E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Novic / Novic Klartext
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-30247-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman - New-York-Times-Bestseller / Reese Witherspoons Buchclub-Empfehlung / Buch des Jahres in Washington Post, Booklit, Publisher's Weekly
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-641-30247-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In einem Internat für Gehörlose kreuzen sich schicksalhaft die Wege einer Lehrerin und dreier Jugendlicher.
Charlie, die rebellische Neue an der River Valley School, kämpft mit ihren Gefühlen und damit, sich verständlich zu machen, denn bisher hatte sie keinen Kontakt zur Gemeinschaftder Gehörlosen. Austin gilt als Überflieger, doch seine Welt gerät ins Wanken, als seine kleine Schwester hörend geboren wird. Und Schulleiterin February Waters weigert sich zu akzeptieren, dass ihre Schule schließen muss - und ihre Ehe womöglich vor dem Aus steht. Als Charlie und Austin zusammen mit einem weiteren Schüler aus dem Internat verschwinden, beginnt für February ein Wettlauf gegen die Zeit.
Dies ist eine Geschichte über Gebärdensprache und Lippenlesen, erste Liebe und Herzschmerz und vor allem über große Beharrlichkeit, Wagemut und Lebensfreude. Eine unvergessliche Reise in die Gemeinschaft der Gehörlosen und ein Fest der menschlichen Verbundenheit.
Der neue Roman von Sara Novi?, die selbst gehörlos ist, entführt Leser*innen in die ebenso spannende wie zerbrechliche und widersprüchliche Welt der Gehörlosen, in der vieles auch nicht anders ist als unter Hörenden und die dennoch ganz eigenen Regeln unterliegt.
Sara Novi?, geboren 1987, studierte an der Columbia University Literatur und Übersetzung. Sie arbeitet als Dozentin für Deaf Studies und kreatives Schreiben. Ihre Essays erscheinen unter anderem in The New York Times, The Guardian, CNN, LitHub. Ihre Romane 'Das Echo der Bäume' und 'Klartext' standen auf Anhieb auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Sara Novi? lebt mit ihrer Familie in Philadelphia.
Weitere Infos & Material
February Waters war neun Jahre alt, als sie sich – mitten im Matheunterricht und vor den Augen der gesamten Klasse – einen Bleistift mit dem Härtegrad 2 ins Ohr rammte. Gerade hatte ihre Lehrerin das Zwölfer-Einmaleins mit Kreide an die Tafel geschrieben und February damit die Gelegenheit gegeben, den Stift zu spitzen, mit diesem knirschenden Geräusch die anderen Kinder aus ihren Tagträumen zu wecken, sodass sie ihr mit den Blicken folgten, als sie von ihrem Platz aufstand und in Richtung Lehrerpult ging. February stieg unbeholfen auf den mit Filz bezogenen Sitz des Drehstuhls, machte einen großen Schritt, um auf den Schreibtisch zu kommen, und stieß den Bleistift tief in ihr linkes Ohr.
Ein Raunen ging durch die Klasse und riss die Lehrerin aus ihrer Versunkenheit an der Tafel. Sie hob February, die überraschend heftig blutete, vom Schreibtisch und trug sie hinaus. Ein dünnes rotes Rinnsal aus Februarys Ohr begleitete sie den gesamten Weg bis zur Krankenstation.
Nachdem die Schulkrankenschwester das Graphit entfernt und verkündet hatte, der Schaden sei nur oberflächlich, stillte sie die Blutung mit etwas Gaze und brachte die Verletzte ins Büro des Direktors, wo die Sekretärin ein Verweisformular für »gewalttätiges und ungebührliches Verhalten« hervorholte. Nachdem es ihnen gelungen war, Februarys Eltern zu kontaktieren, wurde die Schülerin für den Rest der Woche nach Hause geschickt.
Zurück in der 4b feierte die Klasse sie als Heldin, weil February ihnen unter Einsatz von Blut und Schmerzen fünfundzwanzig Minuten unbeaufsichtigte Zeit geschenkt hatte. Die Schule wiederum betrachtete den Vorfall angesichts Februarys »familiärer Verhältnisse« als Hilferuf. Ihrem Vater erklärte February, als er sie abholte, sie hätte nur keine Lust mehr gehabt, irgendwelchen Einmaleinslisten zu lauschen; außerdem summe die kaputte Glühbirne über ihrem Schreibtisch permanent, und das Quietschen der Metallstuhlbeine auf dem Boden sei nervtötend. Er habe ja keine Ahnung, wie das sei, ständig etwas zu müssen, erklärte sie ihm. Und dagegen konnte er kaum etwas sagen.
