E-Book, Deutsch, Band 140, 160 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
Oberhollenzer Sültzrather
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-99037-080-3
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 140, 160 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
ISBN: 978-3-99037-080-3
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein großartiger Roman über die Frage, woraus Erinnerung nach dem Verschwinden gemacht ist. Sültzrather handelt von einem Zimmermann aus Aibeln in Südtirol. Nach dem Sturz vom Baugerüst und der folgenden Querschnittslähmung beginnt der Protagonist Vitus Sültzrather zu schreiben. Es ist ein Schreiben gegen das Vergessen: Wie besessen, akribisch genau, vertraut er die Details, die nur er wissen kann, dem Papier an. Doch dann beginnt er das, was er aufgeschrieben hat, wieder zu vernichten, Seite für Seite abkratzend, abschabend, ein Vernichtungsfeldzug, der von seiner Umgebung, seiner Schwester, der Zugehfrau und deren Tochter nicht gestoppt werden kann. Mit hoher Kunstfertigkeit passt Oberhollenzer seinem Protagonisten eine Erinnerung auf den Leib.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Selbstporträtporträts
Versuch einer antwort, mit der geschichte von T. „Rose is a rose is a rose is a rose.“
(Gertrude Stein, Sacred Emily)10 „Das Anschauen ist ein Portraitieren schon.“
(Vitus Sültzrather, Traumschleifer)11 Der fall ist, daß der maler versucht, das bild, das er sich schauend macht, ihm, dem abzubildenden und am ende endlich abgebildeten – dem zum bild des malers gewordenen also; des malers bild als bildnis seiner selbst – auf der leinwand auf den leib zu malen und nun im starren, im unbewegten, im toten als sein bild zu bannen im an diesen aufgespannten ort gebundnen augenblick; der sich aus ungezählten augenblicken des kunstgezähmten anschauns aber, der sich aus einer spanne zeit zusammensetzt und nun: da ist und ohne zeit – und „wie der tote Körper meiner Mutter, der nun da vor mir lag: ein mutterloses Stück“12. Jedoch beseelt sei dieses bild, beherzt und hirngefaltet?, wie dieses mutterstück nicht war, von anfang an; in dem war nicht ein augenblick der zeit, die dieser körper, einmal, in sich trug und der nichts andres mehr nun ist als –? „Als was?, als was?“13 Beseelt sei, sagt er, dieses konterfei, in dem, was der im spiegel sah, verschwunden ist. Ach was!, die seele einverleibt der maler sich, indem er dieses bild im bildnis breit fixiert, in dieser traumgebornen farblandschaft; indem er hier versucht, ein bild zu machen, das mit dem abgebildeten identisch sei, mit dem verschwindenden – und ihn ersetzt? Doch wenn der maler selbst nun sein gemalter ist und so sich doppelt sieht, im spiegel einmal und daneben in dem eignen bild? Wer ist der dritte, der da steht und schaut, sich selber anschaut und – wie jener sagte, der – sich das geschaute einverleibt? Das einverleibte nämlich, im leib verschwinde es, im leib verwandle sich’s; und als ein anderes werde es dann ausgeschieden („Dies fleisch, seht her, und dieses blut!“) und sei doch immer noch, im grund, was es davor gewesen sei, vielleicht ist es die summe des gewesenen; gepreßt, gestanzt, gemalt in jene form, die all das überflüssige, was einem alles einmal war, fast alles, ja, nun auslöscht, ins verschwinden bringt, indem es nichts als bildnis ist, nichts als beseeltes stück porträt, nichts als die wahrheit, freigelegt –: „Der Körper meiner Mutter aber“, schreibt er, „liegt noch da.“14/ Der fall ist, daß der mensch sich seinem hunde anverwandelt (oder der hund dem menschen, ja?) und mensch und hund bald sind wie eines jener seltnen paare, noch glücklich, immer noch, nach einem halbjahrhundert, in welchem sich, in allem, „eine Verwandtschaft eingestellt hat, wie sie zwischen Verwandten noch nie in der Welt gewesen ist“15; noch nie./ Der fall ist auch, daß einer einmal: kunstliebender inhaber eines kleinen computershops, alleinwohnend – „Winter war’s; dezember. Elf jahre ist’s her.“16 – sich seinem porträt anzuverwandeln versuchte17, da es von seinen freunden, ebenfalls kunstliebend allesamt, wie sie bei jeder halbwegs passenden gelegenheit – und halbwegs passende gelegenheiten gebe es in jedem leben mehr, als einem lieb sein könne18 – ins gespräch zu streuen nie müde wurden, nein, als ein geglücktes hervorgehoben worden war, wohingegen man ihn, T., niemals als geglückt bezeichnet hatte, in seinem ganzen, bald schon halbhundertjährigen leben noch nie. Nie, er könne sich nicht erinnern, habe man ihm zu sich selbst gratuliert, seinem porträt jetzt aber jubelte man zu; aber T. wollte, nichts anderes wollte er mehr, daß man ihm zujubelte und nicht seinem porträt; darum versuchte er zu werden wie es. Jedoch sah er im porträt das geglückte nicht, er sah nicht sich im porträt: Er sah sich nicht. Wenn er sein spiegelbild mit seinem abbild verglich, jenem an mehreren winterabenden, an denen durch dieses stundenlange dasitzen