E-Book, Deutsch, Band 198, 64 Seiten
Reihe: Dr. Karsten Fabian
Nordmann Dr. Karsten Fabian - Folge 198
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7325-5510-9
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wenke und der Vagabund
E-Book, Deutsch, Band 198, 64 Seiten
Reihe: Dr. Karsten Fabian
ISBN: 978-3-7325-5510-9
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wenke Bohlen wohnt bei ihrer Tante im Heidedorf Altenhagen. Bis vor Kurzem führten sie ein ruhiges, sorgloses Leben, aber als sie vor einigen Tagen am späten Nachmittag in die Kirche ging, um ein bisschen auf der Orgel zu spielen, traf sie da plötzlich einen ziemlich verwahrlost wirkenden jungen Mann, der in einer Nische Schutz vor dem Regen gesucht hatte.
Zuerst hatte Wenke ein bisschen Angst, aber dann begann der Vagabund zu erzählen. Merkwürdige Geschichten, und sie glaubte ihm kein Wort. Aber Wenkes Tante war, als sie ihn kennenlernte, ganz begeistert.
Ja, und jetzt ist dieser Henning bei den beiden Frauen eingezogen - und das Chaos ist perfekt ...
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Es war kurz vor Ostern. Ein zartes Grün hing wie ein Hauch über dem Kirchdorf Altenhagen und den Wäldern und Mooren. Ein paar Leute hasteten über die Dorfstraße und schauten besorgt zum Himmel hinauf. Dort verbarg sich die Nachmittagssonne hinter einer blaugrauen Wolke.
Ein Gewitter im Frühling kündigte sich an.
Dann fielen auch schon die ersten Tropfen. Ein Blitz zuckte grell über die dunkle Wolke. Der Donner grummelte Sekunden später, und dann öffnete der Himmel seine Schleusen. Der Gewitterregen prasselte auf Altenhagen nieder.
Auf der Landstraße von Lüneburg nach Altenhagen fuhr ein junger Mann auf seinem Fahrrad und kämpfte gegen den heftigen Wind. Er kniff die Augen zusammen und trat kräftig in die Pedale.
Ein Auto tauchte vor ihm auf, spritzte einen Schwall schmutzigen Wassers über ihn, als es durch eine Pfütze fuhr, und war auch schon wieder im Regen verschwunden. Der junge Mann machte erschrocken einen Schlenker nach rechts, das Vorderrad berührte einen Straßenbegrenzungsstein, schlug herum und kippte zur Seite.
Der Mann fiel kopfüber in den flachen Graben neben der Straße, klatschte in aufspritzendes Wasser und schlug mit dem rechten Unterarm auf einen harten, scharfen Gegenstand.
Fluchend erhob sich der junge Mann. Erst als er auf die Straße zurücktrat und sein Fahrrad aufhob, spürte er einen scharfen Schmerz im rechten Arm. Er presste die linke Hand auf die schmerzende Stelle und stellte erschrocken fest, dass er blutete.
Trotzdem hob er zunächst das Fahrrad auf, legte es an den Straßenrand, nahm zwei schwere Gepäcktaschen auf, die neben dem Rad lagen.
Weil das Blut an seinem Arm herablief, krempelte er die Ärmel der Jacke auf und starrte verwundert auf die offenbar tiefe Verletzung. Mit seinem Halstuch verband er die Wunde, knotete es mithilfe seiner linken Hand und seinen Zähnen fest zusammen und warf die Gepäcktaschen über seine linke Schulter.
Der Regenumhang war ihm von den Schultern gerutscht und lag im Straßengraben, der sich immer mehr mit Wasser füllte.
Der Mann fischte den Umhang heraus, griff nach dem Fahrrad, hob die Lenkstange an und ging im strömenden Regen dem nahen Heidedorf zu, dessen Kirchturm er schon vor Beginn des Gewitters aus der Ferne gesehen hatte. Nach einigen Hundert Metern tauchte das Namensschild des Dorfes auf. »Altenhagen« las er und dachte, dass er sich irgendwo verfahren haben musste.
