Ossowski | Der Löwe im Zinnparadies | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 104 Seiten

Ossowski Der Löwe im Zinnparadies

Eine Wiederbegegnung
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-97265-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Wiederbegegnung

E-Book, Deutsch, 104 Seiten

ISBN: 978-3-492-97265-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als Maria zum ersten Mal nach vierzig Jahren das ehemals deutsche Schloss ihrer Kindheit besucht, stößt sie bei den heutigen polnischen Bewohnern nicht gerade auf Entgegenkommen. Doch der kleine Janusz schenkt ihr etwas sehr Kostbares, einen Löwen aus der Zinnfigurensammlung, die damals bei der Flucht, versteckt in einer Schachtel unter den Dachschindeln, zurückblieb. Fünfzehn Jahre später reist sie noch einmal zum Schloss ihrer Kindheit, im Gepäck den Löwen, der ihr ständiger Begleiter geworden ist. Sie begegnet nicht nur den vertrauten Menschen von damals, sondern auch der kleinen Tochter von Janusz, die den restlichen Schatz aus Marias Kindheit hütet, das Zinnparadies ... Eine liebenswürdige, versöhnliche Geschichte über die Wiederbegegnung mit dem Schloss der eigenen Kindheit in Schlesien und den heutigen polnischen Bewohnern.

Leonie Ossowski, geboren 1925 in Niederschlesien, war Autorin zahlreicher Erfolgsromane und Drehbücher.  In all ihren Romanen machte sie auf soziale und gesellschaftliche Themen in Vergangenheit und Gegenwart aufmerksam. Ausgezeichnet unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis in Silber, dem Schillerpreis der Stadt Mannheim und mit der Hermann-Kesten-Medaille des PEN-Zentrums, hat sie sich in ihren Romanen als 'Dichterin der Menschlichkeit' einen Namen gemacht. Seit 1980 lebte Leonie Ossowski in Berlin, wo sie am 4. Februar 2019 verstarb.
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Der Löwe


Seit Maries Besuch in Polen waren fünfzehn Jahre vergangen, und noch immer saß die Babka im Schloss an ihrem Fenster und starrte hinaus. Zwar wusste jedermann, dass sie kaum weiter als drei Meter sehen konnte, aber das gab sie nicht zu. Seit eh und je sagten die einen im Dorf, sie lauere wie ein Hofhund auf Fremde, während die anderen behaupteten, es sei nur der Hass auf die Deutschen, der sie noch am Leben halte, und wieder andere meinten, sie sei ganz einfach verrückt. Das eine stimmte so wenig wie das andere.

Die Babka saß zwar am Fenster und starrte hinaus, aber sie lauerte niemandem mehr auf, auch war es nicht der Hass, der sie am Leben hielt, und am allerwenigsten war sie verrückt. Nur das Reden hatte sie aufgegeben. Das war ganz allmählich vonstattengegangen. Erst hatte sie das Fragen eingestellt und Monate später das Antworten verweigert. Schließlich erwiderte sie auch keinen Gruß mehr, wackelte höchstens mit dem Kopf oder ließ, ähnlich einem Huhn, ihre hauchdünnen und mittlerweile wimpernlosen Lider über die Augäpfel klappen, die milchglasig und bewegungslos in den Höhlen hingen, als blickten sie mehr nach innen als nach außen.

Und so war es auch. Die Babka lebte nur noch in der Erinnerung. Eine Erinnerung, die niemand mehr kannte, denn alle, die sie mit ihr hätten teilen können, waren inzwischen gestorben. Und was für sie noch schlimmer war: Es schien sich niemand mehr dafür zu interessieren. Der Sohn, mittlerweile schon in Rente, hatte seine eigenen Erinnerungen. Und für Janusz, den Enkel, inzwischen Lehrer, verheiratet und Vater einer kleinen Tochter, zählten die Erinnerungen der Babka zu den Kindheitsgeschichten, die mit der Zeit an Realität verloren hatten.

