E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Reihe: Piper Spannungsvoll
O'Connell Ein irischer Todesfall
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-98553-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Reihe: Piper Spannungsvoll
ISBN: 978-3-492-98553-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Flughafen München, an einem Donnerstag 1994
Mein Vater weint. Eben noch haben wir uns fröhlich verabschiedet, und nun steht er vor mir mit feuchten Augen und einem verräterischen Zucken um die Mundwinkel. Mein Papa, der harte Knochen, der sich höchstens mal einen Wutanfall gönnt, aber mit Gefühlen sonst sehr sparsam, fast knauserig umgeht, hat tatsächlich rote Augen. Plötzlich habe auch ich einen Kloß im Hals und versuche krampfhaft, meine Tränen zu bekämpfen. Hinter Papa steht meine Mutter und heult hemmungslos. Ich habe meinen Vater noch nie weinen sehen, und der Anblick ist zu viel für mich. Ich verabschiede mich hastig, nehme meinen Sohn Patrick an der Hand und gehe mit ihm durchs Gate. Am Münchner Flughafen ist viel los, und es dauert eine Weile, bis wir mit unseren ganzen Taschen und Täschchen durch die Sicherheitskontrolle sind. Patrick schleppt seinen roten Kinderrucksack mit seinen Lieblingsspielsachen an und versucht, das schwere Teil auf das Laufband zu legen.
»Sie sind aber fest bepackt, wo soll’s denn hingehen?«, fragt uns der Sicherheitsbeamte und hilft uns, das Handgepäck ordnungsgemäß in die grauen Plastikschalen zu legen.
»Nach Irland«, sage ich und füge hinzu, »wir wandern aus!«
Genau, wir wandern aus, Patrick, mein Mann Seán und ich. Nein, ganz so stimmt das nicht, Patrick und ich wandern aus, Seán kehrt nach Hause zurück. Irland, die grüne Insel am Rande Europas, auf der die Uhren noch anders gehen, wo die Menschen freundlich sind und der Lebensrhythmus gemächlich ist. Céad míle fáilte – die Insel der Thousand Welcomes, eine Insel voll Musik und Tanz, Literatur und Guinness, unendlichen einsamen Stränden und spektakulären Klippen, schlicht – eine Insel für mich.
Allein mit einem Vierjährigen im Wartebereich des Flughafens zu sitzen kann ganz schön anstrengend sein. Wir sind früh dran, die Stuhlreihen an den Gates sind noch nicht alle besetzt, und wir richten uns häuslich ein. Patrick nimmt seinen Batman aus dem Rucksack und lässt ihn über die Stuhllehnen balancieren. Ich bekomme den Spiderman in die Hand gedrückt mit genauen Anweisungen, was er zu tun und zu sagen hat. Die beiden Figuren müssen gegeneinander antreten. Wer kann höher springen, schneller laufen und mehr Feinde besiegen? Natürlich gewinnt Batman jeden der Wettbewerbe. Aus den Augenwinkeln mustere ich meine Mitreisenden. Es ist die übliche Mischung: Iren, die in Deutschland leben und zu Besuch nach Hause fliegen; Deutsche, die ihrer Kleidung nach zu urteilen in Irland Wanderurlaub machen und jede Menge Regen erwarten; ein paar jüngere Leute, dem Aussehen nach Studenten; eine Gruppe Angler aus Niederbayern, die fest entschlossen scheinen, den Iren etwas Trinkkultur beizubringen und vielleicht auch den einen oder anderen dicken Fisch zu fangen; mehrere Iren mittleren Alters, die ich nicht ganz einordnen kann, und ein paar Geschäftsleute, die es sich mit Zeitung und Kaffee gemütlich machen. Ein Paar scheint genau wie wir deutsch/irisch zu sein, denn es unterhält sich zweisprachig mit den beiden Kindern. Die Mutter spricht auf Englisch auf die Kinder ein, der Vater brummt auf Deutsch dazwischen. Beide Kinder antworten nur auf Deutsch. Aha, die Familie lebt also hier. Ich sehe mir die beiden Kinder etwas genauer an. Vielleicht kommen sie ja während der Wartezeit als Spielkameraden für Patrick infrage? Beide ziehen ihre Gameboys aus der Tasche und versinken binnen Sekunden in ihrem jeweiligen Spiel. Na ja, dann eben nicht.
