Nicolosi | Putins Kriegsrhetorik | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 191 Seiten

Reihe: Konstanz University Press Essay

Nicolosi Putins Kriegsrhetorik


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8353-9776-7
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

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Reihe: Konstanz University Press Essay

ISBN: 978-3-8353-9776-7
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Rhetorik als Waffe – über Putins Reden als Mittel der Politik.

Den Krieg gegen die Ukraine hat Wladimir Putin rhetorisch vorbereitet, eskaliert und durch eine komplexe Argumentation begründet. Das Geflecht aus Legitimationsstrategien mag befremdlich und verstörend erscheinen, es knüpft aber gezielt an den Erwartungshorizont eines breiten, nationalen wie internationalen Publikums an und garantiert ein diffuses Verständnis für die Positionen des Kreml. Der russische Präsident ist dabei kein charismatischer und eloquenter Politiker. Gerade im Vergleich zu seinem Kontrahenten Selenskyj fällt seine Redekunst deutlich ab. Aber Putins Wort ist der Ursprung aller politischen Kommunikationsstrategien im heutigen Russland. Es steckt den Rahmen des politisch Sagbaren ab.
Riccardo Nicolosi seziert Putins Kriegskommunikation: von der Parodie westlicher Kriegsbegründungen hin zu einer paranoiden Kausallogik, in der Russland als ewiges Opfer westlicher Hegemonialbestrebungen figuriert; von der Affektrhetorik des Ressentiments zur Mystifizierung des Zweiten Weltkriegs als niemals endendes Ereignis; von der Modellierung des Ukraine-Konflikts als antikoloniale, tektonische Verschiebung in der geopolitischen Weltordnung zur Erhebung des Kriegs als einzig wahre Daseinsform im gegenwärtigen und künftigen Russland. So legitimiert die Macht der Worte die martialische Gewaltanwendung ebenso sehr wie sie den Krieg als Lösung aller Probleme plausibilisiert.

