E-Book, Deutsch, 244 Seiten
Nigg Video: Ich sehe!
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7526-8060-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 244 Seiten
ISBN: 978-3-7526-8060-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In 'Video: Ich sehe!' erzählt der Schweizer Ethnologe, Aktivist und Kulturvermittler Heinz Nigg von seinem Werdegang, seinen Entdeckungsreisen in die Welt der Kunst und wie er Pionier und Mitstreiter der alternativen Videobewegung wurde. Es ist eine Collage von Erinnerungen, Briefstellen, Tagebucheinträgen, ethnografischen Feldnotizen und Auszügen aus Zeitungsartikeln, ergänzt durch Fotos und Dokumente.
Heinz Nigg (* 1949) ist ein Schweizer Ethnologe, Kulturvermittler und Förderer des partizipativen Video- und Filmschaffens. 1980 dokumentierte er den Beginn der Jugendunruhen in Zürich.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Heranwachsen
Meine Mutter Anni Bernhard ist in einer ländlichen Umgebung aufgewachsen. Von ihrem Vater, einem Weinbauern in Maienfeld, Graubünden, hat sie den Blick für schöne Landschaften. Wenn wir am Sonntag als Familie rund um Zürich durch Wälder und Wiesen streifen, beschreibt sie, was sich ihr als schön, hässlich oder bemerkenswert präsentiert. Ein kleiner Hügel, der unerwartet aus herbstlichem Nebel auftaucht, kann ihr ein »Oh!« entlocken. Sie hält kurze Vorträge über Wind, Licht und Schatten. Sie mag es, wenn wir ihre Beobachtungen kommentieren. Mein Vater Max ist Sohn des bereits erwähnten Schlossers. Wir besuchen die Großeltern jeweils in den Ferien in Maienfeld. Neni ist oft in seiner Werkstatt anzutreffen, repariert alles Mögliche, ist erfinderisch. Mein Vater war das erste Kind im Dorf mit einer modernen Skibindung mit Zugspannung. Von meinem Neni entwickelt. Wenn Neni sich vor dem Spiegel in der Küche nass rasiert, singt er alte Lieder. Er ist Dirigent eines gemischten Chors und hat eine hohe, helle Stimme. Wieder zu Hause in Zürich, wenn ich in heißen Sommernächten den Schlaf nicht finde, singe ich laut vor mich hin: »Olé, olé, kauft Ananas / Olé, olé, aus Caracas« von Vico Torriani und von Caterina Valente: »Tipitipitipso, beim Calypso sind dann alle wieder froh – im schönen Mexiko!« Mein Vater kann wunderbar dirigieren – wie einer, der Luftgitarre spielt. Wenn im Radio Orchestermusik läuft, lädt er uns Kinder zum Konzert ein. Mein ein Jahr älterer Bruder Ernst und ich sitzen auf dem Boden. Wir warten gespannt, bis Vater den Musikern das Zeichen zum Einsatz gibt. Vater trägt sein Haar mit Brillantine nach hinten gekämmt. Während des Dirigierens geraten sie ihm wild durcheinander, sodass er sie mit der jeweils frei werdenden Hand zu bändigen sucht. Interessant ist die Herkunftsgeschichte der Familie meiner Mutter, der Familie Bernhard. Die Bernhards waren Religionsflüchtlinge aus dem katholischen Tirol in Österreich. Sie wollten sich 1727 im Städtchen Maienfeld niederlassen. Ihrem Gesuch wurde gegen ein Entgelt von 240 Gulden entsprochen. Sie konnten nun nicht mehr aus Maienfeld vertrieben werden. Von den meisten Bürgerrechten blieben sie jedoch ausgeschlossen. 