Novak-Lechevalier | Michel Houellebecq | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 592 Seiten

Novak-Lechevalier Michel Houellebecq


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8321-8478-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 592 Seiten

ISBN: 978-3-8321-8478-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Dieses Cahier de l’Herne erfasst die ganze Aktualität und Komplexität des literarischen und politischen Phänomens, das Houellebecqs Werk darstellt.«
Yann Diener, CHARLIE HEBDO

Für die einen faszinierend, für die anderen unerträglich – das Werk von und die Person Michel Houellebecq stellen unsere gewohnten Sichtweisen infrage und verunsichern uns.

Man kann Houellebecq nicht festlegen: Er ist Romancier, Lyriker, Essayist, Dramatiker. Und er dehnt das Feld der Literatur aus: auf das Kino, die Musik und die bildende Kunst. Mit seinen Texten inspiriert er Künstler aller Art.

Der vorliegende Band erschien im französischen Original als ›Cahier de l‘Herne‹, einer bekannten Reihe von Textsammlungen zu berühmten Autorinnen und Autoren. Es ist eine besondere Auszeichnung, wenn einem Schriftsteller schon zu Lebzeiten ein solches Cahier gewidmet wird. Michel Houellebecq zählt zu dem Kreis der Auserwählten.

Das von Agathe Novak-Lechevalier, einer ausgewiesenen Kennerin des Werks von Houellebecq, herausgegebene Cahier enthält unveröffentlichte Texte des Autors; Gespräche mit literarischen Größen wie Bret Easton Ellis; Beiträge von Freunden wie Frédéric Beigbeder und Bernard Maris, von Schriftstellerkolleginnen und -kollegen wie Yasmina Reza und Salman Rushdie, von Philosophen, Musikern, Journalisten und Journalistinnen.

Alle Texte versuchen das Phänomen Houellebecq zu fassen und zu erklären, spiegeln die Komplexität seines Denkens und die Aktualität seines literarischen Werkes wider.

Ein Muss für jeden, der diesem Schriftsteller, einem der wichtigsten unserer Gegenwart, auf die Spur kommen will.

