Nowara / Spaniol / Koller | Die Grenze zwischen krank und kriminell | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 134 Seiten

Nowara / Spaniol / Koller Die Grenze zwischen krank und kriminell

Zur Bedeutung der Persönlichkeitsstörungen im Strafverfahren
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-17-039180-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Zur Bedeutung der Persönlichkeitsstörungen im Strafverfahren

E-Book, Deutsch, 134 Seiten

ISBN: 978-3-17-039180-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine hohe Zahl von Straftätern weist eine Persönlichkeitsstörung auf. Gerichte und forensische Sachverständige sehen sich daher häufig mit der Schwierigkeit konfrontiert, die Grenze zwischen einem "normalen" und einem krankhaften, durch die Persönlichkeitsstörung beeinflussten deliktischen Verhalten zu bestimmen. Dieser Band beleuchtet aus psychiatrischer, psychologischer und strafvollstreckungsgerichtlicher Sicht die Diagnose und Behandlung von Persönlichkeitsstörungen im forensischen Bereich sowie ihren Einfluss auf die Schuldfähigkeit und die Gefährlichkeitsprognose.

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3 Die forensisch-psychiatrische Perspektive –
Persönlichkeitsstörungen
Irina Franke und Manuela Dudeck 3.1 Wo beginnt die Krankheit?
3.1.1 Persönlichkeit
Das Bedürfnis, (andere) Menschen nach ihren individuellen Eigenschaften und Verhaltensweisen in bestimmte Gruppen einzuteilen, reicht bis in die Antike zurück. Die Viersäftelehre von Hippokrates ging beispielsweise davon aus, dass die Körpersäfte (Blut, gelbe und rote Galle, schwarze Galle und Schleim) gesundes Verhalten bzw. seelisches und körperliches Leiden bestimmen (Derschka 2013). In Anbetracht der langen Tradition und der Vielzahl von Persönlichkeitstheorien mit mehr oder weniger wissenschaftlicher Basis scheint es sich um ein Thema von anhaltendem wissenschaftlichem (und nicht wissenschaftlichem) Interesse zu handeln. Zentrale Fragestellungen beziehen sich dabei auf die Beschreibung unterschiedlicher Persönlichkeitseigenschaften, aber auch auf deren Messbarkeit und die Abgrenzung von gesunden und krankhaften Eigenschaften. Für die forensische Psychiatrie und Psychologie sind zudem diejenigen Merkmale interessant, die mit wiederholtem delinquentem Verhalten in Verbindung gebracht werden können. Beispiele für entsprechende Persönlichkeits- bzw. Delinquenztheorien sind Pinels »Manie sans délire« (1809), Prichards »Moral insanity« (1835), Esquirols »Monomanien« (1838), die Degenerationslehre (z.?B. Lombroso 1872; Morel 1857) sowie das Psychopathiekonzept (Cleckley 1941; Hare 1980). In der modernen Persönlichkeitspsychologie wird Persönlichkeit als Gesamtheit aller nichtpathologischen Persönlichkeitseigenschaften, nämlich individueller Besonderheiten in der körperlichen Erscheinung und in Regelmäßigkeiten des Verhaltens und Erlebens, in denen sich jemand von Gleichaltrigen derselben Kultur unterscheidet, definiert (Neyer und Asendorpf 2018). Persönlichkeit wird als dimensionales Konstrukt verstanden, in dem funktional ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmale, akzentuierte Züge und krankheitswertige Auffälligkeiten ineinander übergehen. Das Persönlichkeitsmodell mit der gegenwärtig höchsten klinischen Relevanz und der besten Evidenz ist das Fünf-Faktoren-Modell (»Big Five«) von Costa und McCrae (1992), das von fünf zentralen Persönlichkeitsfaktoren (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit) ausgeht, deren unterschiedliche Ausprägung und Zusammenwirken ein individuelles Persönlichkeitsprofil ergeben. Die Stabilität von Persönlichkeitsmerkmalen nimmt mit dem Lebensalter zu und scheint etwa ab dem 30. (Terracciano et al. 2006) bzw. 50. Lebensjahr (Roberts und DelVecchio 2000) ein Plateau zu erreichen. Von anderen Autoren wird jedoch betont, dass Veränderungen der Persönlichkeit unabhängig von bestimmten Lebensphasen möglich sind und eine Funktion der Auseinandersetzung mit kontextuellen Variablen und adaptiven Verhaltensänderungen darstellen (Caspi und Roberts 2001). Persönlichkeit besteht somit einerseits aus individuellen, stabilen Kernmerkmalen, die es bis zu einem gewissen Grad ermöglichen, das Verhalten eines Menschen vorherzusagen, und andererseits aus flexiblen Anteilen, die die Anpassung an neue oder veränderte Situationen ermöglichen. Für die forensische Psychiatrie ist die Erklär- und Vorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens auf der Basis bestimmter Persönlichkeitseigenschaften nicht nur in Zusammenhang mit der Entstehung von Kriminalität (»Delikthypothese«) relevant; sie ist zudem eine Voraussetzung für die Erstellung von Legalprognosen und für die Definition von individuellen Problembereichen, die in einer Therapie adressiert werden sollen. Mit der Beschreibung unterschiedlicher Persönlichkeitsmerkmale ist jedoch noch keine Aussage darüber verbunden, ab welcher Ausprägung oder bei welcher Kombination von Eigenschaften eine behandlungsbedürftige, behandelbare und – gegebenenfalls auch gegen den Willen des Betroffenen – behandlungspflichtige psychische Krankheit vorliegt. 3.1.2 Persönlichkeitsstörungen