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2. Putins Rhetorik und Rhetorik im Putinismus
Das mangelnde oratorische Charisma hat bei Putin zu einer spezifischen Gestaltung seiner politischen Kommunikation geführt. Es ist kein Zufall, dass der russische Präsident einen zentralen Ort politischer Rhetorik, die Großkundgebung, meidet. Seine bevorzugten oratorischen Situationen sind vielmehr jene, in denen über die Stimmung der in überschaubarer Größe anwesenden Menschenmenge keinerlei Unsicherheit herrscht: monologische Ansprachen vor ausgewähltem Publikum wie feierliche Reden (z. B. zum »Tag des Sieges« am 9. Mai), programmatische Ansprachen vor Staatsorganen (z. B. die jährlich stattfindende Rede zur Lage der Nation vor der Bundesversammlung der beiden Parlamentskammern) und anderen staatlichen Institutionen; dazu gehören auch sorgfältig inszenierte Videoansprachen, die Gattung autokratischer Herrschaft schlechthin. Auf anderen, z. T. pseudo-dialogischen Bühnen, wie zum Beispiel dem »Waldai«-Klub[30] oder dem Petersburger Wirtschaftsforum, folgt der programmatischen Ansprache Putins eine Diskussionsrunde, die in der Regel von Kremlpropagandisten moderiert, d. h. entsprechend gelenkt wird. In diesen Situationen kann sich Putin auf eine Zuhörerschaft verlassen, die ihm wohlgesonnen ist und Fragen stellt, die im Wesentlichen bereits abgesprochen sind. Seine Redeweise ist hier meist technokratisch-professionell, kontrolliert und konzentriert. Am Rednerpult und auf der Bühne bei Gesprächsrunden fühlt sich Putin sichtlich wohl, da er ununterbrochen über Russland und die Welt belehren kann. Es ist daher kein Zufall, dass ein weiteres Medium der Putinschen Kommunikation die Schriftsprache ist, also Zeitungsartikel und ›wissenschaftliche‹ Essays, die eine klare programmatische Funktion haben. In seinen seltenen Auftritten auf großer Bühne verfällt er hingegen oft in Gebrüll, schneidet verstörende Grimassen, die eher Aggression als Begeisterung ausdrücken. Bezeichnenderweise hat Putin nie einen klassischen Wahlkampf geführt, sich nie auf Debatten mit anderen Kandidaten eingelassen, kaum Wahlkampfreden auf öffentlichen Kundgebungen gehalten. Begründet hat er das mit der Notwendigkeit, ein Präsident super partes zu sein, der sich nicht in die Niederungen des politischen Alltags begebe.[31] In diesem Aspekt unterscheidet sich Putin deutlich von jener russischen politischen Klasse der 1990er-Jahre, die unter den neuen Bedingungen demokratischer Freiheit die Kunst der öffentlichen Rede auf vielfältige Weise praktiziert hat. So verdankte etwa Putins politischer Ziehvater Anatoli Sobtschak, Bürgermeister von Sankt Petersburg in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre, seinen politischen Aufstieg einer ästhetisch anspruchsvollen, die Masse fesselnden Redekunst.[32] Große Unterschiede bestehen auch zur Rhetorik des Vorgängers im Amt des Präsidenten der Russischen Föderation, Boris Jelzin, dessen Proto-Populismus von der Face-to-Face-Kommunikation mit dem Volk lebte. Als Gegenspieler von Michail Gorbatschow gewann er in den Perestroika-Jahren Zustimmung in der Bevölkerung dank einer dialogischen Rhetorik, die sich vom hölzernen, monologischen Diskurs sowjetischer Parteifunktionäre deutlich abhob. Jelzin suchte den direkten Dialog mit der Bevölkerung, ließ sich auf Frage-Antwort-Situationen ein, die nicht inszeniert waren, und zeigte dabei eine für die Zeit ungewöhnliche rhetorische Anpassungsfähigkeit je nach Situationen und Adressaten.[33] Putin steht hingegen selten in direktem Kontakt zum Volk als Masse – und das nicht erst seit der Covid-Pandemie, die bei ihm zu einer pathologischen Angst vor Ansteckung geführt hat. Bei seiner dritten Amtseinführung 2012 beispielsweise, als er als amtierender Ministerpräsident vom Regierungssitz in einer Autokolonne zum Kreml fuhr, waren die Moskauer Straßen nicht nur für den Verkehr gesperrt, sondern auch sonst menschenleer. Die bedrohliche Masse, die in den Wochen und Monaten zuvor gegen seine Wiederwahl protestiert hatte, sollte demonstrativ ferngehalten werden; nur ausgewählte, loyale Volksvertreter durften am zeremoniellen Prunk im Großen Kremlpalast teilhaben.[34] Das Gespräch mit dem Volk wird von Putin vielmehr simuliert, und zwar in der seit 2001 jährlich stattfindenden, bis zu fünf Stunden dauernden Fernsehsendung »Der direkte Draht mit Wladimir Putin«, in der der russische Präsident verabredete Fragen aus dem ganzen Land per Liveschaltung beantwortet. Die hier inszenierte Dialogizität dient der Konstruktion einer empathischen Nähe zwischen dem Präsidenten und seinem Volk. In alter Zarentradition ›empfängt‹ Putin Bittsteller und verspricht, sich um die Sorgen seiner Bürger zu kümmern, wobei er nicht selten lokale Beamte und Politiker vor laufender Kamera abkanzelt.