Also hatte es sich die Babka angewöhnt, den Mund zu halten. Tatsache war, dass sie kaum noch etwas sah. Schon gar nicht die Wipfel der Platanen und Kastanien, die das Schloss umringten und keinen Blick zur Straße hin zuließen. Auch die sich ständig vermehrenden Ringeltauben waren für die Babka nur noch zu hören. Und selbst von der neunjährigen Urenkelin Danka erkannte sie gerade mal die Umrisse und das flachsblonde Haar. Alles andere, sogar die Länge der Zöpfe, musste die Babka ertasten, was Danka unheimlich war und sie deshalb stets Abstand von der Urgroßmutter halten ließ.

Das alles störte die alte Frau nicht mehr. Seit über fünfzig Jahren kannte sie den Ausblick aus ihrem Fenster, kannte das Grün der Bäume, das Perlgrau der Tauben, die Kurve der Einfahrt zum Schloss, die weißen und blauen Krokusse auf dem Stück Rasen im Frühling, den Löwenzahn im Sommer und den Schnee im Winter. Sie kannte die Länge und die Breite der Felder, die eben, wie plattgewalzt, bis zum vier Kilometer weit entfernten Wald reichten, der lückenlos den Horizont abdeckte. Mit den Jahren hatte sie lange genug die Aussicht studiert, brauchte sie nicht mehr anzuschauen und wandte sich lieber dem zu, was nicht mehr zu betrachten war, der Vergangenheit.

Noch bevor sie mit den Eltern im Jahre 1940 von den Deutschen vom Hof gejagt worden war, stieß sie eines Sonntags beim Pilzesuchen im Polnischen auf Martin Gutschke. Sie kannten sich von Hochzeiten, Beerdigungen und Erntefesten her. Ihre Eltern waren als Kinder Nachbarn gewesen, und es hieß, Martin und die Babka, deren Taufname Jadwiga war, hätten sogar eine gemeinsame Tante. Von Feier zu Feier waren sie sich nähergekommen, und kurz vor Ausbruch des Krieges hatten sie sich bei besagtem Pilzesuchen versprochen.

Es war die Zeit der Pfifferlinge, Stockschwämmchen, Semmel- und Schirmpilze. Man musste sich auskennen. Als Jadwiga unverhofft Martin auf einem der Waldwege begegnete, stieg ihr vor Freude die Röte vom Hals bis unter die Haarwurzeln. In ihrer beider Verlegenheit, sich so unerwartet zu sehen, wussten sie nicht, was sie sagen sollten, zeigten sich dafür aber stumm, was sie bisher an Pilzen in ihren Körben hatten. Und weil Jadwiga nicht aufhörte, über den Steinpilz zu staunen, der vor der Zeit zu einer verblüffenden Größe herangewachsen war, schenkte Martin ihn ihr. Auf dem kräftigen Stil saß der handtellergroße Hut, überzogen mit einer zartbraunen seidigen Haut, der ein wunderbarer Duft entstieg.

Jetzt, in der Erinnerung, wuchs der Hut, unter dem Martin Jadwiga küsste und sie sich das Ja-Wort gaben, zu unnatürlicher Größe an.

Danka, die Urenkelin, die im gehörigen Abstand von der Urgroßmutter am Tisch saß und, statt ihre Hausaufgaben zu machen, die Urgroßmutter betrachtete, sah plötzlich ein ganz und gar fremdes Lächeln über deren Gesicht ziehen. Und weil sie den Vater die Treppe heraufkommen hörte, lief sie ihm entgegen und erzählte erregt, dass die Großmutter am Fenster sitze und nur noch lächelte.

»Schön wär’s«, sagte Janusz, der Vater, der seiner Tochter nicht glaubte. Als er das Zimmer betrat, war das Lächeln aus dem Gesicht der Babka verschwunden, war sie längst in ihrer Erinnerung weitergezogen, war jetzt bei der Vertreibung von Haus und Hof, bei Prügel, Mord und Totschlag, den Tränen der Mutter, dem letzten Blick auf den elterlichen Hof, in dessen Ställen die ungemolkenen Kühe brüllten. Die Hühner und Enten hatte Jadwiga noch hinausgelassen, auch den Hund von der Kette gelöst.

Das nächste Bild, das aus der Erinnerung schlüpfte, war der Transport. Dicht an dicht standen sie auf dem Hänger eines Traktors, jeder mit seinem Bündel zwischen den Beinen. Zum Sitzen war kein Platz, und in den Kurven mussten sie sich aneinander festhalten, um nicht über die Pritschenwand zu stürzen. Da sie die Gegend kannten, wussten sie, dass sie nach Westen fuhren. Und dann das Ortsschild. Jadwiga glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Glück im Unglück.

