Orths | Picknick im Dunkeln | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Orths Picknick im Dunkeln

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-446-26669-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-446-26669-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Treffen sich Stan Laurel und Thomas von Aquin im Dunkeln ... Markus Orths neuer Roman, eine urkomische und todernste Geschichte
Eine unglaubliche, unerhörte Begegnung, die den Bogen spannt über siebenhundert Jahre Weltgeschichte: Zwei Männer treffen sich in vollkommener Finsternis. Sie wollen ans Licht, unbedingt. Sie tasten sich voran, führen irrwitzige Gespräche und teilen die Erinnerungen an zwei haarsträubend unterschiedliche Leben. Die Männer? Stan Laurel und Thomas von Aquin. Der begnadete Komiker trifft auf den großen Denker des Mittelalters. Warum hier? Warum jetzt? Warum gerade sie beide? Genau dies müssen sie herausfinden, um endlich ans Licht zu gelangen. 'Picknick im Dunkeln' ist eine aufregende philosophische Reise, eine urkomische und todernste Geschichte über die großen Fragen des Lebens.

Markus Orths wurde 1969 geboren und studierte Philosophie, Romanistik und Anglistik in Freiburg. Er lebt als Autor mit Frau und drei Kindern in Karlsruhe. Seine Romane wurden in sechzehn Sprachen übersetzt, der Roman Das Zimmermädchen wurde 2015 für das Kino verfilmt. Er ist außerdem Autor von Hörspielen und Kinderbüchern. Bei Hanser erschienen seine Romane Max (2017), Picknick im Dunkeln (2020) und Mary & Claire (2023).
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1


Diese Dunkelheit, diese alles verschlingende, vollkommene Dunkelheit: Wohin er sich wandte, Stanley sah nichts. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand und wie er hergekommen war, er kniff die Augen zusammen, als wollte er den Blick scharf stellen, aber alles, was er hätte sehen können, blieb bedeckt von äußerster Schwärze, so lichtlos, dicht und undurchdringlich, dass er das Gefühl hatte, er atme sie ein, die Finsternis, sie sickere allmählich von außen nach innen. Stanley streckte die Arme aus und hoffte, gegen etwas zu stoßen, das ihm Halt gab und Richtung wies, aber da war nichts, die Finger ragten wie verzweifelte Fühler ins Leere. Er sank auf die Knie, wischte mit den Händen über den Boden: ein flacher, künstlich wirkender, ebener Untergrund, glatt und kalt wie aus geschwärztem Stahl, Stanley suchte nach Steinchen, Dreck, Flusen oder Staub, aber spürte nur die gespenstische Makellosigkeit dieser wie mit einer Wasserwaage gezogenen, glatt gestrichenen, nackten Ebene. Er stand wieder auf und klopfte seinen Körper ab: Anscheinend trug er einen groben Anzug, vielleicht seinen braunen Filmanzug, dazu Hemd, Weste, Schuhe, Strümpfe sowie eine Fliege und — die Melone. Obwohl sein Filmpartner Oliver Hardy schon vor Jahren gestorben war und Stanley genau wusste, dass Ollie ihm nicht würde antworten können, nie mehr, spürte Stanley ein Bedürfnis, den Namen seines Freundes zu rufen. Er folgte diesem Impuls sofort, rief: »Ollie! Ollie!«, und es klang wie ein Krähen, seltsam dumpf und trocken. Er lauschte seiner eigenen Stimme, in der bizarren Hoffnung, eine Antwort zu erhalten, eine von jenen Antworten, die er so oft gehört hatte in ihren Filmen, sei es ein aufgeregt gezischeltes »Sssst! Sssst!« oder Ollies Lieblingssatz: »In welchen Schlamassel hast du uns jetzt schon wieder gebracht?« Nein, Stanley wusste nicht, in welchem Schlamassel er gerade steckte, doch als seine Stimme unaufgefangen und unbeantwortet zu ihm zurückkehrte, da war ihm klar: Er steckte allein in diesem Schlamassel, menschenseelenallein.

