Nolte / Scheel / Brodowsky | Modellfall Weißwasser oder das Masz aller Dinge | Buch | 978-3-945927-09-0 | www.sack.de

Buch, Deutsch, 128 Seiten, Format (B × H): 170 mm x 240 mm, Gewicht: 405 g

Nolte / Scheel / Brodowsky

Modellfall Weißwasser oder das Masz aller Dinge

Eine Stadtverwandlung zum Bauhaus-Jubiläum
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-945927-09-0
Verlag: Jonitzer Verlag

Eine Stadtverwandlung zum Bauhaus-Jubiläum

Buch, Deutsch, 128 Seiten, Format (B × H): 170 mm x 240 mm, Gewicht: 405 g

ISBN: 978-3-945927-09-0
Verlag: Jonitzer Verlag


Erst die Glasindustrie, jetzt der Kohleausstieg. Weißwasser in der Oberlausitz, einst größter Glasproduzent Europas, erlebt einen tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruch. Ein performatives Stadtprojekt zum 100. Bauhaus-Jubiläum probt den Aufbruch.
Das Buch dokumentiert das einjährige Projekt, bei dem über 130 Beteiligte gemeinsam mit Künstler*innen brachliegende Orte ihrer Stadt in Zukunftsorte verwandelten und dabei an das reiche und lange verschüttete Bauhaus-Erbe der Stadt anknüpften. Weißwasser wird so zum faszinierenden Modellfall einer Stadtgestaltung von unten und präsentiert sich selbstbewusst als herausragender Ort mit Bauhaus-Tradition.

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Weitere Infos & Material


Zum Geleit | Von Ministerpräsident Michael Kretschmer 9
Zum Geleit | Von Dr. Manuel Frey, Stiftungsdirektor der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen 10
Vom Modellfall zum performativen Stadtprojekt | Einleitung —— Von Paul Brodowsky und Stefan Nolte 12
Willkommen am Bahnhof | Station 1 21 »Ein Theater, das jeden brauchen kann« | Ein Gespräch mit dem künstlerischen Leiter Stefan Nolte 28
Den Aufbruch wagen | Zwischenruf 1 —— Von Bauhaus-Direktor a.?D. Rolf Kuhn 35
Das Volkshaus — eine Wiederbelebung | Station 2 37
»Nur gemeinsam kriegt man das zustande« | Ein Gespräch mit der Volkshaus-Freundin Christine Sievers 44
Regeln wie beim Eishockey | Zwischenruf 2 —— Von Choreograf Jochen Roller 49
Bauhütte auf der Schnitterbrache | Station 3 51
Exterritoriales Gebiet | Zwischenruf 3 —— Von Bühnenbildner Hendrik Scheel 59
Der Neufert-Bau als Normentempel | Station 4 63
»Kampf ums Bauhaus-Erbe« | Ein Gespräch mit dem Stadtplaner Holger Schmidt 70
Am schweren Berg | Zwischenruf 4 —— Von der Dokumentarfilmerin Constanze Fischbeck 75
Glasfabrik Telux — eine Verwandlung | Station 5 77
Möglichkeitsräume aufschließen | Zwischenruf 5 —— Von Oberbürgermeister Torsten Pötzsch 94
Die Glasfachschule als Gebrauchsakademie | Station 6 97
»Strukturwandel könnte nicht sexyer sein« | Ein Gespräch mit der Soziologin Julia Gabler 104
Musik als magischer Katalysator | Zwischenruf 6 —— Von der Musikerin Bernadette La Hengst 111
Boulevard der Wunschbilder | Station 7 113
Dank 124


Vom Modellfall zum performativen Stadtprojekt. — Einleitung von Paul Brodowsky und Stefan Nolte.

Weißwasser in der Oberlausitz ist eine mittelgroße Stadt in Ostsachsen. Von Herbst 2018 bis November 2019 fand hier »Modellfall Weißwasser oder Das Masz aller Dinge« statt, ein performatives Stadtprojekt anlässlich des einhundertjährigen Jubiläums des 1919 in Weimar gegründeten Bauhauses.

