E-Book, Deutsch, Band 4, 200 Seiten
Reihe: Calypso
Nonn Calypso (4). Hinter dem Horizont
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-401-84022-2
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 4, 200 Seiten
Reihe: Calypso
ISBN: 978-3-401-84022-2
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fabiola Nonn wurde 1989 in Ulm geboren. Mit einem Studienabschluss in Kunsttherapie besiegelte sie 2014 ihre Leidenschaft für das kreative Leben und Arbeiten. Ihr Bilderbuch-Debüt 'Die Geschichte von Carl Mops' wurde für den deutsch-französischen Jugendliteraturpreis nominiert und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Fiktive Welten waren schon immer ihre zweite Heimat. Die Autorin liebt Geschichten über das grenzenlose Abenteuer, ungewöhnliche Charaktere, und vielschichtige Gefühle. Inspiration findet Fabiola Nonn in ihrem Garten, auf Reisen, beim Experimentieren mit Farben in ihrem Atelier und bei guten Gesprächen. Gemeinsam mit ihrer Familie lebt sie mitten in der Natur des Schwarzwalds. Sie veröffentlicht heute unter dem Namen Fabiola Turan. Mehr über die Autorin: www.fabiola-turan.de @fabiola.turan.autorin (Instagram)
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Mit zielstrebigen Flossenschlägen stoße ich hinab in die Tiefe. Meine optischen Sinne passen sich an die Dunkelheit an, doch das Wasser ist nicht klar genug um besonders weit sehen zu können. Ich erahne die Struktur naher Felsformationen und die raschen Bewegungen von Fischen, die abrupt die Richtung wechseln, kaum dass sie mich wittern. In diesem Körper machen die stetig sinkenden Temperaturen mir nichts aus. Ich konzentriere mich auf den leisen Ruf von Nalanee: die vertraute Melodie im Wasser, die mich zur sagenumwobenen Stadt der Ondine führen wird. Jenem Ort, der dazu bestimmt gewesen wäre, auch meine Heimat zu sein.
Obwohl Nalanee für die meisten Khimaara viel mehr Gefängnis als Zuhause war, klingt seine Melodie für mich noch immer verlockend. Sie verspricht Hoffnung – und ich versuche an diesem Gefühl festzuhalten, auch wenn meine Hoffnung in Bezug auf die Ondine bereits mehrfach enttäuscht wurde. Außerdem könnte mir nicht nur das maritime Volk gefährlich werden, ich muss mich auch vor Calypso in Acht nehmen. Denn die dunkle Tiefsee ist das Reich eines Dämons, in den sich die Meeresgöttin nach ihrer Verbannung verwandelt hat. Schon unsere letzte Begegnung hätte mich beinahe das Leben gekostet. Und spätestens seit ich ihre Tochter Nereyda aus den Schatten der Verdammnis befreit habe, scheint sie es auf mich abgesehen zu haben. Aber ich habe keine andere Wahl. Ich muss nach Nalanee, um Tineal Merion Tosca zu finden: den einzigen Khimaara außer mir, der mehr als nur zwei Omen beherrscht und der selbst unter den Ondine zu Macht und Einfluss gekommen sein soll. Wenn er mir nicht helfen kann, Baran Hekathi aufzuhalten, kann es vermutlich niemand.
Ich versuche mich nicht einschüchtern zu lassen von der Ahnung, dass der Dämon Calypso irgendwo hier unten auf mich lauern könnte. Die Melodie der maritimen Stadt hat eine beruhigende Wirkung auf mich, also konzentriere ich mich darauf – und denke an die schimmernden Türme, den Wasserfall über der Stadt und die exotischen Pflanzen in den üppig angelegten botanischen Plattformen, die mir von meinem letzten Besuch in Erinnerung geblieben sind. Jeder Flossenschlag treibt mich weiter hinab in die Tiefe. Und mit jedem Schlag nehme ich ihre Anwesenheit deutlicher wahr. Calypso. Auch wenn ich sie nicht sehe, glaube ich ihren Blick im Nacken zu spüren. Genau wie ihre langen Finger, die nach mir greifen. Ich ignoriere dieses unheimliche Gefühl und verbiete mir, auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Egal wie stark der Impuls ist. Ich schwimme weiter – um die Dunkelheit hinter mir zu lassen. So schnell wie möglich.
