Oker | Lass mich leben, Istanbul | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Reihe: Ein Fall für Remzi Ünal

Oker Lass mich leben, Istanbul

Kriminalroman. Ein Fall für Remzi Ünal (5)
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30904-3
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kriminalroman. Ein Fall für Remzi Ünal (5)

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Reihe: Ein Fall für Remzi Ünal

ISBN: 978-3-293-30904-3
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Remzi Ünal, Istanbuls einsamer Privatdetektiv, nikotinsüchtig und Kaffeeliebhaber, hat schon bessere Zeiten gesehen. Da taucht im Café Kaktüs Dr. Kemal Arsan, der smarte Internist einer Privatklinik, auf. Er vermisst seit vier Tagen seine Freundin, eine Krankenschwester derselben Klinik. Remzi übernimmt und scheint in ein Wespennest zu stechen: Ein junger Arzt liegt tot in der Wohnung einer Pflegerin, ein Kleinkrimineller geht mit dem Skalpell auf Remzi los, eine ominöse Klinik behandelt mit zweifelhaften Methoden rätselhafte Fälle. Die Ermittlung läuft aus dem Ruder.

Schöne, kluge Krankenschwestern, lügende Ärzte und eine verwirrte alte Frau halten Remzi im verkehrsverstopften Istanbul auf Trab. Wer gehört hier zu wem, und wer hat was zu verbergen? Remzi Ünal hat als Erster eine Ahnung.

