Noll Kannitz
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7076-0561-7
Verlag: Czernin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Parabel
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-7076-0561-7
Verlag: Czernin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit Jahren beschäftigt sich Alfred J. Noll mit Restitutionsfällen. In seinem neuen Buch „Kannitz" nähert er sich dem Thema nun im Rahmen einer fiktionalen Aufarbeitung. Ein Buch über Verantwortung, Verlust und Unentschlossenheit.
Im Herbst 1937 beschließt der Wiener Rechtsanwalt Dr. Isidor Hoffer, Österreich zu verlassen. Sein Vermögen lässt er zurück. Er überträgt es treuhändig dem pensionierten Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs, Dr. Rudolf Kannitz. Nur zögernd nimmt dieser den Auftrag an. Ist er der Sache gewachsen? Hoffer stirbt noch vor dem Ende des Naziregimes, und Kannitz allein weiß um die eingegangene Treuhandschaft. Wie soll er sich verhalten? Wie soll er über das fremde Vermögen verfügen?
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Eins Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Wann lernte ich Rechtsanwalt Doktor Isidor Hoffer kennen? Ich war jedenfalls noch im Magistrat der Stadt Wien beschäftigt und mit Brandschutzfragen befasst. Doktor Hoffer vertrat zu dieser Zeit einige der neuen Lichtspieltheater. Bei diesen gab es rücksichtlich der Brandschutzvorkehrungen vorschriftswidrige Unzulänglichkeiten. Den zuständigen Magistratsbeamten schien es also geboten einzuschreiten. Die Betreiber der Lichtspieltheater wiederum empfanden dies als behördliche Schikane. Eines Tages stand er in meinem Büro, ganz ohne Anmeldung. Wir waren für Parteienverkehr gar nicht eingerichtet. Es klopfte, ein großer und ausgesprochen eleganter Mann trat ein. Ich merkte sofort, dass der Magistrat nicht die gewohnte Bühne seiner Auftritte war. Dieser Mann kam aus einer anderen Welt. Anwälte wie Doktor Isidor Hoffer gibt es heute nicht mehr. Er hatte Statur, er war ein Herr. Sein Eintreten ließ mich aufblicken. Ich wollte ihn mit einer knappen Bemerkung des Zimmers verweisen. Ungerührt von meiner abwehrenden Haltung trat Doktor Hoffer an meinen überfüllten Schreibtisch, streckte mir die Hand entgegen und begrüßte mich mit ausgestellt guter Laune: »Guten Tag! Sie sind doch der Doktor Kannitz. – Ich habe mir sagen lassen, dass die Wiener das große Glück haben, von Ihnen beschützt zu werden, wenn sie ins Kino gehen.« Noch bevor ich ein Wort erwidern konnte, nahm er den in der Ecke stehenden Stuhl und zog ihn an den Tisch heran. Er setzte sich nicht vor den Tisch, wie ich es von einer Partei erwartet hätte, vielmehr nahm er an meiner Seite Platz. Der vor ihm liegende Aktenberg auf dem überfüllten Schreibtisch schien ihn nicht zu stören. Um meine verdrießliche Miene kümmerte er sich nicht. »Darf ich Sie kurz inkommodieren? Ich störe Sie ungern, Herr Doktor, Sie haben gewiss wichtigere Dinge zu bearbeiten, aber ich bin dringlich auf Ihren Rat angewiesen. Ich brauche Sie, sonst weiß ich mir nicht mehr zu helfen.