Je länger er weilte, umso schwerer lastete die Dunkelheit, und Stanley ahnte, die Schwärze würde nicht schwinden, wenn er bliebe: Er musste, er wollte fort von hier. Der erste Schritt fühlte sich wackelig an. Stanley ruderte mit den Armen und wankte, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Boden unter den Sohlen. Die Ungewissheit, wohin er seine Füße setzte, schnürte ihm leise den Atem ab. Obwohl Stanley nur äußerst langsam vorankam, schien ihm, sein Denken hinke noch hinterher, er spürte eine seltsame Kissenhaftigkeit hinter der Stirn, ganz so, als läge alles im Kopf unter Daunen begraben: Die Fragen, die ihn bedrängten, konnte er ausblenden, und auch die Idee, sich zur Seite zu wenden, kam ihm erst spät. Ruckartig drehte er sich nach links. Fünf Schritte später berührten seine Finger eine Wand, und die Wand war ebenso glatt wie der Grund unter seinen Füßen. Stanley fuhr eine Weile mit den Händen die Wand entlang, zu den Seiten, nach unten, nach oben: Sie wölbte sich leicht über seinem Kopf. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte aber an keine Decke reichen. Auch nicht, als er mit ausgestreckten Armen hochsprang.

»Hallo?«, rief er jetzt und trommelte mit den Fäusten gegen die Wand, zuerst sacht, dann immer stärker, doch die Schläge waren kaum zu hören.

»Ist da jemand?«

Keine Antwort.

Stanley legte sein Ohr an die Wand: nichts. Nicht das Geringste. Er durchsuchte seinen Anzug, fand aber nur ein Einstecktüchlein in der äußeren und einen Kugelschreiber in der inneren Herztasche. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt dachte Stanley eine ganze Weile nach, ehe er Luft holte und sich langsam von der Wand weg nach vorne tastete. Nach einigen Schritten stießen seine Hände an eine zweite Wand. Er nahm die Melone ab und kratzte seine Kopfhaut. Ein Tunnel also. Vielleicht vier oder fünf Meter breit. Ein flacher Boden. Wahrscheinlich eine Decke über ihm. Er befand sich allem Anschein nach in einer halben, durchgeschnittenen Röhre, und immer noch lag alles wie ersoffen im Finstern, nicht das mindeste Fitzelchen Licht.

Stanley setzte die Melone wieder auf, nestelte an seiner Fliege, zog die Augenbrauen hoch, grinste und breitete die Arme aus in vollkommener Hilf- und Ratlosigkeit, er imitierte die Mimik und Gestik seiner Filmfigur, die er Stan nannte: Ich weiß gar nichts, ich habe nicht den blassesten Schimmer, was hier geschieht, weder in der Lage, in der ich mich gerade befinde, noch im Leben allgemein, aber es ist auch nicht weiter schlimm, denn jede Ungewissheit besänftigt mich immer auch ein wenig.

Er wunderte sich, dass seine Angst nicht größer war: Doch ähnlich wie das Denken schien auch das Fühlen gedämpft, ein Echo, Schatten, Nachgeschmack und nicht mehr die Empfindung selbst in ihrer ganzen Wucht und Wucherung. Eins aber ist sicher, dachte er. Wenn ich weitergehe, muss ich ans Licht gelangen! Wenn ich vorwärtsstrebe, wird sich alles aufklären, früher oder später. Etwas anderes ist undenkbar. Kurz überlegte er, welche Richtung er einschlagen sollte, kniff die Augen zusammen, drehte sich vor und zurück, konnte keinen Unterschied ausmachen, zuckte mit den Schultern, legte die Handfläche an die Wand rechts neben ihm und ging einfach los.

