Ott Die Auferstehung.
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25007-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-446-25007-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Karl-Heinz Ott, 1957 in Ehingen an der Donau geboren, wurde für sein Werk mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises (1999), dem Alemannischen Literaturpreis (2005), dem Preis der LiteraTour Nord (2006), dem Johann-Peter-Hebel-Preis (2012), dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2014) und dem Joseph-Breitbach-Preis (2021). Zuletzt erschienen bei Hanser »Die Auferstehung« (Roman, 2015), »Und jeden Morgen das Meer« (Roman, 2018) sowie »Hölderlins Geister« (2019).
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Komm heim, so schnell es geht, Papa ist tot, hatte Linda frühmorgens, kaum dass es Tag war, ins Telefon gehechelt und am Ende des knappen Gesprächs gestöhnt: Gottlob!
Was soll das heißen, dachte Jakob, obwohl doch klar war, was sie meinte. Seit gestern ist er also tot, vielleicht seit vorgestern schon, sie wissen es nicht. Erfahren darf es vorerst nur ein Einziger, das Schwein, Lindas schlimmster Feind, der plötzlich wieder gebraucht wird, und zwar augenblicklich. Ausgerechnet bei ihm hatte Vater sein Testament hinterlegt, bei diesem lumpigsten aller Lumpenhunde.
Und jetzt sitzen sie stumm um ihn herum, um eine Couch, die er sich erst kürzlich angeschafft haben muss und die mitten im Wohnzimmer steht, eine Couch ohne Lehne, in knalligem Rot, so breit, dass leicht zwei darauf Platz haben könnten.
Die Todesursache? Linda weiß es nicht. Die Totenglocken haben noch nicht geläutet, hatte sie am Telefon seltsam gestelzt formuliert, so gestelzt, wie man es sonst von ihr gar nicht kennt. Vielleicht sollte es locker klingen oder ironisch. Längst müsste man einen Arzt gerufen haben, schließlich wird sich nach drei, vier Tagen nur noch schwer behaupten lassen, er sei eben erst gestorben, nachdem die Nachbarn mit Sicherheit längst bemerkt haben, dass der ganze Stall auf einmal wieder da ist, wie seit Jahren nicht mehr, selbst einem Blinden kann das nicht entgehen. Ganz zu schweigen von Jakobs kindlicher Angst, es könnten sich bald schon Verwesungsgerüche verbreiten. Trotzdem will Linda erst einen Arzt holen, wenn alles geregelt ist. Darauf besteht sie, bei allen Bedenken, die ihre Brüder vorbringen. Anders lässt sich nichts mehr retten, hatte sie den dreien heute morgen am Telefon einzubläuen versucht und alle auf der Stelle nach Hause beordert, ohne jede Verzögerung, auch nicht um ein paar Stunden oder gar einen ganzen Tag.
Jakob war dennoch nicht sofort aufgebrochen, allein aus Trotz gegen ihren Ton und auch, um einen Zustand auszukosten, den es für ihn bislang nur einmal gegeben hatte, damals als Mutter starb, nur dass diesmal alles anders war, vollkommen anders. Er wollte das leichte Schweben von damals wieder erleben, dieses keineswegs unangenehme Bodenlosigkeitsgefühl, bei dem alles in einen Taumel zu geraten scheint, selbst die Welt draußen, der Himmel, die Häuser, das Leben überhaupt, als sei alles ferner gerückt, ungreifbar geworden und zugleich wie durchflutet von einem Licht, das aus dem All hereinzuschimmern scheint und von dem nie zuvor etwas zu erahnen war, eine schwirrende Wirklichkeit, die so unverhofft, wie man sie wahrzunehmen meint, auch wieder verschwindet.
Die Totenglocken haben noch nicht geläutet! Er hätte morgen drehen sollen, in fünf oder sechs Stunden wäre alles im Kasten gewesen: das Abseits und die Stille, ein Häuflein Ruinen, von Efeu umflort, das Kloster Port Royal in den Feldern, ein Katzensprung entfernt vom Pariser Gewimmel, im ländlichen Frieden bei Versailles um die Ecke, wo man auf Gottessucherspuren wandelt und Geistern hinterherhorcht, die ihr Leben lang vor allem eines gequält hat: die Frage, was danach kommt, nach dem Tod. Es hätte sein schönster Film werden können.