Der tatsächliche Grund aber war, dass Danny Brown in der Reihe hinter ihr leise gelästert hatte: »Der Februar hat zu viel Haar und isst den gelben Schnee sogar.« Nur Gehörlose würden ihre Tochter February nennen, hatte sie in dem Moment gedacht. Andere Monatsnamen konnte man sich durchaus als Mädchennamen vorstellen – April, May, June –, irgendetwas mussten ihre Eltern damals also falsch verstanden haben. Doch sie hatten den Winter nun mal schon immer gemocht. Sie liebten den stillen Schimmer des Schnees auf den gelben Eichen. Und sie waren es gewohnt, dass ihre Bewunderung ernst genommen wurde. Die Freunde ihrer Eltern hatten keine Probleme mit dem eher ungewöhnlichen Namen, und February hatte es nicht ein einziges Mal erlebt, dass jemand eine sarkastische Bemerkung darüber gemacht hätte. Es war eine Welt, die man nur ungern verließ, erst recht nicht, wenn die Alternative ein Klassenzimmer war.
Tief in dir drin kannst du immer gehörlos sein, hatte ihre Mutter an jenem Abend gesagt, als sie sie ins Bett brachte. Aber das von heute wirst du nicht noch einmal machen.
Natürlich haben sich die Dinge mittlerweile geändert, denkt February jetzt, als sie auf den Schulhof der River Valley School for the Deaf hinausschaut und die Augen vor dem Sonnenlicht zusammenkneift. Das Internet hat den Gehörlosen eine neue Welt eröffnet, ihre Kultur hat sich weiterentwickelt, sodass sie viele Begriffe und Slang aus dem Mainstream übernehmen konnten. Außerdem benennen selbst die Hörenden ihre Kinder mittlerweile nach allen möglichen seltsamen Dingen – Obst und Tieren und sogar den Himmelsrichtungen.
Die Welt der Gehörlosen ist nicht mehr ihr sicherer Hafen, sondern ihr Arbeitsplatz, und momentan steckt sie in großen Schwierigkeiten. Als Direktorin erwartet man von ihr, dass sie alles an der Schule im Griff hat. Stattdessen ist ihr jedoch gerade das Schlimmste widerfahren, was man sich vorstellen kann – zwei Kinder sind ihr abhandengekommen. Zwei Jungs namens Austin Workman und Eliot Quinn, Zimmergenossen, der eine im zweiten Schuljahr, der andere ein Junior.
Vor Clerc Hall hat die Polizei einen mobilen Überwachungswagen geparkt, von dem aus sie Zugriff auf Kameras der Homeland Security in Cincinnati und Columbus haben. Sie versuchen, die Jungs über GPS aufzuspüren, landen aber immer nur im Wohnbereich. Denn dort im Gemeinschaftsraum liegen unter einem Tisch, sorgfältig gestapelt, drei Handys. Das dritte Telefon führt zu einer weiteren Untersuchung der Betten, doch anscheinend sind alle anderen Kids hier. Eliots Mutter und Austins Eltern treffen ein und brüllen wild durcheinander. Schulinspektor Swall kommt, auch er brüllt und bittet February um einen Schlüssel zu ihrem Büro, damit er dort einen Bericht schreiben kann. Jedes Handy im Umkreis wird eine Vermisstenmeldung erhalten. Und February soll in den Morgennachrichten sprechen.
Sie verzieht sich mit gebeugtem Kopf in eine der Schultoiletten im unteren Stock, steckt ihr Haar zurück und trägt vor einem sehr tief hängenden Spiegel Lippenstift auf. Kurz stellt sie sich die Frage, ob das T-Shirt, das sie trägt, nicht zu zerknittert ist, doch dann ist es ihr peinlich, dass sie in einer solchen Situation überhaupt einen Gedanken an ihr Outfit verschwendet.
Sie kehrt auf den Schulhof zurück und bleibt in der Nähe des Polizeiwagens. Man kann jetzt schon sagen, dass es ein ungewohnt warmer Tag in dem Monat werden wird, nach dem sie benannt ist – kein Schnee in Sicht, Sonnenlicht, das auf dem taubedeckten Gras gebrochen wird. Es ist ein hübscher Rasen, sorgfältig getrimmtes Gras, das grün und saftig aussieht, auch wenn es noch gar nicht Frühling ist, eine harte Sorte, die February höchstpersönlich ausgesucht hat, weil sie wusste, dass ihm selbst all die Picknicks und wilden Spiele nichts anhaben können. February hat immer schon ihr Bestes gegeben, wenn es darum ging, das Leben an der Schule so angenehm wie möglich zu machen.