« Er legte die mitgebrachte Leder-Aktentasche auf seine leicht angehobenen Knie und schaute mich lächelnd an. Aus der Tasche zog er langsam, ohne seinen Blick von mir abzuwenden, einen dünnen Akt. Mit wenigen Worten brachte er sein Anliegen vor. Einem neueren Landesgesetz zufolge wären von den Kinos verbesserte Brandschutzmaßnahmen vorzusehen. Flucht- und Notwege wären einzurichten, die Anzahl der Sitzplätze zu begrenzen und anderes mehr. Die sofortige Umsetzung dieser Maßnahmen würde die wenigen Lichtspieltheater in Wien gehörig unter Druck setzen. Ihr wirtschaftliches Überleben sei gefährdet, und dies, wo doch der Lichtfilm eine so große Zukunft habe, in anderen Ländern großzügigste Förderungen von staatlicher und kommunaler Seite gewährt würden – und jetzt zeige sich, dass die Stadt Wien nicht nur nicht bereit sei, diese moderne Entwicklung zu fördern, sondern die hoffnungsvoll gestartete Lichtspielindustrie offenkundig schon im Keim vernichten wolle. Habe denn überhaupt irgendjemand im Magistrat der Stadt Wien die Sache auf ihre Konsequenzen hin überlegt? Er sprach und sprach, aber der Einzelheiten kann ich mich heute nicht mehr entsinnen. Tatsächlich musste ich zugeben, dass die Übergangsfrist sehr kurz bemessen war. Die Sicherheit der Besucher stand an erster Stelle, da mussten die wirtschaftlichen Interessen der Lichtspieltheater-Betreiber zurücktreten. Eine mangelnde, respektive verspätete Umsetzung der Vorschriften hätte Verwaltungsstrafen, Konzessionsentzug und sogar Schließung für die Betriebe zur Folge haben können. Aber es stehe den Betroffenen ja frei, sich an die Vorschriften zu halten, um derartigen Sanktionen zu entgehen. Doktor Hoffer kannte die gesetzlichen Vorschriften, er referierte sie tadellos. Seine Mandanten seien gar nicht prinzipiell gegen die neuen Vorschriften. Die unmittelbaren gesetzlichen Folgen einer mangelhaften oder fristwidrigen Umsetzung der Vorschriften aber könne er nicht akzeptieren. Diese nämlich liefen nicht nur den wirtschaftlichen Interessen seiner Mandanten in Existenz vernichtender Weise zuwider, sie seien an sich ganz unverständlich, könnten so nicht gewollt sein, und sie seien deshalb auch nicht akzeptabel. »Also, lieber Herr Doktor Kannitz, an den Bestimmungen werden wir beide nichts ändern können. Die sind halt, wie sie sind. Das ist mir und meinen Klienten durchaus bewusst. Aber wir müssen dennoch etwas tun. Wem wäre denn damit gedient, wenn sie die Kinos schließen? Wollen Sie verantwortlich dafür sein, dass es in allen Städten der Welt glänzt und flimmert, und nur in unserem schönen Wien soll alles in lichtspiellosem Dunkel bleiben? Das wäre doch auch dem Herrn Bürgermeister nicht recht, oder? Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, die Sache für alle Beteiligten im Einvernehmen zu behandeln. Und wenn’s misslingt, so misslingt’s, wie Lady Macbeth bemerkte – aber es wird nicht misslingen, Herr Doktor, oder?« Doktor Hoffer redete unentwegt und unbeirrt. Wollte ich zu einer Entgegnung anheben, hob er abwehrend die Hände und nahm mögliche Einwände vorweg. Er ließ mich kaum zu Wort kommen und brachte alles in verbindlichstem Tonfall vor. Ich musste natürlich streng darauf beharren, dass den gesetzlichen Bestimmungen entsprochen werde – daran führte kein Weg vorbei. Doktor Hoffer ließ sich nicht entmutigen. Im Gegenteil, fast schien es so, als ob ihn jeder Hinweis auf die im Gesetz festgelegten Rechtsfolgen nur dazu ermunterte, mir neuerlich vor Augen zu führen, wie notwendig eine andere, vom Gesetz so nicht vorgesehene Vorgangsweise wäre. Heute kann ich mich natürlich nicht mehr genau daran erinnern, wie wir am Ende dieser Besprechung, oder besser: dieses Vortrages von Doktor Hoffer, verblieben sind. Im Ergebnis führten dieses Gespräch und einige weitere Telefonate mit dem von mir in Kenntnis gesetzten Magistratsdirektor aber dazu, dass die von Doktor Hoffer vertretenen Lichtspieltheater die vom Gesetz vorgeschriebenen baulichen Maßnahmen bei behördlich