Niemann | Die Einzigen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Niemann Die Einzigen

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7765-3
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Marlene Krahl lebt für die Musik. Ihre Kompositionen und Forschungen im Bereich der elektronischen Avantgarde beanspruchen sie mit Haut und Haar, als ihr früherer Bandkollege Harry Bieler sie nach Jahren unverhofft in Venedig wiedertrifft. Noch immer ist er fasziniert von ihr als Frau und Künstlerin. Gegen seine Zweifel setzt sie Entschiedenheit. Er sucht Zugang zu ihren Sphären, will ihr Förderer und Geliebter werden und holt sie nach München zurück. Ihr kompromissloser Kunstwille gibt ihm die Kraft, das familieneigene Unternehmen radikal neu zu erfinden. Doch mit dem wachsenden Erfolg kommt auch die Frage ans Licht, wozu er führt. Und was noch bleibt, wenn sich die Zeiten ändern? Mit »Die Einzigen« gelingt Norbert Niemann ein virtuoser Roman über die unbedingte, lebensdurchdringende Kraft von Kunst und Liebe in Zeiten des entfesselten Marktes.
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7. Während des Auftritts trafen sich ihre Blicke nur ein einziges Mal, ausgerechnet als er mit den Gedanken woanders war. Scham durchzuckte ihn, sein Gesicht wurde heiß. Harry saß zwischen spärlichem Publikum in einer der hinteren Sitzreihen des Barocksaals. Langweilte sich. Zuerst gab es einige nicht enden wollende Stücke für Marimba, Schlagzeug und Sprechgesang, dann eine Nummer für Schlagzeug solo, dann für Sopran und Tuba. Endlich kam Marlene an die Reihe. Sie trug ein knielanges graublaues Seidenkleid, das die Schultern frei ließ und beim Verbeugen in glockenartiges Schwingen geriet. Gleich darauf verschwand sie hinter einem langen Tisch, auf dem eine Wand aus Apparaten aufgebaut war. Eine Unmenge Kabel hing auf den Boden herab. Vermutlich drehte sie an irgendwelchen Knöpfen, verschob Regler, drückte Schalter, von seinem Platz aus ließ sich das nicht erkennen, er konnte nur ein schwankendes Büschel Haare über den metallenen Kästen sehen. Dann, anfangs kaum hörbar, allmählich anschwellend, begannen sich brummende, schnurrende, kreischende Laute auszubreiten. Sie überlagerten einander, trennten sich wieder, versickerten, zerbröselten, wurden von anderen sirrenden, glucksenden, blasenden, gurrenden, blubbernden, tosenden Lauten abgelöst, verschmolzen zu neuen Klangtrauben, Klangknäueln, lösten sich abermals auf. Er schaute durch das Kabelgestrüpp auf ihre unter dem Tisch hin und her ruckenden Schienbeine, die hektisch auf den Schuhspitzen wippenden Füße. Plötzlich stand sie am Bühnenrand, er hatte gar nicht mitbekommen, wie sie dort hingelangt war, hielt eine silbern glänzende Box zwischen den Fingern, legte einen Hebel um. Er fuhr auf. Ein unangenehmer Ton schrillte, legte sich über die Rhythmen aus den Lautsprechern. Marlene begann das metallene Ding behutsam auf und ab zu bewegen. Der Ton wurde höher, tiefer, höher, tiefer. Ihr Oberkörper geriet in ein leichtes Schaukeln. Die Lautstärke schwoll an, ab, an. Die Hand mit dem Kästchen malte Kreise, Schlaufen, Ellipsen, Spiralen, etwas Ähnliches wie eine Melodie entspann sich. Harry war irritiert, auch ein wenig enttäuscht. Er konnte diese seltsam abgehobenen, sich selbst genügenden elektronischen Geräusche nur schwer mit der außerordentlichen Begabung zusammenbringen, die er Marlene zuschrieb. Es berührte ihn unangenehm, dass er im Grunde nichts damit anfangen konnte. Schon hörte er nicht mehr hin, zählte stattdessen die größtenteils weißhaarigen Köpfe des Publikums. Als er sich dann doch wieder ihrem Auftritt zuwandte, kam es ihm auf einmal vor, als sähe er einen alten Stummfilm. Marlene bewegte sich so sonderbar. Zackig, fast wie ein Soldat, der in gedrillter Mechanik eine futuristische Geheimwaffe präsentiert. Etwas an den konzentrierten Gesten hypnotisierte ihn, sein Blick folgte dem