E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Olsberg Rafael 2.0
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-522-62038-3
Verlag: Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-522-62038-3
Verlag: Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
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Karl Olsberg, geb. 1960, promovierte über Anwendungen künstlicher Intelligenz, war Unternehmensberater, Marketingdirektor eines TV-Senders, Geschäftsführer und erfolgreicher Gründer zweier Unternehmen in der New Economy. Er wurde u.a. mit dem 'eConomy Award' der WirtschaftsWoche ((kursiv)) für das beste Start-up 2000 ausgezeichnet. Vom Autor erschienen bisher: 2057 - Unser Leben in der Zukunft (2007) sowie die Romane Das System (2007), Der Duft (2008) und Schwarzer Regen (2009), alle im Aufbau Verlag, Berlin.
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1. Geheimnisse
Die schwere Eichentür war verschlossen, so wie jeden Tag in den letzten Wochen.
Ich klopfte. »Dad? Dad, mach bitte auf!«
Er hörte mich nicht oder wollte mich nicht hören. Enttäuscht und verletzt ging ich zurück in mein Zimmer.
Ich verstand einfach nicht, warum er mir aus dem Weg ging, sich vor mir einschloss. Wusste er denn nicht, dass ich mindestens genauso traurig war wie er? Rafael war doch schließlich mein Bruder gewesen!
Wir waren eineiige Zwillinge. Das bedeutet, jede einzelne der drei Milliarden Leitersprossen in der Wendeltreppe unserer Gene war identisch. Er sah aus wie ich – dieselben braunen, gewellten Haare, dieselben dunklen, ein bisschen zu großen Augen, dieselbe hellbraune Haut, die wir beide von unserer Mutter geerbt haben. Rafael hatte dieselben Farben gemocht, über dieselben Witze gelacht, Haferschleim und Spinat ebenso sehr gehasst wie ich. Er hatte dieselben Bücher gelesen, dieselbe Musik gehört. Oft hatten wir gar nicht miteinander sprechen müssen, weil wir genau wussten, was der andere gerade dachte. Nur wer selbst einen eineiigen Zwillingsbruder oder eine Zwillingsschwester hat, kann verstehen, was das bedeutet.
Und nun war er tot, genau wie meine Mutter, und mein Vater schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein und redete kaum noch mit mir. Wenn wir uns begegneten, wandte er den Blick ab und presste den Mund zusammen, als habe er ein schlechtes Gewissen. Dabei war er früher ein liebevoller Vater gewesen – viel unterwegs natürlich, aber immer für uns da, wenn er zu Hause war.
Ich saß am Fenster, blickte hinaus über den Park auf den kleinen See, über dem sich die ersten Sterne zeigten, und wusste einfach nicht, was ich tun sollte, um den Schmerz in meinem Inneren zu ertragen. Ich konnte nicht einmal weinen – es schienen keine Tränen mehr übrig zu sein. Ich dachte an die Beerdigung vor zwei Wochen, an die Worte des Pastors, der von Gottes unergründlichen Wegen gesprochen hatte. Wenn Gott mir in diesem Moment erschienen wäre, ich hätte ihm eine reingehauen.
Die Tür öffnete sich hinter mir.
»Michael?« Die Stimme der Hexe war ungewöhnlich sanft.
Nancy Tillerman war unsere Haushälterin, seit meine Mutter vor sieben Jahren gestorben war. Rafael und ich hatten sie immer »die Hexe« genannt, weil sie ein bisschen so aussah wie die aus dem Märchen: dürr, mit einer Hakennase und langen, dünnen Haaren, die sie zu einem Knoten band. Sie hatte zwar keine Warze, aber dafür ein großes Muttermal am Kinn.
»Michael, willst du nicht langsam ins Bett gehen?«
»Ich kann nicht schlafen.«
Die Hexe kam näher und legte eine Hand auf meine Schulter. »Möchtest du eine heiße Schokolade?«
»Nein, danke.«
Eine Weile stand sie schweigend hinter mir. Ich war froh, dass sie da war, auch wenn sie meistens ziemlich streng zu mir war.
