E-Book, Deutsch, Band 1, 609 Seiten
Reihe: Detective Solomon Gray
Nixon Totengrab
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7325-4181-2
Verlag: beTHRILLED
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 1, 609 Seiten
Reihe: Detective Solomon Gray
ISBN: 978-3-7325-4181-2
Verlag: beTHRILLED
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Keith Nixon ist ein britischer Autor, der vor allem Krimis und historische Romane schreibt. Eigentlich ist er gelernter Apotheker, inzwischen arbeitet er aber in leitender Funktion im Vertrieb einer High-Tech-Firma. Er lebt mit seiner Familie im Nordwesten Englands. Er hat bisher einige Bücher veröffentlicht, Romane ebenso wie Kurzgeschichten.
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Kapitel 2
Zehn Jahre später Der Tod war häufig sinnlos, aber unter diesen Umständen konnte man einen Sturz vom Balkon im fünften Stock auf die Straße als am äußersten Ende des Spektrums einordnen. Detective Sergeant Solomon Gray war von Helligkeit umgeben. Grelles Licht erhellte den Tatort und wurde von dem Segeltuchzelt reflektiert, das man aufgestellt hatte, um die Leiche abzuschirmen und sämtliche Beweise zu sichern. Der Selbstmörder war noch jung, ein Teenager an der Schwelle zum Erwachsenen. Als Gray den ersten Blick auf den Leichnam warf, durchfuhr ihn derselbe Schreck wie jedes Mal, wenn er die Meldung über einen jungen Menschen bekam, der in Schwierigkeiten steckte oder sogar tot war. Konnte es Tom sein? Gray hockte sich hin, um den Jungen genauer in Augenschein zu nehmen. Nein, der hier war älter. Er spürte Erleichterung, gefolgt von Schuldgefühlen. Wieder einmal hatte er es geschafft, sich nicht der Realität stellen zu müssen. Was in aller Welt trieb jemanden, der sein Leben noch vor sich hatte, zu einer solchen Tat? Gray schüttelte den Kopf. Wie er diese Selbstmordfälle verabscheute! Einem Augenzeugen zufolge hatte der Junge auf dem ganzen Weg nach unten geschrien. Eine natürliche Reaktion? Oder hatte er es sich während des Sturzes, als es längst zu spät war, anders überlegt? Vielleicht hatte er gar nicht springen wollen … Der Junge wirkte erstaunlich friedlich, wenn man bedachte, dass eine Seite seines Körpers zerschmettert war. Die Schwerkraft und der Beton hatten eine chaotische Leinwand erschaffen, ein abstraktes Bild im Stil eines Jackson Pollock. Wären die Blutspritzer und die leeren Augen nicht gewesen, hätte man beinahe auf den Gedanken kommen können, der Junge würde schlafen. Grays Gedanken überschlugen sich. Fakten, Vermutungen und Empfindungen wirbelten durcheinander und bildeten ein verwirrendes Chaos. Die Vergangenheit vermischte sich mit der Gegenwart. Gray musste an den Tod seiner Frau denken. Sie hatte Selbstmord begangen. »Geht es Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich Dr. Ben Clough, der zuständige Pathologe, der Gray überragte und einen langen Schatten warf. Er starrte Gray durch seine Brillengläser an, ohne zu blinzeln. Clough war ein ordentlicher, beinahe penibler Mann mit straff gekämmtem, sandfarbenem Haar, gepflegten Fingernägeln und sorgfältig gebügelter Kleidung. Hinsichtlich seines Erscheinungsbildes war er das Gegenteil von Gray, doch beide Männer hatten Probleme, was zwischenmenschliche Beziehungen betraf. Mit seinem schlanken, muskulösen Körper sah der Pathologe wie ein Sportler aus. Wenn er nicht gerade Überstunden machte, joggte er endlos durch die Straßen. Manche vermuteten, dass es eine Flucht vor seinem Job war, doch Gray wusste es besser: Clough suchte einfach nur die Einsamkeit – ein Wunsch, den Gray nachempfinden konnte. »Ich habe gesehen, was ich sehen musste«, sagte er. »Haben wir das nicht alle?