Novak-Lechevalier Michel Houellebecq jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Ein Eremit im Nouveau Palace
Michel Houellebecq, Student der Agrarwissenschaften
Pierre Lamalattie
Es war Anfang September 1975, als ich Gepäck ins Auto meiner Eltern lud, um zum Campus in Grignon aufzubrechen. Kurz zuvor hatte ich meine Zulassung für das Studium der Agrarwissenschaften erhalten, für das »Agro«, wie wir sagten, und das erste Jahr des Ingenieurstudiengangs verbrachte man in Grignon, inmitten von Wäldern und Feldern, vierzig Kilometer vor Paris. Kurz bevor ich den Kofferraumdeckel zudrückte, fiel mir Michel ein. Er wohnte in unserer Straße, zehn Häuser entfernt. Ich schlug ihm vor, bei mir mitzufahren. Er nahm das Angebot an. Um sein Gepäck wolle er sich später kümmern, er war kein komplizierter Typ. Wir beide hatten zuvor Vorbereitungskurse für Agronomie belegt, im Pariser Lycée Chaptal, allerdings in unterschiedlichen Klassen. Michel war weder durch seine Familie noch durch persönliche Vorlieben zur Agrarwissenschaft gedrängt worden. Er hatte sich schlicht mechanisch eingeschrieben. Die Kurse in Chaptal waren wenig aufsehenerregend, und ich erinnere mich vor allem an riesige Pissoirs im neobyzantinischen Stil, an denen ich häufig erstaunt vorüberging. Michel trug stets einen grünen Parka und schien sich dabei von den Wetterumständen wenig beeindrucken zu lassen. In der Schule hatte er keinerlei Schwierigkeiten. So verlief unser beider Leben trostlos, aber ruhig. Michel war brav. Er bewarb sich um einen Studienplatz an der École Normale Supérieure (ENS) und im Bereich Agrarwissenschaften. Mit einem Studium an der ENS hätte er eine vielversprechende Karriere beginnen können, und seine Lehrer freuten sich bereits, schließlich war ein solcher Erfolg in Chaptal nicht alltäglich. Doch dann verweigerte Michel erstaunlicherweise die mündliche Prüfung. Die Erklärung, die man zu hören bekam, lautete, dass »die Prüfungen mit Geologie beginnen«. Und Geologie missfiel ihm wohl. Die mündliche Prüfung in Agrarwissenschaften bereitete ihm keine Mühe. In Grignon angekommen, wurden wir im neuesten Gebäudeteil des Campus untergebracht, den die Verwaltung »Nouveau Palace« nannte. Eine solide Konstruktion, ganz im Stil der génie rural. Michels Zimmer befand sich am Ende des Gangs, drei Nummern von meinem entfernt. Im Mittelpunkt des ersten Studienjahrs stand ein langes, über mehrere Jahreszeiten verteiltes Praktikum in einem landwirtschaftlichen Betrieb. Michel hatte eine Aversion gegen derlei Projekte, länger als ein paar Tage hielt er es an keinem der Orte aus. Sein Praktikumsbericht bekam dennoch eine der besten Beurteilungen des Jahrgangs: Der Gutachter lobte Michels Beobachtungsgabe sowie methodische Strenge. Die Dozenten der Agrarwissenschaften, die sich an der Lektüre von Gaston Bachelard berauschten, hatten nämlich einen dicken Sammelband zu diesem Wissenschaftstheoretiker herausgegeben, der uns anregen sollte, die Abschlussarbeit zum Praktikum zu bachelardisieren. Michel gehörte zu den wenigen, die dieses seltsame Buch tatsächlich lasen und Spaß dabei hatten. Er zog die Sprachelemente daraus heran und verarbeitete sie zu einer gut gemachten, als Abschlussbericht getarnten Spinnerei. Michel zeigte keine Begeisterung für sein Studienfach, allerdings hin und wieder ein lebhaftes Interesse an bestimmten wissenschaftlichen Fragen. So entwickelte sich seine Leidenschaft für die mathematische Katastrophentheorie und fraktale Geometrie. Ich erinnere mich an einen Abend mit ihm, den wir bei meinen Großeltern in Limousin vor dem Fernseher verbrachten. Einer der Väter der Katastrophentheorie, René Thom, sprang in der Sendung vor einer Tafel herum, die er mit einer Sturzflut an Gleichungen bedeckte, wobei knirschende Kreide besonders wichtige Abschnitte betonte. Ein großer TV-Moment im Dienste der öffentlichen Bildung. Meine Großeltern mochten Michel gern und legten ihm bei der Auswahl des Abendprogramms keine Steine in den Weg, schliefen dann aber augenblicklich ein. Er schien glücklich. Man möchte glauben, dass unter den Unterrichtsfächern die Ökologie sein liebstes war. Und tatsächlich verhalf ihm diese im ersten Jahr zu seinen besten Noten. Im dritten Jahr spezialisierte er sich auf dieses Fach. Und doch war Michel, so wie ich ihn kenne, alles andere als ein »Öko«. Denn in Wirklichkeit ist die Ökologie, wenn man sich ernsthaft mit ihr beschäftigt, deutlich weniger unterhaltsam, als man vermuten mag. Man muss beispielsweise über Monate hinweg mit einem Messschieber in der Hand durch den Ozean tauchen, um Statistiken über das Wachstum von Seeohren zu erstellen, oder inmitten eines Blizzards das Vorbeiziehen hypothetischer Steinböcke abwarten. Das war nicht seine Art. Wenn er der Ökologie den Vorzug gegeben hat, dann vermutlich aus anderen Gründen, womöglich aufgrund einer Vorliebe für gewisse Dozenten oder der Stimmung in diesem Studiengang. Das Studium der Agrarwissenschaft stellte weder Michel noch einen von uns anderen vor Schwierigkeiten. Wer einmal an der Ingenieurschule aufgenommen worden war, konnte mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, auch