[35] In dieses Bild fügt sich der Putinismus als Herrschaftsform, die alles tut, um die Paarung von Charisma und Eloquenz aus der politischen Landschaft zu tilgen. Als autokratisches Regime, und anders als der klassische Totalitarismus, fürchtet der Putinismus die Massenmobilisierung genauso sehr wie (und vielleicht sogar mehr noch als) die Palastrevolte. Es ist bezeichnend, dass die Gefahr, die der Oppositionspolitiker Alexei Nawalny und seine Antikorruptionsbewegung für das Regime darstellten, nicht so sehr in der breiten Zustimmung lag, die Nawalny in der Bevölkerung genossen hätte, sondern vielmehr in dem unkontrollierbaren Mobilisierungspotenzial, das von seinem rhetorischen Charisma ausging. Die systemrelevante Depolitisierung der russischen Gesellschaft im Putinismus verlangt vom Volk eine lediglich passive bzw. rituelle Loyalität – etwa durch die Teilnahme an Wahlen –, aber keineswegs die Partizipation an politischen Prozessen. In Nawalnys mediengestützter Beredsamkeit steckte das Potenzial einer politischen Mobilisierung der Gesellschaft, die die Alternativlosigkeit des ermüdenden Putinschen Monologs hätte infrage stellen können. Auch dies erklärt die Kompromisslosigkeit, mit der Nawalny vom Putinschen Regime verfolgt und – direkt oder indirekt – ermordet wurde.[36] Der Putinismus ist also kein politisches System, in dem charismatische Eloquenz und stilistische Raffinesse eine rhetorische Daseinsberechtigung hätten. Rhetorik ist grundsätzlich kulturabhängig, d. h. unterschiedliche politische Systeme gehen mit unterschiedlichen Formen politischer Rhetorik einher. Die rhetorische Virtuosität eines Barack Obama mag zwar der allgemeinen Vorstellung effektvoller Beredsamkeit entsprechen. Sie ist aber bei Weitem nicht die verbreitetste Spielart politischer Rhetorik, sondern ganz konkret verankert im Amtsverständnis des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, das sich im 20. Jahrhundert entwickelt hat und unter dem Begriff »rhetorische Präsidentschaft« subsumiert wird. In den USA ist der Präsident vor allem durch Reden bestrebt, das eigene Elektorat zu mobilisieren und Unterstützung der Öffentlichkeit für seine Politik zu gewinnen.[37] Der politische Kontext, in dem Putins politische Kommunikation stattfindet, ist hingegen ein ganz anderer; er verlangt nach anderen rhetorischen Fähigkeiten und Strategien. Das heutige russische politische System lässt sich als personalistische Autokratie definieren, d. h. als ein Regime, in dem die Kontrolle über die Politik in der Hand einer kleinen Gruppe liegt, in dessen Zentrum eine einzelne Person steht, die alle relevanten Entscheidungen trifft. Die institutionell gefestigte Rolle des russischen ›Superpräsidenten‹ gründet in der Jelzinschen Verfassung von 1993. In der Putin-Ära wurde sie durch eine Reihe von Reformen mit uneingeschränkter Entscheidungsmacht ausgestattet. Sie wird durch Putin, den ›ewigen Präsidenten‹, mittlerweile regelrecht personifiziert. »Ohne Putin gibt es kein Russland«, formulierte im Jahr 2014 nach der Krim-Annexion Wiatscheslaw Mironow, damaliger Leiter der Präsidialadministration und heutiger Sprecher der Staatsduma, zugespitzt, aber treffend diesen Sachverhalt. Das Russland der Putin-Ära ist außerdem eine personalistische »Informationsautokratie«, d. h. ein elektoral-autoritäres Regime, das sich durch bestimmte Kommunikationsstrategien die Zustimmung der Bevölkerung sichern will. Putin gilt dabei als Paradebeispiel eines »spin dictator«.[38] Auch wenn das Regime nach dem Beginn des großangelegten Krieges gegen die Ukraine verstärkt auf Repressionsmechanismen setzt und immer mehr zu einer traditionellen Angstautokratie mutiert, bleibt die Rolle der Staatspropaganda, die die Bevölkerung von der Kompetenz der politischen Führung überzeugen will, weiterhin groß.[39] Dabei geht es nicht um Politisierung oder gar Mobilisierung des Elektorats durch die große Rede, weil Politik in Russland nicht in einem Wettbewerbskontext stattfindet. Vielmehr soll Rhetorik im Putinismus die Bevölkerung von der Kompetenz und Alternativlosigkeit des Regimes überzeugen. In diesem hoch personalisierten politischen System ist der Ursprung aller Kommunikationsstrategien Putins Wort. In seinen 25 Jahren politischer Führung hat der russische Präsident einen eigenen rhetorischen Stil entwickelt, der mit dem Putinismus als System untrennbar verbunden ist und dieses wesentlich mitkonstituiert.[40] Putins Reden und Ansprachen in verschiedenen Kontexten und Formaten sind zentrale Orte der Formulierung ideologischer und politischer Positionen, die dann in allen staatlich kontrollierten Medien konsequent propagiert, d. h. ausbuchstabiert, leicht variiert und bebildert werden. Putins...


Nicolosi, Riccardo
Riccardo Nicolosi ist Professor für Slavische Literaturwissenschaft an der LMU München und war Fellow am Alfried Krupp Kolleg Greifswald, wo er dieses Buch geschrieben hat.



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