Woher kamen jetzt all diese Erinnerungen? Jäh, ruckartig, ohne Vorwarnung. Innere, silberne Feuerwerke. Stanley atmete sofort auf: Denn die Erinnerungen verschafften ihm Erleichterung, ja, er klammerte sich jetzt regelrecht an diese Erinnerungen, an das samtene Gefühl der Vertrautheit, des Nach-Hause-Kommens, er ließ sich mitreißen von dem, was an seinem inneren Auge vorüberglitt, Bilder, Erlebnisse, Orte, Gedanken und Stimmungen aus fern verwehten Zeiten. Seine lebenslange Leidenschaft, das Grimassenschneiden; dieses tägliche, unermüdliche Üben vor dem Spiegel, aus dem einen und einzigen Grund: die Menschen zum Lachen zu bringen; sein Vorbild Charles Chaplin und dessen liebevoller Tramp, der durch eine aus den Fugen geratene Welt spaziert, aberwitzige Dinge erlebt, die Absurdität des Lebens entlarvt und ihr nichts anderes entgegensetzt als pure Güte. Und wie Stanley als junger Mann Chaplin imitierte, durch England und Amerika tingelte, das Lachen der Menschen erntete, indem er jemanden spielte, der ein anderer war als er selbst, und wie Stanley nach und nach den Chaplin-Kokon abstreifte, endlich selbst vor der Kamera stand, nach einem eigenen Ausdruck suchte, etwas, das ihn unverwechselbar und dadurch ebenso unsterblich machen würde wie Chaplin. Zu gern wäre auch Stanley ein Clown gewesen, über den die Leute schmunzeln, wenn sie ihn nur sehen; zu gern hätte auch Stanley ein Lachen in die Welt gezaubert, das die Menschen aus dem Einerlei ihres Daseins schraubt wie eine Drehung beim Tanz, damit sie, wenn auch nur kurz, die giftigen Splitter vergessen, die im Leben stecken. Aber Stanley fand sie nicht, die Unverwechselbarkeit. Die Figuren, die er spielte, waren zu unterschiedlich. Stanley blieb nicht haften im Gedächtnis der Zuschauer. Sein Gesicht verflüchtigte sich mit dem Abspann wie ein fremder, schwer zu fassender Duft.

Der Misserfolg als Mime setzte ihm zu, das Erschrecken über seine Unfähigkeit mündete ins Ende der Schauspielerei, begleitet von einem schalen Witz des Schwarzweißfilm-Produzenten Hal Roach: »Ihre Augen, Mister Laurel, sind zu blau, als dass man sie filmen könnte.« Und Stanley flüchtete sich in die Arbeit hinter der Kamera. Als Schreiber. Als Witze-Erfinder. War dieses Talent nicht sogar größer? Das Ausdenken lustiger Szenen, sein Gefühl fürs Timing, fürs Zünden von Gags, für allerhand Orte, an denen Menschen im Speedraffer zusammenkrachen können in Tortenschlachten und Tit-for-tat-Orgien, ja, dies bot einen Ausweg: die ordnende Arbeit als Gag-Schreiber und Regisseur.

Und Stanley wäre wohl für alle Zeiten als Hintergrundname in den Abspannen seiner Filmchen versunken, wenn nicht etwas Unerhörtes geschehen wäre. Sein Freund Oliver Hardy hatte so oft davon erzählt, dass es Stanley lebhaft vor Augen stand und längst zu seiner eigenen Erinnerung geworden war: Oliver Hardys Ehefrau kletterte ausgerechnet durch den Laurel Canyon in den Bergen Santa Monicas, sie sah plötzlich eine Klapperschlange, floh Hals über Kopf und stürzte einige Male auf dem steilen Weg, riss sich die Bänder ihres rechten Beins, wodurch sie für einige Zeit ans Bett und an Krücken gefesselt war, was dazu führte, dass Oliver Hardy die Arbeiten im Haushalt übernehmen musste und eines Abends eine Lammkeule briet, die knusprige Keule aus der Röhre holte und dabei ausrutschte, in grotesker Vorwegnahme späterer Slapstick-Auftritte, und das heiß knisternde Öl verbrühte seine durch die Topflappen ungeschützten Daumen, denn das Öl war...


Orths, Markus
Markus Orths wurde 1969 geboren und studierte Philosophie, Romanistik und Anglistik in Freiburg. Er lebt als Autor mit Frau und drei Kindern in Karlsruhe. Seine Romane wurden in sechzehn Sprachen übersetzt, der Roman Das Zimmermädchen wurde 2015 für das Kino verfilmt. Er ist außerdem Autor von Hörspielen und Kinderbüchern. Bei Hanser erschienen seine Romane Max (2017) und Picknick im Dunkeln (2020).



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