« Clough klang viel älter, als er aussah. »Ich melde mich, wenn die Obduktion abgeschlossen ist.« Sie tauschten zum Abschied ein paar Höflichkeitsfloskeln, bevor Gray erleichtert das Zelt verließ. Draußen war es bedeckt und kühl. Arlington House, das granitgraue Hochhaus an der Küste von Margate, aus dem der Junge gesprungen war, passte perfekt zu der rauen Jahreszeit und der bedrückenden Atmosphäre. Das Haus sah wie ein monumentales Grab aus. Gray zählte sechs Stockwerke und richtete den Blick dann auf den fraglichen Balkon. So hoch schien er gar nicht zu sein. Als er sich die Stirn abwischte, war seine Hand leicht feucht. Ein kalter Windstoß erfasste Gray und rief ihm in Erinnerung, dass längst Dezember war und der Winter nahte. Der Herbst war nur noch eine blasse Erinnerung. Das Weihnachtsfest stand vor der Tür. Gray verzog das Gesicht. Das bedeutete, dass ihm wieder einmal endlose Feiertage und der Jahrestag von Toms Verschwinden drohten. Der Pulk der Schaulustigen war während der paar Minuten, die Gray mit dem Arzt gesprochen hatte, noch größer geworden. Die Leute drängten sich an der Absperrung, um einen Blick auf die Tragödie zu werfen. Die Gaffer in Zeltnähe reckten den Hals wie Flamingos und stellten sich auf die Zehenspitzen, um ins Zeltinnere schauen zu können. Dann zuckte der Blitz einer Kamera. Am liebsten hätte Gray den Fotografen an der Gurgel gepackt und ihm die Kamera dorthin gesteckt, wo die Sonne niemals hinkam. Was war nur mit diesen Leuten los? Warum erfreuten sie sich so sehr am Unglück anderer? Sie waren wie die Gaffer auf der Autobahn, die im Schneckentempo an einer Unfallstelle vorbeifuhren – morbide, rücksichtslose Zeitgenossen, die fälschlicherweise glaubten, ihnen könne so etwas nicht passieren, und dass sie ruhig und friedlich an Altersschwäche sterben würden. Gray wusste es besser. Er war erfahren genug, um zu erkennen, wann sich Ärger anbahnte. Schon bald würde das Geschubse erbitterter werden; die Leute würden miteinander rangeln, und es würde ein paar Verhaftungen und den damit einhergehenden Papierkram geben, auf den Gray gut verzichten konnte. Stunden kostbarer Polizeiarbeit würden vergeudet. Der Friedensrichter würde den Missetätern nach einer Nacht in einer Gefängniszelle höchstens eine Verwarnung aussprechen. Und das alles, damit diese Leute sich ein paar Augenblicke lang am Anblick des Blutes ergötzen konnten. Das Ganze glich einem Pulverfass, das nur auf den Funken wartete, der es zur Explosion brachte. Und da ist dieser Funke auch schon, dachte Gray mürrisch. Er kam in Gestalt von Ed Scully, einem rotgesichtigen Zeitungsreporter und Taugenichts. Scully war so schlüpfrig wie Motoröl – ein Chamäleon, das sein Erscheinungsbild nach Belieben verändern konnte, um mit der Menge zu verschmelzen. Heute trug er Jeans und eine bis oben geschlossene Jacke. Außerdem hatte er sich den Schädel rasiert. Gray verzog das Gesicht. Wenn irgendwo etwas Schlimmes passierte, erfuhr Scully unweigerlich davon, wie ein Geier das Aas wittert, und tauchte am Tatort auf wie eine Hyäne, um sich an den Überresten zu ergötzen. Gray kannte Scully schon seit Langem, denn der Journalist hatte sich in Grays privates Unglück verbissen und ging ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die Nerven. Scully ließ nie zu, dass Grays Wunden heilen konnten; stattdessen erinnerte ihn stets aufs Neue an die schmerzliche Vergangenheit, sorgte dafür, dass immer wieder über Toms Verschwinden berichtet wurde, und enthüllte ständig neue Details, von denen er im Grunde gar nichts wissen durfte. Nun bahnte Scully sich einen Weg durch die Menge und hielt Ausschau nach Interviewpartnern – vorzugsweise solchen, die mit den schaurigsten Zitaten aufwarten und seinen Text auf diese Weise aufmotzen konnten. Unermüdlich ließ Scully den Blick schweifen. Dann entdeckte er Gray. Sofort legte sich ein Grinsen auf sein Gesicht, und er zwinkerte Gray zu. Wer konnte einen besseren Kommentar abgeben als der gestresste Detective Sergeant? Grays Magen krampfte sich zusammen, und er ballte kaum merklich die Faust, ließ sich sonst aber nichts anmerken. Er unterbrach den Blickkontakt, bevor Scully sich durch die wogende Menge der Gaffer zu ihm durchdrängeln konnte; schließlich war er nicht zu seinem Vergnügen hier. Er musste arbeiten. Außerdem war er sich keineswegs sicher, ob er Scully nicht mitten in die Visage schlagen würde, wenn der Kerl ihm zu nahe kam. Gray drehte sich zu dem Constable um, der mit grimmigem Gesicht an der Absperrung stand, und nickte ihm zu. Der Mann hob das Band hoch und ließ den Detective Sergeant durch. Während Gray zum Eingang des Hochhauses ging, spürte er, wie Scullys Blicke sich in seinen Rücken bohrten. Eine Minute später befand sich Gray in der relativen Ruhe des Arlington House und drückte mehrmals auf den Pfeil nach oben, damit der Fahrstuhl endlich kam. Schließlich hatte sein Daumen es geschafft, die Kabine dazu zu bewegen, langsam nach unten zu kommen, wenn er das ferne Gepolter richtig deutete. Er drückte die erhitzte, schweißnasse Stirn gegen die Metalltür und atmete tief durch. Endlich kam der Fahrstuhl. Gray trat einen Schritt zurück. Die Türen öffneten sich so langsam, als würden sie irgendeine sensationelle Enthüllung offenbaren, doch die Kabine war leer. Gray drückte auf die Nummer der Etage, in die er wollte, während die Türen sich wieder schlossen. Um sich von dem allgegenwärtigen Gestank nach Schweiß, Putzmittel und Zigaretten abzulenken, schaute Gray sich die Graffiti an. Rasselnd und klirrend setzte der Aufzug sich wieder in Bewegung. Es hätte Gray nicht überrascht, wenn man den Lärm Tag und Nacht hören konnte. Um die Wohnung des Opfers zu erreichen, musste er vom Fahrstuhl nur einmal um die Ecke gehen. Die Wohnungstür hing schief und leicht geöffnet in den Angeln. Das Holz war gesplittert. Ein schwarzer Stiefelabdruck ließ erkennen, dass jemand sich mit Gewalt Einlass verschafft hatte. Gray fragte sich, ob dies aus Sorge um den Bewohner geschehen war oder ob hier Diebe die Gunst der Stunde genutzt hatten, um eine der Wohnungen leer zu räumen. Der Flur war verdächtig leer. Kein gutes Zeichen. Am Eingang nahm Gray von einem Kriminaltechniker die blauen Überzieher entgegen und streifte sie über seine Schuhe. Anschließend zog er den Mantel aus und ersetzte ihn durch einen weißen Overall, dessen Kapuze er sich über das ergrauende Haar zog. Nachdem er sich die Gesichtsmaske aufgesetzt und ein Paar Latexhandschuhe übergestreift hatte, unter denen seine abgekauten Fingernägel verschwanden, betrat er die Wohnung. Drinnen herrschte rege Aktivität. Forensiker und Ermittler durchsuchten jedes Zimmer nach...