Weißwasser war vom Ende des 19.?Jahrhunderts bis Anfang der 1990er- Jahre einer der bedeutendsten Standorte für die Glasproduktion in Europa. Zugleich kann der Ort als Modellfall für die Umsetzung der Ideen des Bauhauses in der Großindustrie gelten: 1935 kamen mit dem Glasgestalter Wilhelm Wagenfeld und dem Architekt Ernst Neufert zwei Bauhaus-Schüler der ersten Stunde nach Weißwasser. Sie prägten die Industrie vor Ort nachhaltig.
Nach dem Ausbau des Tagebaus Nochten und des 1966 errichteten Kraftwerks Boxberg erlebte die Stadt durch die Braunkohle einen zweiten Boom. Die Einwohnerzahl schnellte bis 1990 auf 38.000 hoch. In Plattenbauweise entstand ein ganzer Stadtteil für 20.000 neue Bewohner*innen.
Dem Ende der DDR folgten heftige Strukturbrüche und das fast vollständige Ende der Glasindustrie, die bis dahin neben der Braunkohleindustrie wichtigster Arbeitgeber der Stadt gewesen war.
Heute leben noch etwa 16.000 Einwohner in Weißwasser. Nirgends sonst in Deutschland findet sich eine vergleichbare Dynamik von Wachstum und Schrumpfung. Rückbau, Leerstand und weitläufige Industriebrachen prägen bis heute das Stadtbild. Und ein weiterer Umbruch steht bevor: Der Ausstieg aus der Braunkohle bis 2038 ist beschlossene Sache.
Weißwasser kann so auch als Modellfall für eine problematische Stadtentwicklung (und ihre Lösungsansätze) gelten: Abwanderung von Industrie, gesellschaftliche Umbrüche nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, schrumpfende Bevölkerungszahlen und demografischer Wandel, geografische Randlage abseits großer Verkehrsachsen, Erstarken von rechtsnationalen Strömungen. Neben diesen Herausforderungen gibt es vor Ort auch positive Entwicklungen. Der rasante Bevölkerungsschwund der letzten dreißig Jahre scheint bis auf Weiteres gestoppt. Eine Reihe zukunftsgerichteter, lokaler Initiativen bemüht sich, neue Perspektiven zu entwickeln. Der Strukturwandel will gestaltet werden, Stadt und Region müssen sich ein weiteres Mal neu erfinden. Wenn er gelingt, könnte der Wandel Schule machen.
Das performative Stadtprojekt »Modellfall Weißwasser« nahm die vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Umbrüche vor Ort in den Blick. Über ein Jahr lang entwickelte es mit den Bewohnern mit Mitteln der Kunst einen Neugebrauch der Stadt. Kooperationen mit zahlreichen lokalen Akteuren, Vereinen und Einzelpersonen prägten das Projekt. Stadtrecherchen und Werkstätten luden zur Beteiligung ein. Fünf Künstler*innen unterschiedlicher Disziplinen arbeiteten über mehrere Monate mit Akteuren aller Generationen zusammen.
Eine Reihe von Einzelveranstaltungen zwischen Oktober 2018 und Mai 2019 führte auf den großen Höhepunkt zu: An zwei Wochenenden im Juni 2019 wurde die Stadt zur Bühne für einen performativen Parcours. Sieben zentrale und neuralgische Orte der Stadt wurden mit Mitteln der Kunst symbolisch und ganz konkret transformiert und für die Öffentlichkeit zurückerobert.
Wesentlich waren dabei die Weißwasseraner*innen selbst, die für den Modellfall aktiv wurden, um gemeinsam ihre Stadt neu zu gestalten.
Spielerisch wurden so die Umbrüche der Vergangenheit untersucht, Zukünfte entworfen, neue Handlungsmacht gewonnen. Für vier Tage wurde dabei ein Miteinander in neuen Formen erprobt. Die Zuschauer*innen begegneten bei dem Stadtspaziergang neben über hundert Mitwirkenden aus Weißwasser auch den Bauhaus-Schülern Wilhelm Wagenfeld und Ernst Neufert, die – verkörpert von zwei Schauspielern – das gesamte Projekt mit ihren Auftritten und Interventionen begleiteten.
Damit nahm der Modellfall das Bauhaus-Erbe Weißwassers in den Blick. Wilhelm Wagenfeld war von 1935 bis 1944 künstlerischer Leiter der Vereinigten Lausitzer Glaswerke (VLG). In seiner Werkstatt in Weißwasser entwickelte er Glasformen des täglichen Bedarfs nicht nur aus der Funktion, sondern auch aus dem nachhaltigen und schönen Gebrauch, der damit möglich sein sollte. Alle Schichten der Gesellschaft sollten sich diese Produkte leisten können. Wagenfeld hat in seinen letzten Lebensjahren erklärt: »Nach dem Krieg habe ich allerdings nirgends wieder so viel Zustimmung und so viel freie Entscheidung haben können wie in Weißwasser.« Und Walter Gropius schrieb ihm: »Ich versichere Ihnen, daß Sie und Ihr Werk der Modellfall dessen sind, was das Bauhaus anstrebte.«