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Mit der U-Bahn war ich schon ewig nicht mehr gefahren. Ob mein Auto noch funktionierte, war mir egal, ich ging ja kaum noch raus. Es stand noch immer, inzwischen wohl mit hochgestellten Scheibenwischern, vor der Wohnung, in der ich nach dem Umzug gerade mal eine Nacht hatte schlafen können. Am Taksim-Platz ging ich in die kurzgeratene Istanbuler U-Bahn hinunter und ließ zwei Jetons aus dem Automaten. Um mich herum alle in hochwichtiger Angelegenheit unterwegs. Am Ende des Laufbands machte ich einen Bogen um einen Geiger. Was er spielte, war beim besten Willen nicht zu erkennen. Das bezeugte auch der leere Geigenkasten vor ihm. Mit gesenktem Kopf überließ ich mich dem Menschenstrom bis in den U-Bahn-Wagen hinein. Obwohl noch Plätze frei waren, blieb ich neben der Tür stehen und setzte die beim Friseur begonnenen Atemübungen fort, zumindest die unauffälligeren. Nicht der ideale Ort, um sich die Lungen mit frischer Luft zu füllen, aber das geschah mir nur recht. Ich war nämlich wütend auf mich. Herumkokettieren, ob ich einen Auftrag annehmen sollte oder nicht, das konnte ich, aber Kemal Arsan zu fragen, ob er von seiner Freundin ein Foto dabeihatte, war mir nicht in den Sinn gekommen. Alt wurde ich. Alt. Oder, schlimmer noch, beim Faulenzen war mein Riecher verkümmert. Falls ich je einen gehabt hatte. Und da war noch was Schlimmeres. Der Mann nämlich suchte seine Freundin, die seit vier Tagen verschwunden war. Ich aber suchte seit Wochen eine andere Frau gerade nicht. Und auch sie, mit der ich schon fast vor dem Standesamt Besiktas gestanden hätte, suchte mich nicht. Und wenn sie mich doch suchte, hätte sie mich dann finden können? Wohl kaum. Leute zu finden, war meine Aufgabe. Von ihr hätte ich nicht mal ein Foto gebraucht. Ihr Aussehen, ihre ganzen Koordinaten hatten sich tief in mich eingegraben. Und ein Foto hatte ich tatsächlich keines von ihr. Ich atmete weiter tief ein und tief aus. So wie früher. Die von Millionen U-Bahn-Gästen infizierte Luft fuhr in die tiefsten Winkel meiner Lunge und strömte wieder hinaus. Istanbul in mich hinein, Istanbul aus mir heraus. Das unter meinen Füßen sich regende Istanbul brachte in den äußersten Verästelungen meiner Gefäße die eingeschlafenen Zellen wieder auf Trab. Die U-Bahn fuhr und hielt. Leute stiegen ein und aus. Ich atmete weiter. Mir gegenüber saß eine junge Frau, Studentin wohl, und sah mich an. Sie hatte Bücher auf dem Schoß, die sie mit den Händen bedeckte, als sollte ich die Titel nicht lesen. Ich lächelte sie an. Sie lächelte nicht zurück. Egal. Ich atmete. Jetzt hasste ich mich schon weniger. Für das, was ich getan, und das, was ich nicht getan hatte. Und für das, was ich noch tun würde. Und das schließlich, was Leute mir antun würden. Belügen und betrügen würden sie mich. Mich anschnauzen. Weinen. Mir einen Kuss auf die Wange drücken. Mein Gott, ich würde vielleicht das ganze Leben eines Menschen verändern! Seis drum. So war ich nun mal. Ein Privatdetektiv, der auf eigene Faust durch die Straßen von Istanbul zog. Mich kümmerten weder Gerechtigkeit noch Strafe. Ich wollte lediglich nichts tun, wofür ich mich später schämen würde. Oder was den Göttern Schande machte, die seit vielen Jahren in den Metropolen der Welt über meine Kollegen schützend ihre Hand hielten. Ich bin Remzi Ünal. Mal wirr im Kopf und mal klar. Mal weiß ich, was ich will, und mal nicht. Bin wieder in Action. Wieder hinter jemand her. Atme wieder. Die U-Bahn-Türen gingen auf und zu. Menschen stiegen ein und aus. Wann kam endlich das verdammte Mecidiyeköy? Als ich in Mecidiyeköy ans Tageslicht kam, rauchte ich erst mal eine. Es ging dort zu wie eh und je. Brav stellte ich mich an die Fußgängerampel, und auf behördliche Erlaubnis hin gingen wir alle gemeinsam los. An einem Kiosk sprach ich den unrasierten Besitzer an. »Könnten Sie mir bitte sagen, wo die Mevlut-Pehlivan-Straße ist?« Als reute ihn schon, mich eines Blickes gewürdigt zu haben, nickte er nur kurz in Richtung Straße. »Zweite links.« Ich beschleunigte das Tempo. Waypoint 1 dachte ich mir. Hier waren schon weniger Leute unterwegs. Und da sah ich auch schon Waypoint 2 und nahm ihn aus fünfzig Metern Entfernung in Augenschein. Das Manhattan Medical war so groß, dass es den Ringer, von dem die Straße ihren Namen hatte, locker geschultert hätte. Aus einem breiten zweistöckigen Gebäude ragte ein etwa siebengeschossiger Turm hervor. Die Erdgeschossfassade war aus weiß der Teufel woher importiertem hellgrünem Marmor. Zur Rechten und zur Linken des Turms war in unschicklich großen Lettern das Emblem des Krankenhauses aus zwei übereinanderstehenden M angebracht. Ich ging auf die automatische Schiebetür zu, auf deren Flügeln natürlich auch jeweils ein riesiges M prangte. Die Tür glitt lautlos auf, und ich sah direkt mir gegenüber den Empfang, an dem vier junge Frauen in hellrosa Einheitskleidung vor ihren Computern saßen. Rechts davon war ein Café, das sich mit einem