Wenn einer tot ist, kann er ruhig warten, es schmerzt ihn nicht, dachte Jakob und blieb noch ein paar Stunden, wie einer, der sich selbst zuschaut und denkt: Ich bin es, bin es nicht! Als sähe er sich von außen, wie einen andern, der im Café sitzt und durch die Straßen zieht. Gott könne alles sehen, hatte der Pfarrer ihnen als Kinder eingetrichtert, selbst die Gedanken. Auch die Toten könnten alles sehen, hatte er behauptet. Als Kinder hatten sie das alles geglaubt, und vielleicht, wer weiß, verhält es sich tatsächlich so. Vielleicht sieht Papa mich Kaffee trinken, stellte er sich vor, mit einer Zeitung in der Hand, als beginne dieser Tag wie jeder andere auch. Nur wird Vater sich, falls er ihn von dort oben sieht, fragen, warum es seinen Sohn in diesem Augenblick nicht sofort nach Hause drängt und er ihn selbst im Tod noch warten lässt.
Jakob nahm nicht den erstbesten Zug und auch nicht den nächsten. Er legte sich noch einmal hin, als könnten im Liegen Gedanken vorbeiziehen, die nicht geschaffen sind fürs Stehen und Gehen. Er wollte auf eine wohlige Trauer warten und auf Bilder, die zu ihr passten, ein bisschen Wehmut spüren, sich nach der Kindheit sehnen und etwas Sanftes empfinden, auch einen Schmerz, einen großen sogar, nur wollten sich ihm zu Papa kaum Gedanken einstellen und noch weniger klare Gefühle. Er lag nur da und dachte: Du bist in Paris, du bist zu beneiden! Ein bisschen Selbstmitleid kam in ihm auf, ein nebliges Verlustgefühl, das sich beinahe genießen ließ. Dabei hätte alles so einfach sein können: nach der Todesnachricht ein Stocken und Stammeln, Klagen und Weinen. Er aber dachte bloß: Du bist in Paris, du bist zu beneiden!, obwohl er eigentlich an Papa denken wollte.
Fast hätte er sich einen Hut gekauft, für die Beerdigung und überhaupt, als fange jetzt ein neues Leben an, ein Leben, das dem alten gleicht und trotzdem ab sofort ganz anders sein wird. Er ließ es jedoch, aus Furcht, ein Hut könnte auf seinem Kopf lächerlich wirken, zu aufgesetzt, zu mächtig, zu grotesk, ganz anders als bei Papa, der mit seinen Hüten filmreif aussah. Kopf hoch!, hatte Mama immer gesagt, damit man gar nicht erst zu klagen anfing. Kopf hoch!, hatte sie sogar noch zu Joschi gesagt, mit unterdrücktem Wimmern, als alles längst zu spät war, bei seinem Abschied ins Gefängnis. Kopf hoch!, hatte vermutlich auch Joschi oft gedacht, als er zehn Jahre lang an der Straße stand, in Budapest an den Brücken, einen Hut in der Hand, seinen Klingelbeutel. Und jetzt sitzen sie um Papa herum und warten, ohne wirklich zu wissen, worauf. Sie wissen es und wissen es nicht, es wird sich bald zeigen.
Linda hat ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, diesen Mann, der hier bloß noch das Schwein genannt wird und dessen Namen keiner mehr in den Mund nehmen durfte, im Grunde bis heute nicht, was Papa nicht hindern sollte, bei ihm sein Testament zu hinterlegen, warum auch immer, und sei es aus Wut auf Linda, die vor seinen eigenen Augen die Bilder an den Wänden abgerissen hatte und ihn entmündigen lassen wollte. Vielleicht begann Papa an diesem Tag, an Schmelers Rücksichtslosigkeit sogar Gefallen zu finden, als müsste man sich daran ein Beispiel nehmen.