Ernst Neufert wurde auf Vermittlung von Wilhelm Wagenfeld Hausarchitekt der VLG und baute unter anderem ein Hüttenwerk für die Glasproduktion und ein Zentrallager mit Versandhalle, den heutigen Neufert-Bau. Mit seinen funktionalen Grundrissen optimierte er die Arbeits- und Bewegungsabläufe und bezog dabei moderne Arbeits- und Betriebswissenschaften mit ein. Zur gleichen Zeit veröffentlichte er seine erste Bauentwurfslehre, die bis heute ein Standardwerk für Architekten ist. Der »Neufert« enthält sämtliche Raummaße von der Badewanne bis zur Abfertigungshalle. Als »Maß aller Dinge« (Neufert) geht er darin von Standardmenschen aus, die als schablonenhafte Strichmenschen die Raumskizzen seiner Bauentwurfslehre illustrieren.
Neben Wilhelm Wagenfeld und Ernst Neufert hat auch der Architekt und ehemalige Weimarer Bauhaus-Syndikus Emil Lange mit dem Bau des Gewerkschaftshauses (1928/30) seine Spuren in Weißwasser hinterlassen. Neufert-Bau und Gewerkschaftshaus – zu DDR-Zeiten »Kulturhaus der Stadt« und heute »Volkshaus« genannt – stehen seit Jahren leer. Das Bauhaus-Erbe in Weißwasser ist ein Schatz, der noch zu heben ist. Es kann vom Wirken des Bauhauses in der Industrie und der Provinz erzählen, aber auch von den Kontinuitäten in der NS-Zeit. Es steht aber auch für die beispielhafte Zusammenarbeit von Künstlern, Fachkräften und Industrie und Wagenfelds Werkstatt der Entwicklung einer demokratischen Produktkultur.
Der Modellfall nahm Ansätze des Bauhauses auf und übersetzte sie in die Gegenwart. Besonders die sozial orientierten Gestaltungsideale, der Anspruch auf Erneuerung der Gesellschaft und die konsequente Orientierung der Gestaltung am »Braucher« fanden im Nachdenken über heutigen und künftigen »Stadtgebrauch« Eingang in das Projekt. Die Auftritte von Wagenfeld & Neufert machten dieses Nachdenken anschaulich und öffentlich. Die beiden Bauhäusler – nach über achtzig Jahren nach Weißwasser zurückgekehrt – fragten nach dem industriellen Erbe, riefen die Bürger*innen zum Neugebrauch ihrer Stadt auf, stritten über eigene Verflechtungen ins NS-Regime, sahen alte Ideale verraten und diskutierten neue Ansätze.
Die interdisziplinären Werkstätten des Modellfalls dachten das Werkstattprinzip der Bauhaus-Schule weiter und standen in Bezug zu Wagenfelds Werkstatt in Weißwasser. Experiment und Prozess waren damals wesentlich und auch jetzt wichtig, um in einer Zeit des Wandels eine »selbstgemachte« Stadt zu gestalten.
Die Bauhütte auf der Schnitterbrache zitierte die mittelalterliche Bauhütte, in der verschiedene Gewerke und Künstler beim Dombau zusammenwirkten. Das Bauhaus ist von Walter Gropius in bewusster Anlehnung an die mittelalterlichen Bauhütten benannt worden. Die Verwandlung der alten Glasfachschule zur Gebrauchsakademie reflektierte im Stadtprojekt den anwendungsorientierten Ansatz der Bauhaus-Schule. Auf vielfältige Weise setzte es sich dabei auch mit Neufert als Vordenker von Normierung und Typisierung auseinander: Die Theaterperformance der Normwesen im Neufert-Bau, der Tanzpalast nach Masz, der Masz-Song, die Anweisungen auf der Werkstraße der Verwandlung in der alten Glasfabrik und der neu errichtete Trimm-dich-Pfad für Geist und Körper auf dem Boulevard befragten spielerisch Ernst Neuferts Postulat vom »Menschen als Maß aller Dinge«.
Dieses Buch möchte den Parcours und die Arbeit vor Ort dokumentieren. Zugleich will es Arbeitserfahrungen zugänglich machen und einige der begonnenen Diskussionen in Interviews und Textbeiträgen vertiefen. Experten und Beteiligte reflektieren den Modellfall in Hinblick auf die Transformationen in der Lausitz, das Vermächtnis des Bauhauses und die künstlerischen Strategien bei der Arbeit im Stadtraum. Zusätzlich können kurze Ausschnitte einiger Szenen des Parcours per QR-Code abgerufen werden.
Zu gebrauchen ist dieses Buch als Lektüre oder Bilderbuch, von vorne nach hinten oder umgekehrt. Für den einen oder anderen ist es hoffentlich auch Anregung zu einem selbstbestimmten Stadtgebrauch.


