Ocker Dark Smile - Lächle, Mona Lisa
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95818-018-5
Verlag: Ullstein Forever
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 592 Seiten
ISBN: 978-3-95818-018-5
Verlag: Ullstein Forever
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kim Nina Ocker, aufgewachsen im beschaulichen Büren in Nordrhein-Westfalen, zeigte schon früh ein großes Interesse am Schreiben. Ihr erstes literarisches Meisterwerk bestand aus einer beinahe wortgetreuen Abschrift von Magdalen Nabbs 'Zauberpferd', bei der sie lediglich die Protagonistin in 'Kim' umbenannte. Leider war die Welt noch nicht bereit für diese Sternstunde der Kreativität, und so musste der große schriftstellerische Durchbruch noch ein wenig warten. Letztendlich schaffte Cornelia Funke den Durchbruch und holte sie ganz und gar in die Welt der Buchstaben. Heute lebt sie zusammen mit ihrer Familie in Wennigsen.
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Mona, 15. Oktober, 17.20 Uhr
Meine Hand rutschte von dem eiskalten Stahl und ratschte über den rauen Stein. Verdammt! Ich spürte den Schmerz in den Fingerspitzen und wickelte mir meinen viel zu langen Ärmel um die Hand. Mittlerweile waren meine Klamotten bis auf die Haut durchnässt, da würden ein paar Tropfen Blut nichts mehr ausmachen. Außerdem hatte ich nicht vor, meiner Mom heute Abend die Kleider zum Waschen zu bringen.
Ein paar Sekunden hielt ich inne, lehnte meine Stirn an den glatten Stahl und schloss die Augen. Außer dem Tropfen des Regens und dem Rascheln vereinzelter Waldtiere war nichts zu hören. Nicht einmal mein Herzschlag. Auch mein Atem machte kein Geräusch. Es war still und friedlich. Vielleicht die Ruhe vor dem Sturm, mir war das jetzt egal. Ich wäre so ziemlich allem entgegengetreten, wenn ich diese Stille dadurch nur noch länger hätte festhalten können. Doch kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, durchriss ein Hupen die Luft und ich zuckte zusammen. Autos sind meiner Meinung nach mit weniger Feingefühl ausgestattet als Motorsägen. Vorsichtig atmete ich ein, lautlos, dann umklammerten meine Hände erneut die Stange. Ich zog mich eine Stufe höher, immer höher in den Himmel. Nur nicht nach unten sehen, sagte ich mir immerzu, auch wenn mir klar war, dass der laubbedeckte Boden nur knapp zwei Meter unter meinen Füßen lag. Stufe um Stufe kämpfte ich gegen mein Gewissen an, bis ich schließlich schwer atmend den fausthohen Rand umklammerte und mich wieder auf festen Grund zog. Die Kiesel unter mir waren nass, aber das macht nichts, wenn man selbst bereits vom Regen trieft. Die Tropfen platschten mir ins Gesicht und ich kniff die Augen zusammen. Einen Moment gestattete ich mir, einfach auf dem Rücken zu liegen und mir den Schmutz der Stadt vom Gesicht waschen zu lassen. Dann rappelte ich mich wieder auf und betrachtete mein Werk.
Ich saß auf dem höchsten Punkt der Stadt, dem Wasserturm. Im Grunde hatte ich keine Ahnung, welche Funktion dieses Gebäude tatsächlich hatte – im Dorf nannten sie es alle einfach nur den Wasserturm. Unten, am Fuß des Zylinders, gab es eine Tür, die schon seit Jahren verschlossen war. Efeu und andere Kletterpflanzen hatten im Laufe der Zeit ihren Platz beansprucht, so dass sich jetzt ein grünbrauner Pflanzenteppich über den gesamten Fuß des Turmes zog. Es gab keine Fenster und auch keine anderen Türen, nur die silbern glänzende Leiter an der Nordseite. Das Dach war flach. Man konnte darauf sitzen. Vorsichtig kroch ich auf allen Vieren zum Rand, um hinunterzusehen. Ein Teil meiner regennassen schwarzen Haare klebte an meiner Stirn, der Rest hing mir in Strähnen über die Schultern. Wie Finger, die mich nach hinten zogen, um mich aufzuhalten. Aber ich war nicht hier, um zu springen. Nein, ich wollte nicht testen, ob meine Arme zu Flügeln würden, wenn ich sprang. Wahrscheinlich würde Mom genau das denken, wenn sie mich hier oben sehen könnte, und dabei ihre Liste meiner angeblichen psychischen Störungen um ein paar Punkte ergänzen.
