E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Ott Wintzenried
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-455-81024-0
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-455-81024-0
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein phantastisch skurriler Roman von Karl-Heinz Ott über Jean-Jacques Rousseau
Der Philosoph Rousseau kommt zeitlebens nicht über ein Trauma hinweg: dass der Friseur Wintzenried den Platz im Bett seiner dreizehn Jahre älteren Geliebten eingenommen hat. Gäbe es Wintzenried nicht, würde Rousseau glücklich sein, müsste nicht gegen die Welt toben und zum Wegbereiter der Französischen Revolution werden. Ohne Wintzenried wäre alles gut, glaubt er.
Wahnsinn und Wahrheit, das Tragische und Bizarre sind im Leben des Jean-Jacques Rousseau nicht auseinanderzuhalten. Dass Verfolgungs- und Größenwahn zusammengehören, lässt sich nirgends besser sehen als an diesem epochemachenden Philosophen, der die ganze verrottete Menschheit auf die Anklagebank setzt. Für alle, mit denen er befreundet ist, entpuppt er sich früher oder später als Monster. Was nicht nur daran liegt, dass er seine fünf Kinder ins Waisenhaus steckt und zugleich eine Erziehungslehre schreibt, die zur Bibel jeder fortschrittlichen Pädagogik wird. Mit leiser Komik beleuchtet Karl-Heinz Ott in diesem Roman ein Leben, das für seinen Protagonisten überhaupt nicht zum Lachen ist.
Autoren/Hrsg.
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I Er liegt im Bett, onaniert und stellt sich Mama dabei vor. Immer hat er Angst davor, es tatsächlich mit ihr tun zu müssen. Wenn man es sich bloß vorstellt, ist es viel erregender als in der Wirklichkeit. Mit sich allein ist alles viel einfacher. Nur dass er sich allmählich ruiniert, wenn er es ständig allein macht. Wofür es Beweise gibt. Und trotzdem kann er es nicht lassen. Seit seiner Rückkehr aus Turin sagt er Mama zu ihr. Und sie nennt ihn Kleiner. Mama ist dreizehn Jahre älter. Es kommt ihm wie Inzest vor. Doch was hätte er machen sollen? Er will ja bei ihr bleiben. Und all das nur, weil er glaubte, Mama erzählen zu müssen, wie seine Schülerinnen im Schlafhemd auf ihn warten und ihre Mütter ihn ständig auf den Mund küssen, vor den Augen ihrer eigenen Männer. Mama gab ihm drei Tage Bedenkzeit. Entweder sie oder die anderen. Was hätte er machen sollen? Ein Pfarrer hatte ihn zu ihr geschickt, zwei Tage nach seiner Flucht. Dort sei er fürs Erste versorgt, dann sehe man weiter. Er ließ sich Zeit, war nochmals drei Tage unterwegs, ohne jede Eile, schließlich hatte er nichts anderes als eine Betschwester erwartet. Ein Hutzelweib, das ihm etwas zu essen hinstellt, vorausgesetzt, dass er zum Katholizismus übertritt. Und dann stand er vor ihrer Tür, mit dem Empfehlungsschreiben dieses Pfarrers in der Tasche. Nur dass niemand aufmachte. Sie sei auf dem Weg zur Kirche, sagten die Leute auf der Straße. Wohin denn sonst am Palmsonntagmorgen, wenn die Glocken läuten!? Warum er auf einmal zu rennen anfing, wusste er selbst nicht. Und dann sah er sie von weitem. Wusste sofort, dass sie es ist, obwohl es alles andere als eine Betschwester war, ganz im Gegenteil. Als sie sich zu ihm umschaute, wurde ihm schwarz vor Augen. Fünfzig Jahre später wird er schreiben: Die Stelle, an der sie mich zum ersten Mal angeschaut hat, müsste ein Wallfahrtsort werden, dem die Leute sich nur auf Knien nähern dürfen. Nie habe ich ein schöneres Gesicht, nie herrlichere Brüste gesehen. Von einer solchen Missionarin will man gern bekehrt werden, zu welchem Glauben auch immer. An Gott denkt kein Mensch, der vor ihr steht. Wer bist du?, fragte sie ihn, und er sagte: Jean-Jacques. Wenn du dich in Turin taufen