Ein paar Blitze zuckten auf, denen augenblicklich der Donner folgte, und dann erkannte der Mann durch den Dunst des Regens genau vor sich die Dorfkirche, die mitten auf der Straße zu stehen schien. Erst beim Näherkommen bemerkte er, dass die Straße sich gabelte und rechts und links an der Kirche vorbeiführte.
Der Mann ging auf den Kircheneingang zu, stellte das kaputte Fahrrad gegen die Kirchenmauer und drückte gegen die schwere Kirchentür. Zu seinem Erstaunen gab sie nach. Und so trat er in das Halbdunkel des Kirchenraumes.
Er blieb in der Mitte des Raumes unter dem Kirchturm stehen und schaute sich neugierig um. Das schwache Tageslicht fiel durch hohe, bunte Fenster ins Innere. Am Ende des Kirchenschiffs erkannte er den Altar.
Der Mann atmete tief. Er ging ein paar Schritte auf Zehenspitzen vorwärts und entdeckte eine Tür, die offenstand und den Blick auf eine Treppe freigab. Er griff nach seinen Gepäckstücken, zuckte ein bisschen zusammen, als der Schmerz der Armwunde ihn zwang, alles in die linke Hand zu nehmen, und stieg kurz entschlossen die Treppenstufen hinauf.
Als er oben war, lächelte er, als er die Orgel erkannte, die fast die gesamte Breite des Turmraums einnahm.
Und hinter der Orgel entdeckte er unter einer Nische eine Bank. Er setzte sich aufstöhnend darauf nieder. Der rechte Arm schmerzte. Trotzdem entledigte er sich seiner Jacke, die tropfnass war, zog seine Schuhe aus und wollte gerade nach den Gepäcktaschen greifen, als er Schritte auf der Treppe hörte.
Er drückte sich tief in die Nische und atmete leise. Er sah, wie eine junge Frau zur Orgel ging, das Gebläse einschaltete und wieder aus seinem Blickfeld entschwand.
Gleich darauf hörte er sie auf die Fußpedale treten. Ein paar erste Töne, noch zaghaft, dann brauste ein Orgelspiel auf, das anschwoll, leiser wurde, erneut anhob und in eine Melodie überging.
So nimm denn meine Hände …, dachte er, legte die Thermosflasche, die er aus einer der Gepäcktaschen herausgezogen hatte, auf die Bank und presste die linke Hand auf den schmerzenden rechten Arm.
Und genau in dem Augenblick, als die letzten Töne der Orgel verstummten, zuckte er zusammen, als die Thermosflasche zu Boden polterte und auf die Orgel zurollte.
Er hielt den Atem an. Und dann stand die Frau auch schon vor ihm und sah ihn keineswegs erschrocken an.
»Was tun Sie hier? Wie kommen Sie hierher?«, fragte sie streng.
»Wie ich hierhergekommen bin? Äh … mit dem Fahrrad. Ich bin mit dem Rad durch ganz Europa gefahren, eine Art Studienfahrt.«
»Darf ich erfahren, was Sie studieren?«, fragte sie voller Spott.
»Menschen.« Er grinste. »Menschen auf dem Lande. Bauern in Frankreich, Spanien, Italien, Bayern und jetzt hier in der Lüneburger Heide.«
»Und schließlich landeten Sie in der Kirche von Altenhagen.« Sie betrachtete ihn sinnend. »Sie sehen nicht aus wie einer, der auf Bauernhöfen gearbeitet hat und auch nicht wie ein Landstreicher.«
»Danke.«
Sie fuhr ihn ärgerlich an. »Aber Sie sehen aus, als ob Sie vor irgendwas davongelaufen sind. Werden Sie gesucht?«
»Na ja, gewissermaßen.« Er tat zerknirscht.
»Das dachte ich mir. Weshalb werden Sie gesucht?«
»Das ist eine lange Geschichte. Wollen Sie sich nicht setzen?«
»Wie heißen Sie?«, fragte sie, ohne auf seine Frage einzugehen.
»Henning«, antwortete er nach einem tiefen Seufzer. »Es hat wohl keinen Sinn, Sie zu bitten, die Geschichte für sich zu behalten?«
»Das kann ich Ihnen erst versprechen, wenn ich Ihre Geschichte gehört habe. Ist Henning Ihr Familienname?«
»Nein, ich heiße Henning Frederking. Und Sie?«
»Wenke Bohlen«, gab sie Auskunft.