Ich seufzte und wischte mir die Haare aus dem Gesicht. Der Boden unter mir war ein einziges matschiges Mischmasch aus Braun und Grün. Es regnete in letzter Zeit einfach zu viel, das Laub hatte gar keine Möglichkeit zu trocknen. Und das konnte man meinen Stiefeln ansehen, wie mir gerade auffiel. Als Jenny und ich sie damals gekauft hatten, waren sie noch schwarz gewesen. Jetzt waren sie braun und rochen nach Dreck.
Jenny! Der Name hallte durch meinen Kopf und meinen leeren Brustkorb wie ein unerwünschtes Echo. Ich konnte es nicht zum Verstummen bringen, egal, ob ich die Augen zusammenkniff, bis mir die Äderchen platzten, oder ob ich so laut ich konnte dagegen anschrie. Das Echo war immer lauter, heller und schneller als ich. Es knallte von innen gegen meine Schädeldecke, machte Kopfschmerzen und griff mit eiskalten Händen um mein Herz, dass mir die Luft wegblieb.
Meine Mom meinte, dass ich Zeit brauche. Dass die Zeit alle Wunden heilt. Doch das stimmte nicht. Es war nur eine neue, beschissene Lüge, die man erzählte, um die heile Welt zu retten, die seit Langem nur noch in den Köpfen meiner Eltern existierte. Vielleicht waren sie tatsächlich der Meinung, alles würde wieder gut, dass wir in einem Märchenbuch lebten und die letzte Seite mit dem Happy End jeden Moment aufgeschlagen werden konnte. Allerdings haben sie nicht gesehen, was ich gesehen habe. Nicht gehört, was ich gehört habe. Nicht verloren, was ich verloren habe. Für sie waren meine Probleme einfach ein unschöner Fleck in ihrem schillernden Leben, der schnellstmöglich entfernt werden musste. Nur ein Schritt und ich wäre weg. Nur noch eine Erinnerung, genau wie das Laub hier, das bald verfault und vergessen sein würde.
Würden meine Eltern überhaupt bemerken, wenn ich verschwinden sollte? Mit Sicherheit. Spätestens wenn sich das Geschirr in der Spüle stapelte. Oder wenn die Schule wieder anfing. Ja, sie würden es mit Sicherheit bemerken. Ich sah jedoch nicht ein, warum ich es ihnen so einfach machen sollte. Ich war ihr Fleck. Also mussten sie sich auch darum kümmern.
Ich seufzte noch einmal, tiefer diesmal, und ließ die eiskalte Luft durch meine Lunge strömen. Es tat gut, die Kälte in meinem Inneren zu spüren. Ein Beweis, dass ich doch nicht komplett hohl war.
Als ich Stunden später wieder Laub unter den Füßen spürte, hatte die Sonne sich so weit verzogen, dass alles um mich herum wie von schwarzer Tinte verschluckt wurde. Ich konnte die Hand vor Augen nicht sehen, aber ich hatte keine Angst mich zu verlaufen. Ich kannte diese Wälder besser als die Straßen der Stadt. Das Schlimmste, was mir passieren konnte, war, dass ich gegen einen Baum rannte. Und das würde ich überleben. Neben mir raschelte es. Im nächsten Moment schoss etwas Kleines vor meinen Füßen über den Trampelpfad. Wahrscheinlich ein Kaninchen oder ein Eichhörnchen. Nur manchmal begegnete mir auch eine Ratte. Noch ein Rascheln. Diesmal war es gleichmäßiger. Knack, knack. Knack, knack. Knack, knack.