1817 wird einem Bernhard endlich das volle Bürgerrecht zugesprochen. Dieser muss 1848, im Jahr der Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, auch noch seinen Sohn einbürgern lassen. Dieser Sohn heißt Christian und ist mein Urgroßvater. Die Bernhards waren Bauern. Sie waren auch als Werkmeister für das Städtchen Maienfeld tätig und an der Begradigung des Rheins beteiligt. Meine Mutter, ältestes Kind einer elfköpfigen Bauernfamilie, ist 20, als sie meinen Vater heiratet und mit ihm nach Zürich zieht, wo er als kaufmännischer Angestellter Arbeit gefunden hat. In ihrem neuen Zuhause ist sie nicht nur für die Buben und den Haushalt verantwortlich. Als gelernte Schneiderin arbeitet sie auch für verschiedene Modehäuser. Es ist Heimarbeit. Sie näht Damenkleider im Akkord. Sie werden ihr bereits zugeschnitten in Kartonschachteln nach Hause geliefert. Diese Arbeit verlangt Konzentration. Wenn Mutter an der Nähmaschine sitzt, klettern wir Knirpse auf den großen Nähhocker, umklammern ihre Achseln von hinten und schauen über ihre Schultern gebeugt zu, wie ihre Finger flink und geschickt den Stoff unter der Nadel mit dem Faden hin und her bewegen. Wir Buben stellen nach der Schule mit unserer Zeit an, was wir wollen. Wir streifen mit anderen Kindern in der Nachbarschaft herum, bauen Hütten im Wald, treiben Unfug. Einmal klingelt ein Polizist bei uns zu Hause an der Türe. Er ermahnt unsere Mutter, besser auf ihre Kinder aufzupassen. Wir hatten Streit mit einem Knaben aus der Nachbarschaft und im Zorn seinen Schlitten über einen Zaun geschmissen. Die Arbeit meines Vaters ist für uns Kinder weniger einsehbar. Er arbeitet als Vermieter bei einer Stiftung für preisgünstiges Wohnen. Dauernd läutet bei uns zu Hause das Telefon – auch während der Mittagszeit und dem Abendessen. Vater nimmt Wohnanfragen entgegen, spricht Kündigungen aus, sucht neue Mieter, lässt in Absprache mit seinem Chef und dem Architekten der Stiftung Wohnungen renovieren. Er ist auch für den Hausfrieden in den vielen Mehrfamilienhäusern der Stiftung besorgt. Familie Nigg-Bernhard: Mutter Anni, Silvia, Heinz und Ernst Vater Max, Ernst und Heinz Frühjahr 1956. Mein erster Schultag. Vor uns steht die Lehrerin: Fräulein Weiss. In violetten Stöckelschuhen, in violettem Kleid, mit violetter Handtasche. »Zeichnet euren Schulweg«, ist die erste Aufgabe, die sie uns stellt. Anstatt des Schulwegs zeichne ich meine Mutter, wie sie mir aus der Wohnung nachwinkt. Das Spielen zu Hause in der Umgebung unseres Mehrfamilienhauses und in unserer Nachbarschaft mit Bäumen und Buschwerk zwischen den Blöcken interessiert mich mehr als die Schule. Mit meinem Trottinett (Tretroller) drehe ich endlos Runden in unserem Hinterhof. Ich bin mit Maxli zusammen, der im Haus vis-à-vis auch wie wir im vierten Stock wohnt. Wir bauen eine Seilbahn und schicken uns Post von Balkon zu Balkon. Manchmal besuche ich ihn. Maxli besitzt ein Terrarium mit Spinnen und zwei Blindschleichen, die er mir auf den Arm legt: »Nur keine Scheu!