wirbelnden Kästchen, er hoffte, Buchstaben und Wörter in die Luft geschrieben zu sehen, doch er erkannte nur Gekrakel. Seinen Augen rissen sich los von den silbernen Schleifen, musterten Marlenes Miene, die stechenden Augen, die aufeinandergepressten Lippen. Er stellte sich vor, wie die Kiefermuskeln sich lösen würden durch eine einzige zarte Berührung. Sah es vor sich. Wie seine Fingerspitzen über die Vertiefung der winzigen Narbe über ihrer Schläfe strichen, während sich ihre Lider senkten, die Lippen sich öffneten, Zähne sichtbar wurden, die Zungenspitze. Genau in dem Moment fiel ihr Blick auf ihn. Er starrte zu Boden. Seine Umgebung nahm Harry erst wieder wahr, als höflicher Applaus einsetzte. Beim Verlassen des Saals schaute er auf die Uhr. Marlenes Auftritt hatte gerade einmal zehn Minuten gedauert. Draußen im Foyer blieb er neben den Tischen des Buffets beim Ausschank stehen. Er fühlte sich unbehaglich zwischen den Anzügen und Roben, obwohl er sich kurz vor seinem Aufbruch hierher noch Gedanken gemacht hatte über die Konventionen, die bei derartigen Anlässen voraussichtlich herrschten. Nur ein paar bleiche junge Leute, wahrscheinlich selbst Komponisten, lockerten die steife Veranstaltung ein wenig auf. Er war dann erst recht in Jeans und Sportjacke gekommen, erleichtert über die altbekannte, rebellische Angriffslust, die aus schon abgestorben geglaubten Regionen wieder aufgestiegen war. Für einige Augenblicke hatte ihn die Sportjacke mit einer Art Würde erfüllt. Inzwischen fühlte er sich unwohl und hatte das Bedürfnis, zu verschwinden. Durch die Tür zum Saal konnte er die Gruppe der Senioren sehen, die einen Kreis um die Musiker gebildet hatten und Fragen stellten. Hin und wieder wehte Marlenes wie immer etwas heisere Stimme herüber. Er verstand kein Wort. Manchmal, wenn jemand das Standbein wechselte, zeigte sich ein Streifen graublauer Seide, ein Stück nackter Schulter, ihr sprechender Mund zwischen den dunklen Sakkorücken. Sofort drehte er sich weg, schaute an die stuckverzierte Decke, über die Brüstung hinunter auf die Freitreppe. Trotz seines Fluchtimpulses ließ er sich immer wieder nachschenken. Je mehr Wein Harry trank, je länger er auf Marlene wartete, desto nervöser wurde er. In Gedanken formulierte er Eröffnungssätze, verwarf sie, probierte andere, ärgerte sich, dass er ums Verrecken nicht damit aufhören konnte. Mensch, Marlene, wer hätte das gedacht, toll siehst du aus. Er fand nicht, dass sie toll aussah. Du hast dich ja überhaupt nicht verändert. Sie hatte sich sogar sehr verändert. Vor allem aber peinigte ihn die Vorstellung, einen Kommentar zu ihrer ihm unzugänglich gebliebenen Musik abgeben zu müssen. »Gut, dass du da bist. Du musst mich retten.« Sie stand direkt vor ihm, er hatte sie tatsächlich nicht kommen sehen, so vertieft war er gewesen, sich darauf vorzubereiten. Jetzt küsste sie flüchtig seine Wange, warf eine Stola um, hakte sich unter, zog ihn die Treppen hinab. Überrumpelt, ließ er es sich gefallen, rannte neben ihr her, durch die Gewölbehalle hinaus auf die Straße, wo sie endlich losließ, stumm, wie hilflos stehenblieb. Auch Harry stand hilflos da. »Hast du Hunger?«, fragte er. Sie schwieg. »Ich weiß einen guten Spanier gleich um die Ecke.« »Ist es dort ruhig? Mir dreht sich alles. Die Leute sind ja bestimmt nett, aber sie fragen immer nur nach der Maschine, nie nach der Musik.« »Wenn du magst, können wir auch zu mir, es ist nicht weit.« Wieder erwiderte sie nichts. Er winkte ein Taxi heran. Sie kniff die Augen zu, nachdem sie eingestiegen war, ließ den Kopf gegen die Nackenstütze fallen. Offenkundig wollte sie jetzt keine Fragen beantworten. Verstohlen musterte er sie von der Seite. Die struppige Frisur passte nicht zu ihrem runden Kopf, betonte zu stark die hohe Stirn. Dennoch fühlte er sich ihr so nah, als hätten sie sich seit damals nie aus den Augen verloren. Die flache Stelle an der Nasenwurzel, die spitze Oberlippe. Auch er wollte jetzt nach Hause. Harry konnte sich vorstellen, dass die wenigsten im Publikum Interesse an der Musik gehabt hatten, die saßen ihre Abonnements ab, klatschten höflich und freuten sich auf die nächste Matinee, bei der wieder Wiener Walzer auf dem Programm stand. Wie erniedrigend für Marlene. »Was dich abstößt, weil es dir hässlich erscheint, ist immer dein Spiegelbild.