Sie versucht, sich für die Begegnung mit der Presse zu wappnen, überlegt sich, wie sie den Sachverhalt schildern könnte, um die Gemüter zu beruhigen oder wenigstens kein weiteres Öl ins Feuer zu gießen. Die Formulierung »abhandengekommen« ist zum Beispiel falsch, das sollte sie nicht so sagen – denn sie hat die beiden Jungs nicht einfach aus den Augen verloren. Stattdessen sind sie eher abgehauen, auch wenn dadurch der Eindruck entsteht, die Schule sei ein Gefängnis. Die Bezeichnung »Ausreißer« wiederum ist negativ aufgeladen, deutet auf schlechte Behandlung oder Mobbing hin. Irgendwann beschließt sie, das neutralere Wort »vermisst« zu verwenden, zumal in der passiven Formulierung eine mögliche Verantwortung verschleiert wird.
Schulinspektor Swall tritt nach draußen und reicht February das Paper, außerdem zwei zehn mal fünfzehn Zentimeter große Schulfotos von Eliot und Austin sowie einen großen Becher mit Kaffee. Sie schaut sich die Fotos an, während sie am Kaffee nippt – beide Jungs sehen in ihren Button-down-Hemden ordentlich und freundlich aus, auch wenn sie nicht lächeln. Austins Augen zeigen das berühmte Workman-Grün, ein helles, an Pfefferminz erinnerndes Grün. Eliots Augen sind so dunkel, dass sie fast schwarz wirken, und February gibt sich alle Mühe, seinem Blick standzuhalten, statt ihre Augen zu den Narben an seinen Wangen wandern zu lassen. Einen Moment lang ist sie schier überwältigt von dem Gefühl, dass die Jungs zurückstarren, und muss mehrfach blinzeln, um dagegen anzukämpfen. Dann reicht sie Swall ihren Becher und tritt an das provisorisch errichtete Pult.
Als sie auf Sendung sind, hält February zuerst die Fotos in die Höhe und legt sie dann wieder auf das Pult, um während ihrer Ansage auch die Gebärdensprache nutzen zu können – eine kurze physische Beschreibung eines jeden Jungen, gefolgt von dem, was der Schulinspektor zu sagen hat: Die River Valley School for the Deaf arbeite rund um die Uhr mit dem Büro des Sheriffs von Colson County zusammen und tue alles, um die beiden Schüler so schnell wie möglich zurückzubringen. »Wenn Sie einen der beiden sehen, rufen Sie bitte die Nummer an, die unten auf dem Bildschirm eingeblendet ist.« Als sie diesen letzten Satz sagt, vibriert das Handy in ihrer Tasche, und sie lässt sich einen winzigen Moment zu lange ablenken und verstummt. Prompt feuern die Reporter ihre Fragen auf sie ab, zum größten Teil unverständlich bis auf die eine von einem Mann ganz weit vorne, der wissen will: »Haben Sie irgendwelche Bedenken, dass es für die Jungs aufgrund ihres besonderen Handicaps Probleme geben könnte?«
February zuckt zusammen. Großspurig aufzutreten, ist hier nicht angebracht, das weiß sie, doch sie muss eine Antwort geben.
Natürlich sorge sie sich um das Wohlergehen der Schüler, sagt sie. So wie sie sich um jeden vermissten Teenager sorgen würde.
»Aber sie können nicht hören …«
»Die Schüler sind hörenden Jugendlichen in ihrem Alter intellektuell vollkommen ebenbürtig.«
»Sind sie implantiert?«
February ist entsetzt von der Unverfrorenheit, mit der der Reporter sich nach dieser Information erkundigt, versucht aber, es nicht zu zeigen. »Es steht mir nicht zu, die medizinische Vorgeschichte eines Minderjährigen im Fernsehen zu erörtern«, sagt sie.
Der Reporter errötet, ist aber noch nicht bereit, seinen Platz im Rampenlicht abzugeben.
»Gibt es Hinweise auf einen kriminellen Hintergrund?«
Er hält ihr das Mikro vor das Kinn und schenkt ihr einen einfühlsamen Blick, der nicht ehrlich wirkt.
»Wenn Sie mich kurz...