Mir gehen tausend Gedanken durch den Kopf. Jetzt hier am Gate des Flughafens, mit den Boardingcards in der Hand, werde ich zum ersten Mal, seit wir übers Auswandern gesprochen haben, nervös. Der Abschied von meinen Eltern liegt mir schwerer im Magen, als ich mir eingestehen möchte. Was, wenn es mir in Irland doch nicht gefällt? Werde ich meine Familie, meine Freunde zu sehr vermissen? Wir haben alle Brücken hinter uns abgebrochen, die Wohnung aufgegeben, den Job gekündigt. Wer weiß, ob ich so schnell wieder etwas finden würde?
Mein Spiderman wird gerügt, weil er unaufmerksam ist und Batmans Kommandos nicht befolgt hat. Ich reiße mich zusammen und bringe Spiderman zurück ins Spiel. Die beiden haben sich scheinbar versöhnt, weil sie jetzt gemeinsam gegen eine imaginäre Macht kämpfen müssen. Ich gebe mein Bestes, und wir sind gerade dabei, die Welt zu retten, als unser Flug aufgerufen wird. Frauen und Kinder zuerst! Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wir suchen rasch unser Handgepäck zusammen und begeben uns zum Aer-Lingus-Schalter. Eine lange Schlange wartender Passagiere hat sich bereits gebildet, aber wir stolzieren einfach daran vorbei bis ganz nach vorne. Menschen mit Behinderungen und Familien mit Kleinkindern dürfen zuerst einsteigen. Eine alte Dame im Rollstuhl wird von einer adrett gekleideten Aer-Lingus-Mitarbeiterin geschoben. Die gebrechlich wirkende Seniorin bedankt sich überschwänglich, die Aer-Lingus-Mitarbeiterin winkt nett ab, sagt, das sei doch selbstverständlich, und erklärt ihr, dass sich nach der Landung auch wieder jemand um sie kümmern wird. Sie soll nur den Stewardessen an Bord Bescheid geben, dass sie Assistance brauche. Zu uns gesellt sich noch eine allein reisende Mutter mit zwei kleinen Kindern und einem Baby im Tragetuch. Sie wirkt ziemlich gestresst. Die Kinder sind vielleicht drei und vier Jahre alt und sehr lebhaft. Mir wird sofort klar, wem diese schrille, panische Stimme gehört hat, die ich zuvor schon ein paarmal in der Wartehalle vernommen hatte. Während die Mutter nach den Pässen in ihrer Tasche sucht, stiehlt sich das ältere der beiden Kinder davon und inspiziert den Papierkorb.
»Siiina«, kreischt die Mutter aus vollem Hals.
Ich zucke zusammen, als die Schallwelle auf mein Ohr trifft. Das Kind ist keine zwei Meter von ihr entfernt. Patrick und ich tauschen erschrockene Blicke aus. Das Mädchen lässt sich jedoch nicht beirren und stochert weiter im Papierkorb herum.
»Siiina«, kreischt die Mutter erneut in gestochenem Hochdeutsch, »komm sofort zu mir«. Wieder keine Reaktion. »Siiiina, wenn du jetzt nicht kommst, dann fliegt das Flugzeug ohne dich!«
Widerwillig reißt sich das Kind vom Papierkorb los und geht langsam, mit schleppendem Schritt, zur Mutter. Das jüngere Kind hat sich währenddessen der Ticketlesemaschine genähert und untersucht diese ausgiebig.
»Tiiimo«, kreischt die Mutter wieder. »Tiiimo, nimm sofort die Finger von der Maschine«.
Keine Reaktion.