Nie wieder wollte Linda diesen Schmeler sehen, das Schwein, nie wieder, nachdem er vor über dreißig Jahren nach einem Kurzurlaub aus Mallorca zurückgekommen war, und zwar als verheirateter Mann. Linda war mit ihm verlobt gewesen, die beiden kannten sich seit der Schulzeit. Kein Mensch konnte ahnen, dass er noch eine weitere Geschichte am Laufen hatte und nur nach Mallorca geflogen war, um mit einer anderen zurückzukehren, die noch niemand je zu Gesicht bekommen hatte, zumindest nicht hier, eine Frau, die in allem das Gegenteil von Linda darstellte: blond, dünn, um einen Kopf größer, ein Laufsteggeschöpf, mit kurzen Röcken und Stiefeln, riesigen Ohrringen und einer noch größeren Sonnenbrille. Schmeler schämte sich damals nicht, zwei Straßen weiter eine Kanzlei zu eröffnen, deren Hauptsitz jetzt in München ist.
Uli musste ihn anrufen, auf Geheiß von Linda, was ihm schwergefallen war, schließlich ist er der Letzte, der den Resoluten spielen kann und notfalls hart verhandeln. Er ist zu weich für alles, und im Namen anderer forsch aufzutreten, liegt ihm schon zweimal nicht. Schmeler hatte sofort zugesagt, als sei es für ihn das Selbstverständlichste der Welt, noch heute Abend in München ins Auto zu steigen und zu einer Frau zu düsen, die ihn seit Jahrzehnten hasst und nie wieder sehen wollte. Keiner hier mochte je wieder etwas mit ihm zu tun haben. Sie alle hatten sich gewundert, dass Max selbst nach diesem Skandal noch skrupellos an ihrem Haus vorbeischlenderte und in den Garten hinein grüßte, als sei nicht das Geringste vorgefallen. Man wandte sich ab, tat so, als bemerkte man ihn nicht, fluchte vor sich hin und staunte, dass er dabei sogar stolz seine Neue am Arm führte. Drüben im Garten hörte man ihn beim Kaffeetrinken lachen und große Reden schwingen, als sollte die ganze Welt von seinen Witzeleien und Weisheiten profitieren. Längst ist er wieder geschieden, schon drei- oder viermal. Im Grunde kann Linda froh sein, dass es so gekommen ist, wie es gekommen ist.
Kaum dass sie mit Fred heute früh hier angekommen war und sich die beiden nach ein paar Schrecksekunden wieder gefangen hatten, fingen sie an, Papas Schubladen und Dokumentenmappen zu durchsuchen, in der Hoffnung, das Testament zu finden, oder genauer gesagt, keines zu finden, um nicht böse überrascht zu werden und bestenfalls doch noch davon ausgehen zu können, dass alles seinen geordneten Gang geht. Als Linda vor einem Jahr zum letzten Mal in Arona war, stand dort ein alter Daimler vor dem Haus, und es passten die Schlüssel nicht mehr. Sie klingelte, eine Frau und ein Mann öffneten, starrten sie an, brachten kein einziges Wort heraus und verschwanden wieder hinter der Tür. Sofort hatte sie Papa angerufen, der nicht mit ihr reden wollte. Alles sei in Ordnung, habe er nur gesagt, doch sie werde, wenn er aus ihrem Mund noch ein einziges Mal den Ausdruck ungarische Hure höre, vom Erbe keinen müden Pfennig mehr sehen.
Die beiden könnten aus dem Balkan gewesen sein, er klein und feist, mit ausgebeultem Jackett, halb kahl mit graumeliertem Kranz, leicht gelockt, sie mollig und ebenfalls nicht groß, mit gelbblonden Strähnen. Wann sich dieses Weib bei Vater eingeschlichen hat, weiß keiner genau. Der Wahnsinn mit diesen Bildern an den Wänden hatte jedenfalls erst vor drei, vier Jahren begonnen. Spätestens mit Papas peinlicher Geilheit, die er nicht einmal mehr zu verbergen...