»Du bist wütend auf deinen Vater, nicht wahr?«
Ich sagte nichts.
»Ich kann dich verstehen. Ich finde es auch nicht gut, dass er sich immer mehr zurückzieht.«
Jetzt rannen doch noch ein paar Tränen über meine Wangen. »Warum tut er das? Warum redet er nicht mehr mit mir? Glauben Sie … er … er ist böse auf mich?«
»Nein, Michael! Nein, das ist er ganz sicher nicht! Er … er liebt dich mehr als alles auf der Welt!«
Ich fuhr herum. »Er liebt mich?«, stieß ich hervor. »Davon merke ich aber nicht viel!«
»Dein Vater ist eben ein besonderer Mensch«, sagte die Hexe.
Sie hatte recht: Mein Vater war nicht wie andere Väter. Brian Ogilvy, Gründer und Eigentümer der Softwarefirma Ogilvy Systems, Computergenie, einer der zwanzig reichsten Männer der USA. Ein besonderer Mensch, kein Zweifel.
Man könnte meinen, es müsse toll sein, der Sohn eines Milliardärs zu sein. Ein großes Haus, Angestellte, die für einen das Zimmer aufräumen, einem jeden Wunsch erfüllen und so weiter. Aber so ist es nicht.
Mein Bruder und ich sind nie auf eine normale Schule gegangen. Wir haben nicht mit anderen Kindern gespielt, gelacht, uns gestritten. Wenn wir einen Lehrer nicht leiden konnten, dann hatten wir keine zwanzig Verbündeten in der Klasse. Stattdessen wurden wir von Hauslehrern erzogen, die wir den ganzen Tag um uns hatten, die niemanden sonst unterrichteten. Wir konnten keinen Blödsinn machen, wenn sie gerade mal nicht hinguckten, weil sie immer nur auf uns achteten. Vor allem aber hatten wir einen Vater, der panische Angst hatte, dass uns etwa zustoßen könnte – und der uns deshalb in einem riesigen Haus einsperrte, in dem es keine anderen Kinder gab.
Ich hatte immer nur meinen Bruder gehabt. Und nun hatte er mich verlassen.
»Ich will keinen besonderen Menschen«, rief ich. »Ich will einfach nur einen ganz normalen Vater!«
Die Hexe drückte sanft meine Schulter. »Ich rede noch mal mit ihm«, sagte sie und verließ mein Zimmer.
Doch mein Vater kam an diesem Abend nicht zu mir.
Ich lag lange auf meinem Bett und versuchte, einzuschlafen, aber Wut und Verzweiflung hielten mich wach.
Irgendwann hörte ich draußen auf dem Flur Schritte. Ich erkannte meinen Vater am Rhythmus seines Gangs. Er hielt vor meinem Zimmer an. Ich schloss rasch die Augen und stellte mich schlafend. Die Tür öffnete sich mit leisem Knarzen. Nach einem Augenblick schloss sie sich wieder und er ging in sein Schlafzimmer am Ende des Flurs.
In diesem Moment wurde mir etwas klar. Die Hexe hatte recht: Mein Vater war nicht böse auf mich. Er ging mir aus einem anderen Grund aus dem Weg: Er verbarg etwas vor mir. Irgendetwas ging hinter der verschlossenen Tür seines Arbeitszimmers vor, etwas, wovon ich nichts wissen durfte.
Ich hatte keine Ahnung, was das sein konnte. Hatte es mit Rafaels Tod zu tun? Unwahrscheinlich. Es war klar, dass er an derselben Krankheit gestorben war wie meine Mutter: dem Myers-Katzenberg-Syndrom, kurz MKS.
MKS ist eine heimtückische Erbkrankheit. Sie bewirkt, dass das körpereigene Immunsystem, das normalerweise Krankheitserreger bekämpft, die eigenen Organe angreift. Die Wahrscheinlichkeit, an dieser Krankheit zu leiden, beträgt eins zu 1,4 Millionen. Es sei denn, ein Elternteil ist selbst an MKS erkrankt – dann ist die Wahrscheinlichkeit etwa eins zu fünf.
