungen |
| F90.9 | Hyperkinetische Störung, nicht näher bezeichnet |
| F98.– | Andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend |
| F98.8 | Sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend – Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität |
Tab. Die ICD-11 Kriterien für ADHS. Im ICD-11 finden sich zwar andere Ziffern, aber weitgehend gleiche Diagnosekriterien wie in der ICD-10.
| A05.0 | Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung [ADHS], vorwiegend unkonzentriert |
| 6A05.1 | Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung [ADHS], vorwiegend hyperaktiv-impulsiv |
| 6A05.2 | Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung [ADHS], kombiniert |
Aktuell ist die ICD-11 Version nicht nutzbar, da noch nicht lizensiert. Der Unterschied zur ICD-10 ist, dass ADHS als neuronale Entwicklungsstörung gesehen wird, die sich nicht verändern lässt, wie z. B. auch die Autismusspektrumstörung. Ziel ist es, dass ADHS-Betroffene mit ihrer Besonderheit einen guten Weg finden und glücklich und erfolgreich werden können.
Hier dazu eine kurze Zusammenfassung. Wer sich näher damit beschäftigen möchte, kann eine Kurz- und eine Langfassung im Internet abrufen:
https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-045
Ich möchte auch an dieser Stelle noch mal betonen, dass wir bei einer Prävalenz von 4 % als Fachärzte für Psychotherapie/Psychiatrie und Psychosomatik und alle Psychotherapeuten zuständig dafür sind, ADHS-Betroffene zu diagnostizieren und zu behandeln. Keine ADHS-Ambulanz kann 3,5 Millionen ADHS-Betroffene aufnehmen. Es ist von uns nicht gefordert, dass wir fachfremde Krankheitsbilder behandeln, sondern unsere Diagnostik und Therapie darauf abstellen, dass wir Patienten aus unserem Fachgebiet helfen können. Noch dazu ist ADHS das dankbarste Krankheitsbild in unserem Fach! Unsere Berufsgruppen dürfen sich nicht länger nicht zuständig fühlen, denn jeder von uns hat eine Fortbildungspflicht, und es ist ein ärztlicher und psychotherapeutischer Kunstfehler, ADHS nicht zu diagnostizieren und damit wichtige Therapieoptionen für die Patienten zu vergeben.
Jetzt ein paar kurze Statement zu den Leitlinien. Diese sind in einer Kurz- und Langversion im Internet verfügbar, aber da die meisten von ihnen keine Zeit haben werden, diese immerhin 180 Seiten durchzuarbeiten, werde ich Sie ihnen hier kurz und praxisnah erläutern.
Wer darf ADHS diagnostizieren und behandeln?
Fachärzte für Psychiatrie/Neurologie/Psychosomatik und ärztliche und psychologische Psychotherapeuten. Das heißt im Umkehrschluss, nur (!) unsere Facharztgruppe ist zuständig. Der Hausarzt darf keine Diagnostik und Ersteinstellung machen, das ist nicht seine Aufgabe.
Welche Diagnostik ist gefordert?
Die Leitlinien betonen, dass kein Test ADHS eindeutig nachweist. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen haben ADHS-Patienten oft eine schlechte Selbstwahrnehmung. Da sie mit ADHS auf die Welt gekommen sind, erleben sie die ADHS-Symptome als ich-synton, und sie haben oft noch gar nicht realisiert, dass ihre Art der Wahrnehmung, der Gefühlskontrolle oder auch der Planungsfunktionen anders ist. Sie können zwar häufig angeben, dass sie sich schon immer anders gefühlt haben, aber dieses Anderssein ist eher diffus und unkonkret. Aufgrund der häufig wechselnden Stimmungen fallen die Tests oft an demselben Tag unterschiedlich aus. Ist der ADHS-Betroffene gerade gekränkt oder fühlt er sich ungerecht behandelt? Ist er gerade im Wutmodus und sieht nur noch rot? Oder ist er gerade getriggert und völlig begeistert für die Verwirklichung einer neuen Idee? Da können sich Minuten später die Testergebnisse völlig ändern. So ist ADHS, berechenbar unberechenbar! Auch deshalb haben die Fremdanamnese und Kindheitsanamnese einen wichtigen Stellenwert.
Welche Besonderheiten gibt es bei Frauen?
Gerade bei Frauen ist die Diagnose oft schwierig, weil wir keine frauenspezifischen Fragebogen haben. Der unaufmerksame Typ ist oft unauffällig in der Symptomatik, und Ablenkbarkeit und Langsamkeit werden nicht unbedingt von Mitmenschen wahrgenommen und richtig zugeordnet. Frauen sind oft sehr bemüht, angepasstes Verhalten zu zeigen und sie sind gut darin, Symptome zu maskieren. Besonders, wenn sie intelligent und gut gefördert sind, erreichen sie häufig nicht den für die Diagnose erforderlichen Score. Auch deshalb steht klar in den Leitlinien, dass ein ADHS-Test weder beweisend für ADHS ist noch kann er ADHS ausschließen. ADHS-Tests dienen einer groben Orientierung. Die Diagnosestellung allein anhand der ADHS-Tests ist nicht zulässig.
Sind computergestützte Tests sinnvoll?
Ich erlebe immer wieder, dass Patienten von Ärzten dazu genötigt werden, teure Computertests zu machen, die sie selbst bezahlen müssen, um Stimulanzien verordnet zu bekommen. Das ist nicht leitlinienkonform, und dazu dürfen Patienten nicht gezwungen werden.
Ich sehe auch immer wieder, dass ADHS-Betroffene die Diagnose ADHS nicht bekommen, und damit leider auch keine Behandlung, weil sie einen Punkt unter dem Cut off liegen. Bedenken Sie bitte in solchen Fällen immer, dass Frauen und auch männliche intelligente Patienten zwar deutlich von ADHS betroffen sein können, aber unter strukturierten Bedingungen und bei guter Förderung in der Schule ziemlich unauffällig gewesen sein können.
Auch neuro-psychologische Tests oder EEG-Untersuchungen und computergestützte Konzentrationsverfahren können ein ADHS nicht sicher nachweisen.
Worauf kommt es bei der ADHS-Diagnostik an?
Das Wichtigste ist die Anamnese. Auch jede andere psychiatrische Diagnose wird gestellt, indem man die Lebensgeschichte und die aktuelle Symptomatik möglichst genau erfasst. Nahestehende Personen sollten dazu befragt werden. Bei Störungen, die vermutlich schon in der Kindheit bestanden, sollten Informationen, zum Beispiel von den Eltern, eingeholt werden, soweit diese Informationen verfügbar und von den Patienten gewünscht werden. Bei ADHS müssen die typischen Symptome spätestens ab dem zwölften Lebensjahr nachweisbar sein. Das macht man durch Elternbefragung, Sichtung der Schulzeugnisse und genaue Befragung der Patientinnen und Patienten und deren Partner.
Was notwendig ist, um eine Diagnose zu stellen
Vorab ein ausführliches diagnostisches Interview mit der Erhebung der Lebensgeschichte:
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Allgemeine Angaben, vorherige Erkrankung, vorangegangene seelische Erkrankungen, Vorbefunde
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Entwicklungsverlauf: Geburtsverlauf, Verzögerungen in der Entwicklung, schwere Kinderkrankheiten, Unfälle
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Schulische und beru?iche Entwicklung, Abschlüsse,...