Eine der zentralen Aufgaben, aber auch Herausforderungen in der forensischen Psychiatrie ist die Übersetzung von sich wandelnden wissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien über psychiatrische Krankheitsbilder und die damit einhergehenden Einschränkungen psychischer Funktionen für den Rechtsanwender, so dass basierend darauf normative Entscheidungen getroffen werden können. Dabei haben einerseits generelle Entwicklungen in der Psychiatrie Auswirkungen auf die forensisch-psychiatrische Tätigkeit (z.?B. die Diskussion um die Ausweitung des Krankheitsbegriffs im DSM-5), andererseits aber auch Veränderungen der gesetzlichen Grundlagen. Darüber hinaus können sich Strömungen innerhalb des eigenen Fachgebiets auf die Beurteilung auswirken – beispielsweise die Diskussion darüber, ob eine Diagnose Voraussetzung für eine gerichtlich angeordnete Behandlung sein muss, oder ob die Feststellung auffälliger Persönlichkeitseigenschaften hinreichend ist (de Tribolet-Hardy et al. 2015). Auffällige Persönlichkeitseigenschaften können gemäß den aktuellen Diagnosehandbüchern (ICD-10, DSM-5) nur dann als Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden, wenn sie zu subjektivem Leiden oder deutlichen psychosozialen Beeinträchtigungen führen. Dabei zeichnen sich Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung nicht durch grundsätzlich andere Eigenschaften aus, sondern durch unterschiedlich stark eingeschränkte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, die zu Defiziten bei der Bewältigung von Konflikten und Belastungen führen. Krankheit wird also im Spannungsfeld zwischen Subjektivität (Leiden), empirischen Daten (Persönlichkeitsdimensionen) und symptombedingten Funktionseinschränkungen (psychosoziale Beeinträchtigungen) definiert. Dass die psychiatrische Diagnostik im Vergleich zu anderen medizinischen Fachgebieten mit größeren methodischen Schwierigkeiten behaftet ist (Hoff 2005), zeigt sich im Bereich der Persönlichkeitsstörungen in besonderem Maß, weil eine störungsspezifische akute Psychopathologie in der Regel fehlt bzw. sich die Einschränkungen vor allem im Kontext längerer Interaktionen manifestieren. Wenn sich die Definition einer psychischen Krankheit vor allem auf die Bewertung von Verhaltensweisen und weniger auf psychopathologische Symptome stützt, geht damit das Risiko der Pathologisierung und Stigmatisierung von Normabweichungen einher. Damit ist es von gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, den jeweiligen wissenschaftlichen Strömungen und dem damit verbundenen Menschenbild abhängig, ob und welche Persönlichkeitsfaktoren als pathologisch bewertet werden, welche Persönlichkeiten als therapiebedürftig angesehen werden und wann sogar die zwangsweise Anordnung einer Therapie in Betracht gezogen werden kann. Auch die Befunde der neurobiologischen Forschung, die Persönlichkeitsstörungen als Ergebnis neuronaler Reifungsprozesse bzw. -störungen, veränderter Genexpression für bestimmte Neurotransmitter (Serotonin, Dopamin, Noradrenalin) bzw. struktureller Pathologien sieht, die letztlich zu einer Störung der Gehirnfunktion führen (Comings et al. 2000), konnten bisher noch keinen Beitrag zur Verbesserung diagnostischer oder therapeutischer Methoden leisten. Sie haben allerdings zu einer (Wieder-)?Belebung der Diskussion über Determinismus und die Frage der Schuldfähigkeit geführt (siehe z.?B. Boetticher 2009; Dreßing et al. 2007; Roth 2006), insbesondere bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die diagnostische und prognostische Beurteilung von Persönlichkeitsstörungen bzw. deliktrelevanten Persönlichkeitseigenschaften ist mit besonderen methodischen Herausforderungen verbunden. Das liegt einerseits an konzeptuellen Problemen der diagnostischen Kategorie, z.?B. bei der Abgrenzung der Subtypen von Persönlichkeitsstörungen oder in Bezug auf die Unterscheidung von Symptomen einer Persönlichkeitsstörung von denen anderer psychischer Erkrankungen (Livesley 2001). Nicht selten irrt sich der Psychiater über verschiedene Behandlungsdiagnosen und kommt zum Teil erst nach mehreren Jahren erfolgloser Behandlung zur richtigen Diagnose. Es wurde beispielsweise ein Subtyp von schizophrenen Erkrankungen beschrieben (Lau und Kröber 2017), der aufgrund früher Störungen des Sozialverhaltens zunächst als (beginnende) Persönlichkeitsstörung imponieren kann, was unter anderem dazu führt, dass die geeignete Behandlung unterbleibt oder zu spät beginnt. Eine weitere Herausforderung ist die hohe Anzahl von Komorbiditäten bei Persönlichkeitsstörungen, insbesondere wenn akute Störungen eine Beurteilung der Persönlichkeit erschweren. Die grundsätzlichen diagnostischen Schwierigkeiten der Psychiatrie zeigen sich immer wieder auch in prominenten Fällen. So wurden bei Anders Breivik, der 2011 in Norwegen 77 Menschen tötete, von verschiedenen Gutachtern...


Prof. Dr. phil. Sabine Nowara ist Psychologische Psychotherapeutin, Fachpsychologin für Rechtspsychologie BDP/DGPs und lehrt an der Juristischen Fakultät der Universität zu Köln.
Dr. jur. Margret Spaniol ist Richterin am Bundesgerichtshof a. D.

Mit Beiträgen von:
Sabine Nowara, Margret Spaniol, Manuela Dudeck, Irina Franke, Niels Habermann und Jaqueline Kempfer.



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