sein Diplom zu bekommen, sodass die Unterrichtsinhalte beinahe wie eine Nebentätigkeit wirkten. Man musste sich noch andere Beschäftigungen suchen. Mit 19 gibt es da vor allem eine Sache: flirten. Allerdings stellte sich dies in einer Studentenschaft mit weniger als zehn Prozent Mädchen als ermüdende Aktivität heraus, vor allem für schüchterne Jungs, wie wir es waren, frisch von der Schule. Zudem war die Mehrzahl der Frauen, Pionierinnen in einer traditionell männlichen Umgebung, energisch und pragmatisch, kurz: Feministinnen. Für uns war es bereits schwer hinzunehmen, dass es derart viele Männer der Tat gab. Und dass nun auch die Frauen solche der Tat sein wollten, war für uns ein wenig deprimierend. Wir haben dennoch von einigen Mädchen geträumt. Und während es wahrscheinlich so war, dass diese nie das Reich der Träume verlassen würden, ergab sich für uns daraus ein zusätzliches Gesprächsthema. Denn das Wichtigste überhaupt in diesem Studienjahr waren unsere Diskussionen. Ich traf mich häufig mit Michel und jenem anderen Freund, Gérard. Diskutierend machten wir uns auf den Weg zum Vorlesungssaal oder zur Kantine. Auf dem Rückweg hielten wir es ebenso, und auch in den folgenden Tagen. Das Reden hörte einfach nie auf. Die Gespräche mit Michel bestanden von seiner Seite aus vor allem aus Schweigen, hin und wieder von einem »Hm?« oder einem »Ja!« unterbrochen. Manchmal entwischte ihm ein Glucksen. Ein paar wohlgesetzte Worte genügten ihm, um mit Unschuldsmiene den Diskurs seiner Gesprächspartner rissig werden zu lassen. Doch im Gegensatz zu den meisten Menschen, die bloße Standardphrasen in ein Gespräch einwerfen, dachte Michel beim Reden nach. Was den Austausch mit ihm so interessant machte. Allerdings verlangsamte dies seinen Redefluss erheblich, zuweilen so weit, dass er etwas seltsam wirkte. Seine Lippen nahmen zeitweise eine asymmetrische Form an, wenn er angestrengt nachdachte. Manche schalteten in diesen Momenten ab, ich jedoch liebte die vertrauensvollen Gespräche mit ihm in all den Jahren. Michel war fast unaufhörlich in einem offenbar passiven Zustand, in dem er sich selbst vergaß und unbewusst beobachtete. Er zeigte keinerlei Interesse an sich selbst. Im Schauspiel der anderen hingegen fand er auf natürlichste Weise seine Unterhaltung. Ganz aus Gewohnheit und ohne Böswilligkeit sah er ihnen zu. Umgeben von fast zweihundert Studenten und ebenso vielen Dozenten hatten wir gewissermaßen eine Auswahl aller Menschentypen und aller denkbaren Lebensentwürfe in unmittelbarer Reichweite. Das Problem bestand nur darin, dass all unsere Vorstellungen diesen diametral entgegenstanden. Die meisten Studenten waren »engagiert«, das heißt links, allerdings mit einer erstaunlichen Meinungsvielfalt. Es war die Zeit, in der unsere Dozenten als Propheten in die Dritte Welt eingeladen wurden. Nach ihrer Rückkehr ließen sie uns an ihrer Begeisterung für die chinesische Kulturrevolution teilhaben, für die erneuerte Demokratie in Laos, für Kuba et cetera. Tatsächlich war niemand am Agro stolz darauf, sieben Jahre lang unter Präsident Valéry Giscard d’Estaing zu leben. Letzterer beging übrigens in aller Heimlichkeit die Gedenkfeier zum 150. Gründungstag der Schule, die man in den Sommer gelegt hatte, als kein Schüler anwesend war. Wir stellten dem Streben nach Produktivität in Frankreich das »Leben auf dem Lande« entgegen, sprachen uns nach dem Vorbild Pekings für das Radfahren in Paris aus und zögerten auch nicht, hier und da eine Agrarreform vorzuschreiben, mit anderen Worten: eine Revolution. Der stets in ein rotes Polohemd gekleidete René Dumont füllte die Hörsäle, und nie wurde vergessen, ihm sein berühmtes Glas Wasser zu reichen. Vieles davon hätte auch Michel in Richtung linkes Engagement führen können. Er jedoch nahm kaum an den Debatten teil. Ich glaube, die politischen Diskussionen langweilten ihn. Was ihn daran anstrengte, waren höchstwahrscheinlich weniger die politischen Ideen als solche denn vielmehr der repetitive Charakter der Diskussionen, die um diese Ideen geführt wurden. Michel ging als apolitisch durch, das heißt als Rechter. Zu Unrecht, denn ich glaube, dass er, würde er auf einer einsamen Insel leben, ohne irgendeinen Aktivisten in seiner Nähe, wohl eher links wäre. Die Christen waren damals noch zahlreich genug, um Abendandachten, Diskussionsrunden und Wochenendausflüge zu organisieren, häufig gitarrenunterstützt. Zweifellos wäre Michel zufrieden gewesen, hätte er erste Ansätze eines Glaubens in sich gespürt. Viele Aspekte seiner Persönlichkeit rückten ihn in die Nähe christlicher Traditionen....


Kleiner, Stephan
Stephan Kleiner, geboren 1975, lebt als literarischer Übersetzer in München. Er übertrug u. a. Geoff Dyer, Chad Harbach, Tao Lin und Hanya Yanagihara ins Deutsche.

Novak-Lechevalier, Agathe
Agathe Novak-Lechevalier hat eine Assistenzprofessur an der Universität Paris X Nanterre inne. Sie ist die Chefredakteurin des ›Magasin des XIXe sciècle‹. Neben Michel Houellebecq zählen die Werke von Honoré de Balzac und Stendhal zu ihren Forschungsgebieten.



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