konzessionierten Unternehmen in Auftrag gaben, der Behörde dann jeweils die Nachweise über diese Beauftragung vorlegten und solcherart sicher gehen konnten, nicht sanktioniert zu werden, wenn die notwendigen Maßnahmen nicht in der vom Gesetz vorgeschriebenen Frist realisiert wurden. Betreiber von Lichtspieltheatern, die nicht so klug waren, derartige Nachweise vorzulegen, wurden in Folge ob ihrer Säumnis mit Konzessionsentzug und Schließung bestraft. Nur die von Doktor Hoffer vertretenen Lichtspieltheater-Betreiber blieben behördlicherseits unbehelligt, obwohl sie die beauftragten Maßnahmen erst Jahre später, wenn überhaupt, durchführten. Ganz genau erinnere ich mich aber noch an seine freundliche und gut gelaunte Verabschiedung: »Haben Sie besten Dank für Ihre Mühe, lieber Doktor Kannitz. Sie haben mir sehr geholfen. Wir sind alle dem Gesetz unterworfen, aber wir müssen dennoch gangbare Wege finden. Das Gesetz sollte uns alle treffen, aber nur dann, wenn wir keinen Weg finden, uns zu verständigen – und das möge die mächtige Nemesis abhüten!« Er ging aus meinem Zimmer, wie er es betreten hatte. Mit einem leichten Lächeln, aufrecht, sichtlich zufrieden mit sich selbst und ganz ohne jeden Anflug von Zweifel. Während der Dauer des Gesprächs war Doktor Hoffer auf eine mir bis dahin nicht bekannte Art freundlich – und bestimmt. Vom Beginn seines Auftritts bis zu seiner Verabschiedung erweckte er in mir das Gefühl, dass ich es war, dem durch seine Erscheinung etwas gewährt wurde und nicht umgekehrt er, der mit einer Bitte an mich herangetreten war. Ich musste zugeben, dass dieser Anwalt auf mich Eindruck gemacht hatte. Kaum einer meiner Kollegen im Magistrat ließ, als ich von der Begegnung berichtete, unerwähnt, dass es sich bei Rechtsanwalt Doktor Isidor Hoffer um »den berühmten Hoffer« handle, dass er »ein reicher Jude« sei, dass man sich vor ihm doch gehörig in Acht zu nehmen habe, dass er für seine Verbindungen »bis ganz oben hin« bekannt sei, und vieles mehr. Verwundert schien man auch darüber, dass er sich persönlich um eine derartige Sache kümmere. Fragen des Brandschutzes und die Vorsprache bei einem einfachen Magistratsbeamten schienen in gewisser Weise nicht in das Bild zu passen, das man sich gemeinhin von Doktor Hoffer machte. Er schien eher gefürchtet als geachtet zu sein. Man akzeptierte zwar seine Kompetenz und seine Erfolge, indes versah man Berichte darüber mit herabsetzender Mimik oder mit abschätzigen Betonungen und Handbewegungen. Mir gegenüber war Doktor Hoffer jedenfalls freundlich und elegant erschienen, kenntnisreich und verständig. Er hörte zu, wenn man zu Wort kam, sprach abwägend, ließ aber keinen Zweifel an den gewichtigen Interessen seiner Mandanten. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er mich zu seiner Seite hin verführen wollte. Er ließ lediglich keine Ungewissheit darüber zu, dass man, wenn man ihm nur zuhören würde, zu seiner Auffassung der Dinge gelangte. Doktor Hoffer erwies sich mir gegenüber nicht als schmierig oder trickreich, wie ich es immer wieder im Verkehr mit Anwälten erlebt hatte, sondern als von seiner Sache überzeugt. Ich blickte damals neidisch auf seine Schuhe, von denen ein jeder vermutlich mehr gekostet haben mag, als es meinem monatlichen Bezug entsprach. Ich bin heute nicht mehr sicher, was mich für ihn einnahm. Es war vielleicht schon damals ein Gefühl, das mich bis zu unserer letzten Besprechung in seiner Kanzlei ergriff, wenn ich ihn persönlich erlebte: Doktor Hoffer war reich und berühmt, ich...