»Hübsch.«
Er lächelte, trat ein wenig zur Seite und machte eine einladende Handbewegung zur Bank.
Sie schüttelte den Kopf. »Sie wollten mir Ihre Geschichte erzählen. Sind Sie wirklich mit dem Fahrrad durch ganz Europa gefahren?«
»Alles andere wäre zu auffällig gewesen«, gestand er mit reumütigem Klang in der Stimme.
»Das leuchtet mir ein. Wovon haben Sie die ganze Zeit gelebt?«
Er lachte vergnügt, bückte sich und hielt sich dabei den rechten Arm.
»Mal hier, mal da habe ich gearbeitet, Wenke.«
»Ich heiße Bohlen.«
»Okay, Frau Bohlen.« Er lächelte sie ungekränkt an. »Was tun Sie hier im Dorf, außer die Orgel zu spielen?«
Sie runzelte die Stirn. »Ich bin Gymnasiallehrerin, aber zurzeit bekomme ich keine Anstellung. Deshalb helfe ich in der Grundschule, gebe Mal- und Musikunterricht. Ich habe eine ganze Menge zu tun, im Gegensatz zu Ihnen, Herr Frederking.«
»Oh, sagen Sie das nicht. Wenn mir dieses Dorf hier gefällt, bleibe ich und arbeite hier. Es sieht ganz so aus, als ob ich das tun werde. Was ich bisher kennengelernt habe, gefällt mir sehr.«
»Hier im Dorf? Was kennen Sie denn hier?«, fragte sie irritiert.
»Sie, zum Beispiel …«
»Reden Sie keinen Unsinn. Ich meine, was Sie arbeiten wollen.«
»Es gibt auf jedem Hof Arbeit. Kaputte Zäune, reparaturbedürftige Ställe …«
»Könnten Sie auch ein Dach reparieren?«, fragte sie und sah ihm bei ihrer Frage interessiert in die Augen.
»Oh, das ist meine Spezialität. Ich bin der beste Dachdecker der Welt.«
»Übertreibungen liegen Ihnen wohl gar nicht? Meine Tante sucht jemanden, der unser Stalldach reparieren kann. Aber da Sie von der Polizei gesucht werden …«
»Nicht von der Polizei, nur von meinem Vater«, erklärte er vergnügt.
»Sie sagen immer nur die halbe Wahrheit, wie? Außerdem haben Sie mir immer noch nicht Ihre Geschichte erzählt. Was hat Ihr Vater damit zu tun?«
»Oh, das begann damit, dass mein Bruder in der Firma meines Vaters arbeiten wollte, ich aber nicht. Ich hatte keine Lust mehr, mich ewig mit den beiden auseinanderzusetzen und bin weggefahren …«
»Mit dem Fahrrad«, spottete Wenke.
»Damals besaß ich noch ein Motorrad.«
»Aha.«
»Ja. Und zuerst landete ich in Amsterdam.« Er bückte sich, um ein Tuch aus einer der beiden Fahrradtaschen herauszunehmen und stieß einen leisen Schrei aus. »Verdammt«, zischte er.
»Fluchen Sie nicht in der Kirche«, empörte sie sich. »Was ist los, haben Sie Schmerzen?«
»Ich bin mit meinem Fahrrad gestürzt«, knurrte er.
»Aha. Dann gehört Ihnen also das kaputte Rad, das an der Kirchenwand steht? Was ist mit Ihrem Arm? Lassen Sie mich mal sehen …«
»Es ist nur eine kleine Risswunde«, sagte er unruhig, erhob sich aber trotzdem. »Es ist nicht so schlimm. Außerdem blutet es auch gar nicht mehr so stark.«
Er sah sie jetzt erst deutlicher, als sie ins Licht trat. Sie war groß und schlank, hatte helle, blonde Haare und blaue Augen. Ihre Nase war ein wenig zu kurz und gab ihr ein keckes Aussehen. Ihre Lippen waren wundervoll geschwungen.
Und als sie sich über seinen...