Baltzer, David
David Baltzer, geb. 1962: Fotografiert seit 1984. Zu Beginn Friedens- und Ökologiebewegung, Bürgerproteste und Popkonzerte. Durch Zufall kommt er zur Theaterfotografie und macht sich schnell einen Namen im deutschsprachigen Raum. Er arbeitet u.?a. für Frank Castorf, Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief, Salzburger Festspiele, Theater der Welt, Berliner Festspiele. Porträt, Reportage und Arbeiten für Film, hier u.?a. »Lost Children« (Bundesfilmpreis »Bester Dokumentarfilm« 2006). Auftragsarbeiten für den Spiegel, Die Zeit, Theater Heute, Theater der Zeit u.?a. Zweiter Preisträger des Hansel-Mieth-Preises 2007. Lebt in Berlin. [2021]

Scheel, Hendrik
Hendrik Scheel, geb. 1972: Bühnen-und Kostümbildstudium an der HfBK Dresden, der Kunstakademie Wien und St.?Martins, London. Theaterräume für diverse Schauspiel- und Opernaufführungen und Szenografien für partizipative und immersive Projekte im Stadtraum, für Museen und Schulen, u.?a. mit den Kulturagenten, dem Jüdischen Museum Berlin und der Mauergedenkstätte Berlin. Kollaborationen mit dem Ballhaus Ost, dem Impulse Festival, sideviews e.?V. und dem Künstlerkollektiv Recherchepraxis. Lebt in Berlin. [2021]

Nolte, Stefan
Stefan Nolte, geb. 1965, Theaterregisseur: Regiestudium an der Theaterakademie in Hamburg. Seit 1993 Inszenierungen u.?a. am Staatsschauspiel Dresden, Nationaltheater Mannheim, Schauspiel Stuttgart, Theater Aachen, Theater Dortmund und dem Theater Freiburg. Freie Projekte z.?B. in Peenemünde, Bitterfeld, Zittau, Zürich und Berlin. Erst- und Uraufführungen, Romanadaptionen, Musiktheaterprojekte, Stückentwicklungen und Stadtprojekte. Gründungsmitglied von Theater Provinz Kosmos e.?V. und Recherchepraxis. Außerdem künstlerische Forschung und Lehrtätigkeiten. Lebt in Berlin. [2021]



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