« Er hatte plötzlich ihre Stimme im Ohr, mit der sie Sellwerth damals im Streit diesen Satz entgegengeschleudert hatte. Hörte ihn mit dem ganzen Zorn im Tonfall, zu dem sie sich gelegentlich hatte hinreißen lassen. Marlene schien eingenickt zu sein, ihre Arme hingen so schlaff herab. Die Gelenke ihrer kleinen festen Hände lagen auf der Kante der Rückbank, Innenflächen nach oben. Alle paar Sekunden lief ein Zucken über ihre linke Wange. Sie wirkte erschöpft, ausgezehrt, mehr als von einem zehnminütigen Auftritt herrühren konnte. Noch einmal hörte er sie in seinem Kopf denselben Satz sprechen. Als spulte sich darin ein Tonband ab. Und den, der danach kam. »Aber du bist ja zu beschränkt, um das zu kapieren.« Ein paar Wochen bevor die Streitereien mit Marlene eskaliert waren, hatte Sellwerth begonnen, einige Stücke umzuschreiben in Richtung eingängigerer Arrangements. Die Einzigen schwammen gerade auf einer ersten kleinen Welle des Erfolgs, ein bekannter Agent hatte ihnen ein Angebot gemacht. Da hatte auch er, Harry, vom großen Durchbruch geträumt, von kreischenden Fans, an Hoteleingängen Schlange stehenden Groupies, dicken amerikanischen Schlitten. Und letztlich war er es gewesen, der Sellwerth zu den Überarbeitungen angestiftet hatte, hinter Marlenes Rücken. Unwahrscheinlich, dass ihr das verborgen geblieben war. Ihr Wutausbruch hatte sich trotzdem nur gegen Sellwerth gerichtet. Sie drehte plötzlich den Kopf zu ihm, blinzelte, er wandte schnell den Blick ab, sah zum Seitenfenster hinaus auf die noch kaum belebte Leopoldstraße, spürte, wie Marlene wieder zurücksank. Dabei ist sie nicht einmal mit aufgetreten, dachte er. Sie hatte sich nicht getraut. Ein einziges Mal hatte sie ihr Saxophon auf der Bühne ausgepackt, aber nach ein paar Tönen wieder in den Koffer gelegt. Sie wolle lieber im Hintergrund bleiben, hatte sie später behauptet, aber von dort aus umso massiver Einfluss auf die Band genommen. Marlene komponierte mit Sellwerth die Stücke, hörte sämtliche Probenmitschnitte ab, änderte hier ein paar Töne, dort einen Einsatz. Kleinigkeiten auf den ersten Blick. Doch die Nummern hatten danach jedes Mal um Lichtjahre besser geklungen. Er hatte sie bewundert dafür. Ohne Marlene wären Die Einzigen nichts als eine der üblichen Achtziger-Jahre-Durchschnittsbands geblieben, daran hatte er nie gezweifelt. Andererseits war ihm durchaus bewusst gewesen, dass sie im Grunde nur ihn attackierte, wenn sie auf Sellwerth...


Niemann, Norbert
Norbert Niemann, 1961 in Niederbayern geboren, studierte Literatur, Musikwissenschaft und Geschichte. Für seinen ersten Roman »Wie man’s nimmt« (1998) erhielt er den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis. 2001 erschien sein zweiter Roman, »Schule der Gewalt«, sowie 2008 der für den deutschen Buchpreis nominierte Roman »Willkommen, neue Träume«. Seit 1997 lebt er als freier Schriftsteller in Chieming am Chiemsee. Zuletzt erschien 2014 der Roman "Die Einzigen" im Berlin Verlag.

Norbert Niemann, 1961 in Niederbayern geboren, studierte Literatur, Musikwissenschaft und Geschichte. Für seinen ersten Roman "Wie man's nimmt" (1998) erhielt er den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis. 2001 erschien sein zweiter Roman, "Schule der Gewalt", sowie 2008 der für den deutschen Buchpreis nominierte Roman "Willkommen, neue Träume". Seit 1997 lebt er als freier Schriftsteller in Chieming am Chiemsee. Zuletzt erschien 2014 der Roman "Die Einzigen" im Berlin Verlag.


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