lässt, darfst du zu mir zurückkommen, sagte sie zu ihm am nächsten Morgen. Eine Woche später saß er mit einem alten Ehepaar, das während der Fahrt für seine Verkostung aufkam, in der Kutsche. In Turin lieferte es ihn im Hospiz zum Heiligen Geist ab. Was das alles bedeuten sollte, wusste er nicht. Er musste jetzt einfach katholisch werden und ein neues Leben anfangen. Also lernte er in neun Tagen den Katechismus auswendig. Im Hospiz zum Heiligen Geist wollte er schon deshalb keinen Tag länger als nötig bleiben, weil ihn gleich in der ersten Nacht ein Afrikaner in den Speisesaal lockte, die Tür verriegelte, sich vor ihm auszog, zu stöhnen anfing und dabei fürchterliche Grimassen schnitt. Nicht nur in dieser Nacht sehnte er sich nach Genf zurück, zu seiner früheren Pflegemama. Wäre es nach ihm gegangen, hätte sie ihn noch viel öfter schlagen sollen. Je fester, desto besser. Immer hätte er dabei jauchzen können. Hätte sie gewusst, wie ihn diese Hiebe entzückten, hätte sie ihn wahrscheinlich nie wieder geschlagen. Oder sie hätte nur umso wilder zugeschlagen, so lange, bis wirklich nur noch der Schmerz übrig geblieben wäre. Manchmal denkt er: Ich möchte nur noch geschlagen werden, mein ganzes Leben lang. Zurück aus Turin, hört er durch die Wand, dass Mama nachts nicht immer allein ist. Von Frömmigkeit kann in ihrem Haus sowieso keine Rede sein. Abends ist die Stube alle paar Tage voll, fast nur mit Männern. Beinahe könnte man meinen, Mama sei vor allem deshalb aus Vevey geflohen, weil sie bei den Calvinisten nicht nächtelang tanzen und singen durfte. Dass nie genug Geld im Haus ist, wundert Jean-Jacques nicht. Wenn die alten Weiber von der Vesper heimschlurfen, bleiben sie auf der Straße stehen, glotzen durch die Fenster und schütteln den Kopf. Auch dem Gärtner scheint das alles nicht sonderlich zu gefallen. Seit Mama auch ihren Kleinen zu sich ins Bett holt, zieht er sich immer mehr in eine Art Stummheit zurück. Nur beim Morgenessen sagt er fast jeden Tag: Der arbeitet nichts. Manchmal streichelt Mama dann Jean-Jacques übers Haar und sagt: Er ist ja noch klein. Dabei gibt es kaum etwas zu tun. Der Salat und die gelben Rüben wachsen im Garten von allein, die Äpfel auch, und die Rosenhecken kann ohnedies nur der Gärtner richtig stutzen. Überhaupt findet er, dass Jean-Jacques alles falsch macht, was er in die Hand nimmt. Sitzt er im Gartenstuhl, schüttelt der Gärtner über seine Faulenzerei den Kopf, versucht Jean-Jacques mitzuhelfen, ist es auch nicht recht. Mama scheint es heimlich zu genießen, wie die beiden umeinander herumschleichen, als wollten sie sich immer ein wenig auf die Nerven gehen, ohne je miteinander zu streiten. Hat Mama bereits nachmittags ein paar Schlückchen von ihren selbstgemachten Likören getrunken, schaut sie ihnen manchmal vom oberen Fenster herab zu, mit einer Spur von Lächeln und offensichtlich zufrieden damit, dass die beiden ständig ein Auge aufeinander haben, aber gleichzeitig so tun, als wäre der andere gar nicht da. Manchmal kommen Leute vorbei, die, wie einst Jean-Jacques auch, von einem Pfarrer an Mama verwiesen wurden. Mama schickt sie sofort weiter nach Turin, ins Hospiz zum Heiligen Geist. Jean-Jacques muss ihnen jedes Mal erzählen, wie schön es dort ist, und ihnen von den prächtigen Prozessionen und herrlichen Messen vorschwärmen. Er selbst ist der Einzige, den sie sich je aus Turin zurückgewünscht hat. Anders als der Gärtner, der hier für alles zu sorgen hat, darf Jean-Jacques einfach nur da sein. Weder ist er Gärtner noch Koch, noch Laufbursche, sondern einzig und allein Mamas Kleiner. Morgens geht er mit Mama manchmal auf den Markt und hilft ihr in der Küche, nach dem Mittagessen