Schritte! Das waren eindeutig Schritte! Ich blieb stolpernd stehen und schlug mit den Händen auf meine Jackentaschen, obwohl ich wusste, wo ich mein Pfefferspray hatte: zu Hause in der Nachttischschublade. Mit klopfendem Herzen lauschte ich in die Dunkelheit. Es war nichts mehr zu hören, außer den Geräuschen des Waldes. Verfluchte Scheiße, das hier war mein Wald! Meine Zufluchtsstätte! Ich würde nicht zulassen, dass ein zugedröhnter Junkie mir einredete, dass ich mich hier fürchten musste!
»Hey!«, rief ich zwischen die Bäume. Ich zuckte zusammen, als ich meine eigene Stimme hörte. Sie war brüchig und rau und klang nach brechendem Holz.
»Was auch immer Sie da machen, ich habe keine Angst!«
Okay, das war vielleicht nicht ganz die Wahrheit aber ich würde diesem Jemand mit Sicherheit nicht auf die Nase binden, dass mir das Herz mittlerweile in der Kehle pochte.
»Hallo?«, rief ich noch einmal. Keine Antwort. Vielleicht war der Junkie an seiner Überdosis verreckt? Sollte ich jemanden holen? Die Polizei vielleicht? Ich kramte mein Handy aus meiner Hosentasche und hielt das Display hoch, damit das spärliche Licht den Waldboden erhellte. Nichts. Links von mir waren ein paar Pflanzen zertrampelt, sonst war nichts zu sehen. Also gut, kein Junkie. Gott sei Dank!
Ich konnte mir wirklich Besseres vorstellen, als mir selbst die Cops auf den Hals zu hetzen. Ich lief zögernd weiter und verfluchte mich selbst, weil ich meinen MP3-Player zu Hause gelassen hatte. Wenn ich nichts hören konnte, hätte ich auch keine Angst vor unsichtbaren Schritten haben müssen.
Gerade einmal fünfundzwanzig Schritte schaffte ich, bis ich sie wieder hörte. Knack, knack. Erschrocken wirbelte ich herum, versuchte so viel wie möglich gleichzeitig zu sehen. Langsam wich ich auf dem schmalen Pfad zurück, bis meine Hände feuchte Blätter berührten. Ich ging in die Knie und tastete hinter mir auf dem Waldboden herum. Meine Finger fanden einen dicken Ast und umklammerten ihn. Ich richtete mich wieder auf, meinen improvisierten Knüppel an die Brust gepresst.
»Hallo?«, flüsterte ich. Meine Stimme war nur noch ein Hauch. Die Angst erstickte jeden Ton, bevor ich ihn aussprechen konnte. »Ist da jemand?« Wieder keine Antwort, kein Zeichen, kein Rufen oder neue Schritte. Wäre ich ein etwas fantasievollerer Mensch gewesen, ich hätte begonnen, an Wahnvorstellungen zu denken. Mir entfuhr ein trockenes Lachen, als ich an meine Mom dachte. Ihr würden Wahnvorstellungen gut gefallen. Die waren immerhin besser als akute Suizidgefahr. Oder Essstörungen. Ich hatte in den letzten zwei Jahren so einiges ausprobiert.
Noch immer stand ich wie erstarrt im Wald und umklammerte meinen Stock. Keine Ahnung, was ich damit vorhatte. Würde ich jemandem tatsächlich einen Knüppel überziehen können? Zusehen, wie sich das Blut allmählich in seinem Haar ausbreitet und es dunkelrot einfärbt? Wie sich Augen zuckend schließen und ein Körper nach und nach kapituliert? Wie das Leben aus einem Menschen hinaussickert, wie sein Blut aus der Kopfwunde? Mir wurde schwindelig. Ich klammerte mich an einen Baumstamm, bis die Welt aufhörte, sich nach dem Kommando des Echos zu drehen. Das war doch alles totaler Schwachsinn! Hier war niemand! Und wenn doch, dann war er offensichtlich zu feige, um mich anzugreifen. Oder es war einer dieser Perversen, die sich damit zufrieden gaben, Mädchen aus der Ferne zu beobachten. Damit kam ich schon klar.
Entschlossen warf ich meine großartige Waffe in die Büsche und rannte nach Hause. Ganz kurz dachte ich, einen Laut aus der...