« Maxli ist handwerklich begabt. Ich entwickle die Ideen und er setzt sie mit mir um. Beim Bau einer Hütte gelingt es ihm, das Fenster so zu montieren, dass wir die Ankommenden – Freund und Feind – frühzeitig sehen und entsprechend begrüßen oder vertreiben können. Im nahe gelegenen bewaldeten Bachtobel erkunden wir eine alte Fabrik mit Sägedach. In der Fabrik werden Limonadegetränke hergestellt und in Flaschen mit bunten Etiketten abgefüllt. Im Auskunftsschalter in der Einfahrt zur Fabrik ist das Klirren der Flaschen auf dem Förderband zu hören. Die Luft ist erfüllt vom Duft des süßen Getränks. Die nette Empfangsdame schenkt uns Schirmmützen aus Karton mit dem Aufdruck des Logos der Firma: AGIS. Gleich um die Ecke der Fabrik geht es zur Bildhauerei Schoop. Der Künstler ist alt, dünn, drahtig und fröhlich. Die Eltern von Maxli kennen ihn. Im Vorhof der AGIS-Fabrik besitzt der Künstler am Rand einer Baumgruppe ein Freiluftatelier. Bei schönem Wetter arbeitet er hier an seinen Skulpturen. Aus Stein gehauene Tiere, Menschen, abstrakt-geometrische Formen. Er zeigt uns, wie man Steine schleift. Er gibt uns Aufträge. Stundenlang sitzen wir zu zweit an der nassen und dann wieder staubigen Arbeit. Künstler Schoop stellt auch Tonfiguren her und schenkt mir zwei kleine rot gebrannte laufende Entlein. Maxli ist mein liebster Freund. Später verlieren wir uns aus den Augen. Er wird Tierpräparator, lebt lange in Afrika und findet eine Anstellung im Zürcher Zoo. Mit der Holdener-Bande, benannt nach zwei Brüdern in unserer Nachbarschaft, richten wir im Keller eines Abbruchhauses eine Geisterbahn ein. Gegen Entgelt schieben wir unsere Kundschaft im selbstgebauten Wagen mit Kugelkopfrädern durch mehrere Kellergänge. Bis in den stockfinsteren Kühlraum der ehemaligen Metzgerei. Mit Getöse lassen wir die schwere Türe ins Schloss fallen, brechen in Höllengeschrei aus. Wir verdienen uns ein Vermögen! Wir vagabundieren am Ufer des Zürichsees, schlüpfen durch einen Gitterzaun auf das private Areal einer Kies- und Sandtransportfirma, vergnügen uns auf einem vertäuten Ruderboot, bringen es kräftig zum Schaukeln. Niemand kann schwimmen. Ich wünsche mir sehnlichst, im Wald eine richtige Hütte zu bauen, abschließbar. Mein Vater sagt, dass ich dafür eine Bewilligung vom Forstamt brauche. Mutig gehe ich aufs städtische Amt. Frage mich zur zuständigen Person durch. Ich fülle ein Formular aus. Nach monatelangem Warten erhalte ich die Erlaubnis. Inzwischen habe ich mich neuen Abenteuern zugewandt. In der dritten Klasse gründe ich mit Freunden einen Indianerclub. Es gibt Krieger ersten und zweiten Grades, einen Häuptling und einen Medizinmann. Ich produziere eine Zeitung für unseren Club, für jeden der sieben Indianer – leider ist keine Squaw dabei – ein von Hand gefertigtes Unikat. Die Zeitung lädt ein zur nächsten Indianerversammlung mit Statuten. Das Wort bringt mir mein Vater bei. Logo des Clubs: Tomahawk und Friedenspfeife, gekreuzt und mit Federschmuck. Auf der hintersten Seite ein Witz-Comic aus der deutschen Jugendzeitschrift Rasselbande. Ich lese Biografien von Indianerhäuptlingen. Der Jugendschriftsteller Ernie Hearting – Pseudonym für den Basler Ernst Herzig – verfasst jedes Jahr einen historischen Roman. Das Leben der Indianerhäuptlinge Nordamerikas, verfasst in verständlicher Sprache. Ich bin regelmäßiger Besucher der Stadtbibliothek in unserer Nachbarschaft. Ich leihe mir alle Bücher von Hearting aus. »Für die reife Jugend«, vermerkt der Autor im Vorwort. Sehnsüchtig warte ich auf den nächsten Band. Unvergesslich ist mir die Biografie von Rollender Donner. Als Häuptling der Nez Percés, die in den Rocky...