zieht es ihn bei schönem Wetter in die Berge hinaus, abends geht er in der Molkerei Milch holen, und später sitzt man zu dritt oder in größerer Gesellschaft zusammen, immer bei einem Schluck Wein, der ihn sofort erhitzt und müde macht zugleich. So gehen die Tage dahin und die Wochen. Und weil der Gärtner nach einem Jahr immer noch sagt: Er arbeitet nichts!, glaubt Mama, aus ihrem Kleinen einen Pfarrer machen zu müssen. Fürs Praktische, denkt sie, taugt er nichts, und weil er gern Bücher liest, bleibt gar nicht viel anderes übrig. Manchmal reißt er Mama einen Bissen Brot, kaum dass sie ihn zwischen den Lippen hat, aus dem Mund und schluckt ihn hastig selbst hinunter. Mehr Vereinigung, hat er das Gefühl, kann nicht sein. Alles andere würde er lieber mit sich allein machen. Dass er sich in den Turiner Alleen hinter Bäumen versteckt, Frauen aufgelauert, seinen Mantel zurückgeschlagen und sie erschreckt hat, erzählt er Mama nicht. Jeden Abend hat er das getan, bis er eines Tages erwischt wurde. Dabei hätte er diesen Frauen überhaupt nichts getan. Nicht einmal anfassen hätte er sie wollen, ganz im Gegenteil. Er wollte sie nur schreien hören oder wegrennen sehen. So oft wie möglich. Es nie so weit kommen zu lassen, von Frauen angefasst zu werden, denkt Jean-Jacques immer mehr, ist das Höchste. Am liebsten würde er ihnen jeden Gefallen tun, nur nicht den letzten. Das Herumsitzen und Herumlungern muss jetzt aufhören, sagt Mama immer öfter. Vielleicht sagt sie es vor allem dem Gärtner zuliebe. In Turin habe man ihm eine Laufbahn als Diplomat vorausgesagt, behauptet Jean-Jacques. Mama ist es egal, ob er Pfarrer oder Diplomat werden will. Ohne Latein geht beides nicht. Und beim Organisten soll er den Blasebalg treten. So lernt er auch etwas von Musik verstehen. Wenn man eine so schöne Stimme hat, schadet das nichts. Jean-Jacques könnte sich auch vorstellen, Komponist zu werden. Diplomat, Pfarrer und Komponist zugleich. Der Domorganist sitzt sowieso alle paar Tage bei Mama in der Küche, zusammen mit dem Franziskanerprior. Auch deshalb schütteln die alten Weiber den Kopf. Jean-Jacques’ Tag fängt jetzt immer mit einer Messe an, danach zwei, drei Stunden Latein, nach dem Mittagessen geht er mit dem Gärtner Kräuter sammeln, und wenn abends Gesellschaft im Haus ist, sitzt er immer öfter an Mamas Spinett und gibt manchmal sogar schon ein selbstgeschriebenes Couplet zum Besten. Der Franziskanerprior will aus ihm einen Pfarrer, der Organist einen Organisten machen. Jean-Jacques denkt immer noch an eine Diplomatenlaufbahn. Genau genommen will er aber nur in Mamas Garten sitzen und nachts durch die Wand mitbekommen, wie der Gärtner und Mama zusammen stöhnen. Mama ist immer die Lautere, vom Gärtner hört man fast nichts. Jean-Jacques macht dabei immer solche einsamen Verrichtungen, wie der Pfarrer diese Dinge im Beichtstuhl nennt. Jedes Mal fragt er danach, wenn Jean-Jacques nicht von selbst damit anfängt. Jean-Jacques weiß das. Trotzdem schiebt er es immer bis zum Ende auf und hofft, dass der Pfarrer es vergisst. Für Jean-Jacques könnte dieses Leben noch lange so weitergehen: morgens in der Messe, danach Latein, den Rest des Tages für sich und abends Musik. Dass der Organist Streit mit dem Dompfarrer bekommt, dass er von heute auf morgen abreisen und dass er Jean-Jacques mit nach Lyon nehmen will, passt ihm nicht. Doch Mama besteht darauf, dass er diese Gelegenheit nutzt und in Lyon etwas aus sich macht. Tatsächlich könnte er dort ein berühmter Musiker werden. In Lyon soll sogar gelegentlich Monsieur Rameau, der größte Komponist Frankreichs, ein Konzert geben. Jean-Jacques trägt seit Wochen dessen Harmonielehre mit sich in der Tasche...