Der Traktor hielt auf dem Gutshof, in dessen Schloss die Babka heute aus dem Fenster starrte und in dem Martin Gutschke, dem wegen einer Lungenschwäche die Front vorerst erspart geblieben war, damals als Gespannführer arbeitete. Eltern und Tochter wurde im Vorwerk eine Kammer zugewiesen. Die Küche mussten sie sich mit anderen teilen, und noch am selben Tag begann die Feldarbeit.

Die Babka hielt den Atem an. An dieser Stelle hätte sie gern ihre Erinnerung beendet und alles, was folgte, für immer ausgelöscht. Aber das ging nicht. Die Zeit hatte kein Gras darüber wachsen lassen. Jedes Wort, jede Geste hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Auch die abendlichen Sonnenstrahlen, die durch das Stallfenster auf Martins Gesicht gefallen waren, hatte sie so deutlich vor Augen, als wäre alles erst gestern geschehen.

Als er auch nach Tagen keine Anstalten machte, sie aufzusuchen, um sie zu begrüßen, hatte sie sich nach Feierabend in den Stall der Ackerpferde geschlichen. Den verließ Martin, pflichtbewusst, wie er war, stets als Letzter. Barfuß war sie hineingeschlichen, hatte sich vorher vergewissert, dass er mit den Pferden allein war, um ihn mit ihrer Umarmung zu überraschen. Dabei war ihr kein anderes Wort als sein Name eingefallen.

»Martin«, flüsterte sie mehrmals hintereinander, »Martin.«

Dabei hielt sie ihm ihr Gesicht hin, um geküsst zu werden. Aber Martin küsste sie nicht, sondern schob sie, wenn auch vorsichtig, mit ausgestreckten Armen von sich weg, ganz so, als müsse er sie sich vom Leibe halten.

»Du bist wohl verrückt«, sagte er, und die Abendsonne rötete sein Gesicht auf unnatürliche Weise, »wenn uns einer sieht.«

»Ist aber keiner da.«

»Könnte aber einer kommen.«

Er stieß sie, noch immer mit ausgestreckten Armen, langsam rückwärts hinter die für die Pferde aufgestapelten Strohballen und ließ Jadwiga keinen Zentimeter näher an sich heran.

»Wir mussten von zu Hause weg«, sagte sie, »die Deutschen haben uns weggejagt und alles genommen.«

»Ich weiß«, antwortete Martin und hielt Jadwiga, ohne sie anzusehen, weiterhin auf Abstand.

»Aber wenigstens kann ich bei dir sein.«

Ihre Worte waren kaum zu verstehen, was Martin Gutschke nur recht zu sein schien, denn er ging nicht darauf ein. Stattdessen biss er auf seiner Unterlippe herum, verzog sein Gesicht und fuhrwerkte mit der Zunge im Mund herum.

»Ich muss dir was sagen«, brachte er schließlich mühsam heraus, »mit uns beiden, das geht nicht mehr. Da gibt’s nämlich jetzt ein Gesetz.«

»Was für ein Gesetz?«

»Deutsche dürfen Polen nicht heiraten. Es ist auch verboten, dass wir miteinander gehen.«

Endlich ließ er sie los. Es war auch nicht mehr nötig, dass er sie sich vom Hals hielt. Sie rutschte rücklings ins Stroh, wo sie still sitzen blieb und nicht einmal weinte. Froh, dass sie kein Theater machte, murmelte er noch etwas davon, dass es ihm leid täte, aber nicht zu ändern...


Ossowski, Leonie
Leonie Ossowski, geboren 1925 in Niederschlesien, war Autorin zahlreicher Erfolgsromane und Drehbücher. In all ihren Romanen machte sie auf soziale und gesellschaftliche Themen in Vergangenheit und Gegenwart aufmerksam.Ausgezeichnet unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis in Silber, dem Schillerpreis der Stadt Mannheim und mit der Hermann-Kesten-Medaille des PEN-Zentrums, hat sie sich in ihren Romanen als »Dichterin der Menschlichkeit« einen Namen gemacht. Seit 1980 lebte Leonie Ossowski in Berlin, wo sie am 4. Februar 2019 verstarb.



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