Starbucks hätte messen können, daneben ein Kiosk, und wer partout kein Geld ausgeben wollte, konnte dahinter Platz nehmen, wo es aussah wie in der Wartehalle eines Flughafens. Linker Hand vier Aufzüge, neben denen aufgeführt stand, wo man sich für welche Krankheit Heilung erhoffen durfte. Ich steuerte den Empfang an und passte dabei höllisch auf, auf dem glatten Marmorboden nicht auszurutschen. Dann setzte ich eine mittelprächtig besorgte Miene auf, und von den beiden Frauen, vor denen gerade niemand wartete, entschied ich mich für die Blonde. Mit einem künstlichen Lächeln versuchte ich, sie auf mich aufmerksam zu machen. Auf der Brusttasche trug sie ein Namensschild: Sultan Karakum. Sie klimperte noch kurz auf der Tastatur, dann wandte sie sich mir zu, nicht weniger künstlich lächelnd als ich. »Herzlich willkommen.« »Na ja, gar so willkommen ist mir die Sache nicht …« Ihr Blick verriet, dass sie gegen jegliche Anmache durch Patienten oder deren Angehörige geschult war. Sie intensivierte ihr Lächeln noch. Innerlich verfluchte sie mich, keine Frage. »Wie kann ich Ihnen helfen?« Ich trommelte mit den Fingern auf den Tisch und sagte: »Ich kenne einen Doktor, der hat gesagt, ich soll mich mal von oben bis unten untersuchen lassen, von wegen Herz und so. Tja, hier bin ich.« »Ein Check-up also.« »Mhm. Wohl nötig bei dem Kilometerstand.« Sultan Karakum griff unter dem Desk zu einem Telefonhörer und drückte ein paar Tasten. Jetzt geht es los, dachte ich. Mit perfektem Dienstlächeln sagte sie: »Ich habe unsere Patientenberaterin gerufen, die kommt gleich und kümmert sich um Sie.« »Vielen Dank«, erwiderte ich, blieb aber am Empfang stehen. »Darf ich Sie mal was ganz anderes fragen?« Sie hob die Augenbrauen, als hätte sie für ganz andere Fragen nicht gerade viel Verständnis. Sie sagte aber nichts und sah mich nur an. »Ist Begüm heute da?«, fragte ich, um einen möglichst beiläufigen Ton bemüht. »Bitte?« Es hörte sich mehr nach Ausrufezeichen an. »Begüm Kalyon. Die arbeitet hier als Krankenschwester.« Sultan Karakum stutzte und sah mich an, als hätte ich nach Dr. House gefragt. »Begüm … Die habe ich heute nicht gesehen. Vielleicht hat sie Urlaub.« »Aha. Na ja, ist nicht wichtig.« Sie schien sich wieder gefasst zu haben. »Was wollten Sie von Begüm? Sie können mir glauben, unsere Patientenberaterin wird all Ihre Fragen umfassend beantworten.« »So war es nicht gemeint. Diese Begüm ist die Tochter von einem Freund von mir, und mir ist eingefallen, dass sie hier arbeitet. Da habe ich mir gedacht, ich frag mal, wenn ich schon hier bin.« »Ja, natürlich. Aber wie gesagt, ist sie wohl in Urlaub.« Sie fixierte auf einmal über meine Schulter hinweg einen Punkt, und ihr Gesicht leuchtete auf, wie vor lauter Freude darüber, dass sie den dämlichen Patientenanwärter gleich los sein würde. »Ayla«, rief sie ihrer Retterin zu, »der Herr interessiert sich für einen Check-up, kannst du dich bitte um ihn kümmern?« Ich drehte mich um. Und wenn ich mich nicht beherrscht hätte, hätte ich losgepfiffen. Vor mir stand nämlich eine der schönsten Frauen der Welt und lächelte mich an, als würde ich sogar mit der allerunheilbarsten aller Krankheiten nach zwei Tagen Aufenthalt hier gesünder entlassen werden, als ich es je gewesen war. Und wenn ich schön sage, meine ich damit nicht die Art hirnlose Illustrierten-Tussi. Sie wirkte einerseits so frisch, als habe sie gerade erst ihre Ausbildung abgeschlossen, und andererseits so reif, als habe sie schon in sechs verschiedenen Notaufnahmen heimliche Tränen vergossen. Am meisten fielen ihre braunen Augen auf. Wenn sie einen ansah, fühlte man sich sogleich durchschaut. Auf die Wangen hatte sie hauchzartes Rouge aufgelegt. Als einzigen winzigen Schönheitsfehler hätte man allerhöchstens bemängeln können, dass über ihren Mona-Lisa-Lippen ein kleiner Leberfleck thronte. Im Gegensatz zu den Frauen am Empfang trug sie ein hellblaues, figurbetontes Kleid. Auf ihrem Namensschild stand Ayla Duman. Sie war es wohl gewohnt, dass männliche Patienten...


Oker, Celil
Celil Oker, geboren 1952 in Kayseri, gestorben 2019, studierte Anglistik in Istanbul. Danach arbeitete er als Journalist, Übersetzer und Leiter einer Werbeagentur. Seit 1998 lehrte er an der Fakultät für Kommunikation an der Istanbuler Bilgi-Universität.

1999 las er in der Zeitung die Ausschreibung für den ersten türkischen Wettbewerb für Kriminalliteratur. Er beschloss, seinen Lebenstraum zu verwirklichen, und schrieb Schnee am Bosporus. Er gewann den ersten Preis und hat seither fünf Bände der Remzi-Ünal-Serie veröffentlicht.

Meier, Gerhard
Gerhard Meier, geboren 1957, studierte Romanistik und Germanistik. Nebenbei erlernte er die türkische Sprache. Seit 1986 lebt er bei Lyon, wo er literarische Werke aus dem Französischen und aus dem Türkischen (Hasan Ali Toptas, Orhan Pamuk, Murat Uyurkulak) überträgt. 2014 wurde er mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet.



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