In meinen Ohren schwillt der Ruf Nalanees immer weiter an. Mein Gefühl von Sicherheit wächst, je deutlicher die Melodie wird. Ähnlich einem verschwommenen Bild, das endlich eine klare Gestalt annimmt, werden die Akkorde greifbar. Als der blasse Schimmer der Kuppel schließlich durch die Dunkelheit dringt, gebe ich mich ganz bewusst dem Gefühl hin, an diesem Ort richtig zu sein. So entziehe ich mich dem Einflussbereich des Dämons. Zwischen den Welten ist er am stärksten. Doch indem ich mich vorübergehend zu einer Seite bekenne, nehme ich Calypso die Macht über mich.
Ich erreiche das große Tor mit seinen maritimen Motiven, verschlungenen Mustern, die an Tiefseebewohner erinnern, Pflanzen und fremdartig anmutenden Tieren. Obwohl das Wasser inzwischen sauber und frisch ist, liegt die Stadt vollkommen verlassen da. Ganz anders als in meiner Erinnerung, schwärmen heute weder Abgeordnete der Stadtwache noch Kinder, junge Frauen oder Männer mit Netzen durch das massive, steinerne Tor. Ich ertappe mich bei dem Gedanken daran, dass die Ondine womöglich gar nicht mehr hier sind. Schließlich weiß niemand, was sich in den letzten Wochen und Monaten hier unten abgespielt hat – während wir an der Erdoberfläche um unser Überleben gekämpft haben. Mein Bruder Ash und ich haben bewusst darauf verzichtet, Kontakt zu den Ondine zu halten. Nach allem, was sie ihm angetan haben, ist uns diese Entscheidung nicht besonders schwergefallen. Und alles, was wir darüber hinaus von den Khimaara erfahren haben, hat unseren Entschluss nur bestärkt.
Trotzdem bin ich jetzt hier – und schwimme zielstrebig auf die Barriere zu, die Nalanee umgibt. Ich bin so entschlossen, unseren Hoffnungsträger zu finden, dass ich die Gefahr in unmittelbarer Nähe vollkommen ausblende. Die Verunsicherung durch den Anblick der scheinbar verlassenen Stadt reicht aus, um meine innerlich aufgebaute Abwehr zu schwächen. Und bevor ich reagieren kann, schlägt der Dämon zu. Im ersten Sekundenbruchteil ist es nur eine merkwürdige Ahnung, die mich überfällt. Doch sie breitet sich schnell in mir aus – immer weiter, wie ein sternenloser, dunkler Himmel. Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich nicht umzudrehen, kann ich dem Drang nicht länger widerstehen. Ich schieße weiter auf das große Tor von Nalanee zu, während ich den Kopf drehe. Es ist wie ein Reflex – den ich sofort bereue: Die Dunkelheit bricht über mich herein. Sie kriecht in jede meiner Poren. Umschließt und überwältigt mich. Vollkommen bewegungsunfähig starre ich hinaus in eine Nacht, die so makellos und abgrundtief ist, dass sie mich alles Leben und Glück in diesem Universum vergessen lässt. In mir breitet sich eine Leere aus, die mir den Atem raubt. Ich verliere jegliche Orientierung. Sogar das Gefühl dafür, wo unten und oben ist. Ich vergesse die Welt um mich herum – genau wie die Geschwindigkeit, mit der ich durch das Wasser gleite. Bis ich auf die Membran des großen Stadttors pralle und sie durchstoße. Der Schmerz des Aufpralls reißt mich zurück in die Realität. Und sobald ich wieder Luft atme, wird die Rückverwandlung ausgelöst. Ich rutsche über den kalten, harten Marmorboden, während meine Lungen sich entfalten und meine Beine sich aus der Vereinigung der Flosse lösen. Von irgendwoher dringt warmes Licht. Hustend und keuchend rapple ich mich auf. Doch kaum stehe ich, wird mir schon wieder schwindelig. Meine Knie geben nach, ich habe das Gefühl mich übergeben zu müssen. Stattdessen spucke ich nur Salzwasser aus. An den gewaltigen Druckunterschied zwischen Strand und Tiefsee hat mein Körper sich einfach noch nicht gewöhnt.