»Tiiimo, du kommst jetzt zu mir, sonst fliegen wir ohne dich!«
Zumindest Drohungen scheinen zu wirken. Die Menschenmenge hinter mir wird allmählich unruhig. Ich nehme Wortfetzen wahr wie, »hoffentlich nicht neben mir«, »so ein Organ« und »die armen Kinder«.
Lieber Gott, bitte mach, dass wir ganz weit weg von denen sitzen!, schicke ich ein stilles Stoßgebet zum Himmel. Mein Blick fällt auf das Baby im Tragetuch, das immer noch selig schlummert, und schließlich auf die Mutter. Sie ist nicht mehr die Jüngste, vermutlich Spätgebärende, sicher schon Anfang Vierzig. Ihre Wickeltasche ist aus feinstem Leder, die Babyschnullerkette von HABA und das Schmusetier von Sigikid. Die Frau spricht in einer Lautstärke mit ihren Kindern, als stünde sie vor Publikum, und wirft nach Aufmerksamkeit heischende Blicke um sich wie ein eitler Pfau.
Endlich geht es los. Ich gebe Patrick seinen Kinderausweis und sein Ticket, damit er es selbst der Dame an der Ticketlesemaschine überreichen kann. Er ist ja schon vier und schon groß und kann das, wie er mir vorher hundert Mal versichert hat. Er macht seine Sache gut, und schnell haben wir die Kontrolle passiert. Hinter mir Gekreische, mich drückt das Gewissen. Vielleicht hätte ich der Mutter von Timo und Sina, die ich insgeheim Frau Pfau nenne, meine Hilfe anbieten sollen? Aber sie wird das schon schaffen, beruhige ich mich. Hauptsache, wir sitzen im Flieger nicht nebeneinander. Die alte Dame wird vor uns im Rollstuhl an Bord geschoben. Es dauert ein kleines bisschen, bis sie ihren Platz in der ersten Reihe eingenommen hat. Ich schau auf unsere Boarding Card, Reihe 6, Platz A und B. Patrick bekommt den Fensterplatz, und ich sitze in der Mitte. Unser Handgepäck ist verstaut, mein Buch und Patricks Malbuch sind in den Taschen vor uns untergebracht, die Wasserflasche steckt auch in Reichweite und den Kaugummi nehme ich gerade in den Mund, als Frau Pfau mit ihren Kindern an Bord kommt. Mit bangem Blick beobachte ich, wie sie der Stewardess ihre Boarding Cards zeigt, worauf diese sie in Reihe Fünf unterbringt. Verdammt!
Wider Erwarten ist der Flug ruhig. Wir haben gelesen, gemalt, Batman und Spiderman ihren ewigen Kampf gegen das Böse aufnehmen lassen und warten nun darauf, etwas zu essen zu bekommen. Die Stewardessen beginnen gerade damit, das Essen zu verteilen. Patrick möchte ein 7up dazu, und ich nehme einen Orangensaft und Kaffee. Das irische Frühstück schmeckt, wie irisches Frühstück im Flugzeug halt so schmeckt, aber wir haben Hunger und essen alles auf. Dann beginnt Patrick, müde zu werden. Ich kann richtig zusehen, wie ihm immer wieder die Augen zufallen und er sie dann mit aller Macht wieder aufreißt. Schließlich gewinnt die Müdigkeit die Oberhand, und er schläft ein. Ich nehme mein Buch zur Hand und nippe an meinem Kaffee. Zum Glück ist er nicht mehr so heiß. Die Stewardessen kommen und räumen ab, als plötzlich aus der Reihe vor uns ein leises Wimmern ertönt. Das Wimmern steigert sich zu einem ausgewachsenen Brüllen. Das Baby ist wach. Und es ist ganz die Mama.
Eine Stunde später landen wir in Dublin. Das Baby hat eine ganze Stunde lang gebrüllt. Die Stimmung an Board ist mörderisch. Ich beneide Patrick, der trotz Geplärr tief und fest geschlafen hat. Mein Schädel brummt, und ich habe...