in der geforderten eingefrorenen körperhaltung seine schon weggeturnt geglaubten rückenschmerzen allmählich wiedergekehrt, in seinen körper zurück- und also, wie es seine naturgläubige heilpraktikerin ausdrückte, heimgekehrt waren und nun mit einer selbstverständlichkeit seinen rücken verheerten wie einmal der winter bei uns den schnee gebar, vom maler K. mit vielfach sich überlappenden farbschichten überzogenen, 46 × 53 cm großen leinwandstück, sah er in ihnen einen vollkommen anderen; nicht jenen sah er, den er im spiegel sah. Der maler K. aber war ein in der seinerzeitigen kunstlandschaft längst angekommener: Wer ihn und seine bilder nicht als groß empfand oder wenigstens groß darüber redete, verstand von allem malen, verstand von aller kunst nichts, schier gar nichts, nein. Der gehörte nicht dazu; er aber wollte dazugehören, um jeden preis. Im porträt des malers K. allerdings, so schien ihm, kam er nicht vor; da sei alles, was er je gewesen sei, verschwunden: Der maler K. habe ihn vollkommen ausgelöscht und nichts als eine hülle – oder eine oberfläche, vielleicht –, die der seinen vielleicht ähnlich sehe, ausgestellt: ein fälscher, oder genauer: ein kopist, der „eine einzige amorphe Schicht aus buntem Staub“19 herstellte und nicht eine „Landschaft aus geologischen Schichten unterschiedlicher Gestalt und Farbe“20 – eine landschaft also aus fleisch und blut und haut und haar. Ein gänzlich anderer schaute ihn da an; nicht der, den er im spiegel sah: tag für tag für tag. Und der spiegel porträtierte einen anderen; aber auch dieser andere, der immer selbstverständlich er gewesen war, wurde ihm nun, mehr und mehr, fremd. Ein anderer schaute aus dem spiegel in ihn hinein, versuchte nun in ihn einzudringen, versuchte ihn zu erkunden, versuchte wieder dazuzupassen, ineinander, überein, mit aller gewalt; aber er habe standgehalten, aber er habe sich gewehrt./ Der fall ist, daß T., um des glückes leibhaftig zu werden, das seinen freunden in seinem porträt gewärtig war, beschloß, zu seinem porträt zu werden – „und wenn es mich das Leben kostet!“21 Schon war ihm dieser gedanke in sein denken geraten; und noch wußte er nicht, wie groß in diesem gedanken die kommende wahrheit schon stand. Aber er wußte, daß solche gedanken, hatten sie sich in seinem denken erst einmal halbwegs eingenistet, sich in ihm so ausbreiteten wie etwa in seiner kindheit die tinte auf dem löschpapier und bald, riß man sie nicht sofort mit allen wurzeltentakeln aus, drängten sie unaufhaltsam zur verwirklichung. Wie sehr solche gedanken sein denken belagerten bis zur endgültigen eroberung und verdrängung alles anderen, da glich er seinem vater wie in allem sonst auch. All das wußte er – und er ahnte, daß nun, auch diesmal, nichts gutes voranwuchs in ihm: mit der gewohnten absoluten konsequenz, die in ihm wütete, seit er denken konnte; ja, davor hatte er angst: Robespierre war ihm ein ungeheuer und der große Alexander auch. (In den kindern müsse diese absolute verwirklichungssucht, an der die menschheit einmal zugrunde ginge, in den kindern müsse die noch sein. Denn wie die unbedingt gehen wollten, wie die unbedingt reden wollten, und wie die die mütter belagerten, wie die die väter eroberten, wie die die väter und mütter schließlich versklavten, ja! All die großen diktatoren hätten ihre kindheitssucht nie abgelegt, diesen entsetzlichen willen zur welt, und auch die künstler nicht, nein, all die Van Goghs und Schieles und Dürers und Munchs, all die Kleists und Joyces und Flauberts und Benns, all die Mozarts und Beethovens und Tom Waitses und Bachs –: Die selbstwerdungs- oder selbstgebärungssucht habe in denen nie aufgehört – und manchmal, in luziden momenten, oder in seinen träumen, ja, dort auch, da wisse er, er sei wie die: Wenn so ein gedanke in ihm wüchse, dann sei er wie die.) Aber wie sehr T. auch, als ihm die kommende wahrheit immer wieder ins bewußtsein stach, den porträtgedanken, als der ihn allmählich auszufüllen begann, zu verdrängen versuchte mit anderem – etwa damit, daß er exzessiv zu essen begann und sich nach jedem essen auf die waage stellte, damit er schauen, damit er messen konnte, bis aufs deka genau, wie gewichtig sein körper war, wie er sich vermehrt hatte, wie er wuchs –: Vorantrieb, unaufhaltsam, bald wie ein erdapfel und wie ein fluß, der einmal geborne gedanke hin zu seiner ankunft oder verwirklichung: „Ein Stein, der fällt, fällt bis zum Grund/ warum ihn niemand halten kunnt’.“22 Und so arbeitete T. an seinem gesicht – kleidung und haare waren ihm noch ein leichtes gewesen, das ließ sich ja verändern wie ein gemaltes, wie ein porträt – wie ein bildhauer an seinem material: Wie seine großmutter über die hühneraugen mit einem hühneraugenhobel gegangen war – „Schnitt für Schnitt, bis unter die Oberhaut hinab und weit ins Unterhautgewebe hinein“23 –, so ging jetzt er über sein gesicht; mit der selben akribie auf jeden fall: damit die ähnlichkeit wüchse wie sein...