Wenigstens ist die Kuppel von Nalanee mit Luft gefüllt, genau wie unsere frühere Heimat Calypso. Sie wurde nach einer Göttin benannt – doch seit ein paar Tagen weiß ich, dass die Kraft dieser Kreatur alles andere als göttlichen Ursprungs ist. Ich mache ein paar vorsichtige Schritte. Der Zauber des Dämons scheint verflogen zu sein. Calypso hat sich in die Dunkelheit zurückgezogen. Und es ist, als wäre sie nie dagewesen. Meine Sicht wird allmählich wieder klarer. Als ich Schritte höre, werfe ich beiläufig eines der fließenden Leihgewänder über, die hier für die Ondine nach der Verwandlung bereitliegen. Begleitet von einer Dampfwolke verlässt eine Frau das öffentliche Bad, das direkt neben dem Eingang zur Stadt liegt. Mein Herz setzt einen Schlag aus, doch ihr Blick streift mich, ohne Verdacht zu schöpfen. Dann schlägt sie den Weg zur Stadt ein. Sie scheint nichts bemerkt zu haben. Niemand scheint etwas bemerkt zu haben – überhaupt ist nicht besonders viel los hier unten. Irritiert sehe ich mich um. Anders als beim letzten Mal ist der Bereich der Schleuse durch einen leichten, weißen Vorhang vom Rest der Stadt getrennt. Dahinter erahne ich Lichter, Silhouetten. Außerdem höre ich leise Stimmen, die aus der Ferne zu mir durchdringen. Die Stadt ist also doch belebt. Als ich einen Blick zurückwerfe, erkenne ich auf der anderen Seite der Membran ebenfalls Ondine. Mit eleganten Bewegungen schweben sie draußen am Stadttor vorbei. Während ich sie beobachte, steigt ein merkwürdiges Gefühl in mir auf. Die Vision des Dämons muss mich davon abgehalten haben, das Treiben vor der Stadt gleich zu erkennen. Calypso hat noch immer einen starken Einfluss auf mich. Ob sie mich ablenken und damit verhindern wollte, dass ich Nalanee erreiche? Ich weiß es nicht. Aber falls ich mit dieser Befürchtung richtig liege, wäre das nur ein weiterer Hinweis darauf, dass meine Suche nach Tineal sich tatsächlich lohnen könnte.
Ich werfe einen letzten Blick zurück auf das lebhafte Treiben im Wasser vor der Stadt und atme noch einmal tief durch. Beim Beobachten dieser fast schon alltäglichen Szene beruhigt sich mein Herzschlag und ich fühle mich gleich sicherer. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass etwas anders ist als sonst. Eine sanfte Vibration erfüllt die Luft. Ich glaube den Rhythmus einer beschwingt-feierlichen Melodie zu erkennen. Sie klingt nicht mystisch, wie der Ruf von Nalanee, sondern instrumental und beinahe volkstümlich. Kaum schüttle ich das Wasser aus meinen Ohren, erkenne ich die Stimmen einzelner Instrumente heraus. Auch der Schwindel lässt jetzt nach. Sicherheitshalber taste ich mich trotzdem an der Wand entlang, bis ich ein Regal aus dunklem Stein erreiche, dessen quadratische Fächer so niedrig gelegen sind, dass ihre Oberfläche gleichzeitig als Sitzgelegenheit dient. Ich werfe einen Blick auf die Silhouetten hinter dem Vorhang. Doch niemand scheint mich zu bemerken. Was ist da nur los?
Hastig stolpere ich weiter, in den Duschbereich, wo ich mein Gewand zusammenfalte und auf einer der niedrigen Regalreihen ablege. Ein paar der quadratischen Fächer sind mit Schuhen oder Taschen belegt. So etwas wie Schließfächer gibt es nicht. Die Ondine scheinen einander zu vertrauen. Als ich unter den Strahl eines warmen Wasserfalls schlüpfe, kommt es mir auf einmal so vor, als sei mein letzter Besuch hier unten schon ewig her. Fröstelnd verharre ich unter dem angenehmen Strahl, bis die Übelkeit langsam nachlässt. Wenigstens kann ich inzwischen wieder klar...