MKS verläuft hundertprozentig tödlich und ist nicht heilbar. Hat der Angriffsprozess des Immunsystems einmal begonnen, kann man ihn nur noch verlangsamen, aber nicht aufhalten. Was genau diesen Angriff auslöst, ist unbekannt. Normalerweise bricht die Krankheit im Kindes- oder Jugendalter aus und die Betroffenen sterben, bevor sie selbst Kinder haben. Deshalb ist sie so selten.
Meine Mutter war eine der wenigen Ausnahmen. Als die Krankheit bei ihr im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert wurde, waren Rafael und ich fünf Jahre alt. Drei Monate später war sie tot.
Rafael und ich waren draußen auf dem zugefrorenen See und schlitterten um die Wette, als wir zum ersten Mal etwas merkten. Wir hatten uns eine glatte Bahn gemacht, nahmen Anlauf und versuchten, so weit wie möglich zu gleiten, egal, ob auf den Füßen, den Knien oder dem Hosenboden. Der Trick beim Weitschlittern ist natürlich der, dass man auf der kurzen Strecke bis zur Absprungsmarke möglichst viel Schwung bekommt. Man muss also mit aller Kraft lossprinten. Da Rafael und ich die gleiche Konstitution hatten und stets gemeinsam Sport trieben, waren wir ziemlich genau gleich gut darin. Doch schon beim dritten oder vierten Versuch schlitterte ich doppelt so weit wie er.
»Was ist los mit dir?«, fragte ich ihn.
Sein Atem bildete dicke weiße Wolken, die stoßweise aus seinem Mund kamen wie bei einer Dampflok in einem Wildwestfilm. »Ich … ich bin … etwas außer Atem«, keuchte er.
Wir sahen uns an und im selben Moment befiel uns beide eine tiefe Beklemmung.
»Meinst du …?«, fragte er.
Ich schüttelte heftig den Kopf. »Quatsch. Du hast wahrscheinlich eine Grippe oder so.« Doch die Lust am Schlittern war mir vergangen.
Wir wurden regelmäßig von Dr. Hasselhoff untersucht. Er war ein Freund meines Vaters, eigentlich kein Arzt, sondern Genetiker, und arbeitete an irgendeinem wissenschaftlichen Institut. Großzügig unterstützt von Spendengeldern der Ogilvy-Stiftung erforschte er die Ursachen des Myers-Katzenberg-Syndroms in der vagen Hoffnung, eines Tages ein Heilmittel dafür entwickeln zu können.
Dr. Hasselhoff und mein Vater hatten immer versucht, uns über die Ursachen des Todes meiner Mutter im Unklaren zu lassen, erst recht über die Gefahr, in der wir selbst schwebten. Sie wollten uns ein unbeschwertes Leben ermöglichen. Aber dafür waren Rafael und ich viel zu neugierig. Kaum hatten wir gelernt, mit dem Internet umzugehen, googelten wir den Begriff MKS und wussten, was los war. Doch wir ließen uns davon den Spaß am Leben nicht verderben. Immerhin betrug die Chance, nicht daran zu erkranken, achtzig Prozent.
An jenem Tag, als ich Rafael im Weitschlittern schlug, betete ich, er möge tatsächlich einfach nur erkältet sein, doch sein blasses Gesicht und sein keuchender Atem ließen mich Schlimmes befürchten. Kurz darauf bestätigte Dr. Hasselhoffs Diagnose meine Ahnung.
Wir wussten beide, dass uns nicht mehr viel Zeit blieb. Bei meiner Mutter war die Krankheit erst spät erkannt worden, sodass sie kaum noch abgebremst werden konnte. Selbst bei einer frühen Diagnose und mit allen medizinischen Tricks würde sich Rafaels Leben nur um ein, höchstens zwei Jahre verlängern lassen.
Wer glaubt, dass die Zeit danach von Trübsal und Angst geprägt war, kannte Rafael nicht. Die Medikamente, die ihm Dr. Hasselhoff gab, vertrieben seine Erschöpfung und er lachte dem Tod buchstäblich ins Gesicht. »Dann sterbe ich eben, na und?«,...