E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Overhage "Sie spielte wie im Rausch"
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-89487-832-0
Verlag: Henschel Verlag in E. A. Seemann Henschel GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Schauspielerin Maria Orska
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-89487-832-0
Verlag: Henschel Verlag in E. A. Seemann Henschel GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
DR. URSULA OVERHAGE hat Germanistik, Geschichte und Philosophie (Staatsexamen) an der Leibniz Universität Hannover studiert. Danach folgten Lehrtätigkeiten in Deutschland, Griechenland und Ungarn, promoviert hat sie im Fachbereich Mediävistik. Von ihr sind bereits mehrere wissenschaftliche und literarische Veröffentlichungen zu historischen und biografischen Themen erschienen, zudem diverse Essays und Erzählungen in Sammelbänden und Anthologien. Frühere Publikationen erschienen unter dem Familiennamen El-Akramy, sie hat bereits im Verlag Neue Kritik und in der Europäischen Verlagsanstalt veröffentlicht.
Autoren/Hrsg.
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Vorwort
»MIT JEDEM MENSCHEN VERSCHWINDET EIN GEHEIMNIS AUS DER WELT.«
Der 16. Mai 1930 ist in Wien ein sonniger Frühlingstag. An diesem Freitag melden fast alle großen Zeitungen in Österreich und in Deutschland, manche von ihnen auf der Titelseite in fett gedruckten Schlagzeilen, den Tod von Maria Orska. In der Nacht zuvor ist sie mit nur siebenunddreißig Jahren im Allgemeinen Jüdischen Krankenhaus in Wien gestorben.
Die 1893 in der Nähe von Odessa geborene Schauspielerin1 fällt bereits in ihrer Jugend durch eine außergewöhnliche Spielfreude und schauspielerische Begabung auf. Sie umarmt das Theater – und das deutschsprachige Theater gibt ihr die Bühne, die sie braucht. Nach ersten Erfolgen in Wien und Mannheim geht sie 1911 nach Hamburg und wechselt im Sommer 1914, unmittelbar vor Kriegsausbruch, nach Berlin. Die Reichshauptstadt gilt als Deutschlands tonangebende Theaterstadt und ist das begehrte Ziel aller Schauspieler, die auf die große Bühne drängen und eine große Karriere anstreben. Es gibt über zwanzig etablierte Theater, die die gehobene klassische und moderne expressionistische Dramatik (Georg Kaiser, Ernst Toller) im Programm haben, daneben spielen auch zahlreiche kleine Saisonbühnen. Als bedeutender Intendant und Regisseur hat sich Max Reinhardt durchgesetzt. Mit Theater ist in der sich rasant entwickelnden Hauptstadt Geschäft zu machen. Da kommt die ehrgeizige und bezaubernde Maria Orska wie gerufen.
Mit ihrer aufregend modernen Darstellung weiblicher Hauptrollen in den Stücken der Dramatiker August Strindberg und Frank Wedekind beeindruckt sie von Beginn an die Intendanten, Regisseure und Zuschauer. Nur wenige Jahre später, in der Weimarer Republik, gehört sie zu den bekanntesten Bühnenkünstlerinnen, ist gefeierter Star und Liebling des Publikums. Aufsehen erregen aber nicht nur ihr außergewöhnliches Talent und die geradezu visionär auf sie zugeschnittenen Rollen, sondern auch ihre extrovertierte Persönlichkeit und temperamentvoll sprühende Lebensart, ihre Turbulenzen und Affären, ihre Heirat mit einem Aristokraten und stadtbekannten Lebemann sowie die bald folgende und skandalumwitterte Scheidung.
In den zahllosen Nachrufen, die in diesen Maitagen des Jahres 1930 in den seriösen und auch weniger seriösen Blättern erscheinen, wird nicht nur an ihre großen nationalen oder internationalen Erfolge erinnert. Nein, die Redakteure vergessen nicht, den Lesern noch einmal die Schattenseiten ihres kurzen Lebens vor Augen zu führen: die schon länger bestehende Suchterkrankung der Schauspielerin, genauer ihre verhängnisvolle Abhängigkeit von Tabletten und Opiaten, die letztlich mit zu ihrem frühen Tod geführt haben.
Maria Orska wird in ihrer Wiener Wohnung in der Maria-Theresien-Straße aufgebahrt, wo sich Verwandte und Freunde versammeln, um von ihr Abschied zu nehmen. Die Beerdigung findet drei Tage später, am 19. Mai 1930, auf dem Friedhof im Stadtteil Hietzing statt. Maria wird in der Familiengruft beigesetzt und findet neben ihrer Mutter Augusta Frankfurter ihre letzte Ruhe. In unmittelbarer Nähe liegen zwei andere prominente Wiener begraben: Österreichs bedeutendster Architekt Otto Wagner und der Maler Gustav Klimt sind beide im letzten Kriegsjahr 1918 gestorben.
Unter den Trauergästen, die der Schauspielerin das letzte Geleit geben, ist neben den Familienangehörigen auch der geschiedene Ehemann Hans von Bleichröder, der am Vortag mit Marias Bruder Edwin aus Berlin angereist ist. Ein Meer von Blumen und Gebinden bedeckt die Grabstätte. Die Wiener Kammerspiele und das Berliner Theater in der Königgrätzer Straße, die beiden wichtigsten Bühnen der Schauspielerin, haben aufwändig geschmückte Kränze geschickt. Marias Onkel ist mit seiner Ehefrau da, Bruder Edwin folgt mit der kleinen Nichte Tamara, der Tochter ihrer vier Jahre zuvor verstorbenen Schwester. Ein Heer von Schaulustigen versucht einen Blick zu erhaschen. Der von der Familie bestellte Sicherheitsdienst hat alle Hände voll zu tun, um die sensationslüsternen Zuschauer zurückzudrängen und des Platzes zu verweisen. Angesichts der Unruhe und der kaum erträglichen Neugier fasst sich der Geistliche kurz und hält die Aussegnung am offenen Grab in gebührender Kürze ab.2
Die Wiener Presse zeigt sich nicht nur über die Umstände des tragischen Todes gut informiert, sondern auch über die Verfügungen, die Maria Orska zu Lebzeiten getroffen hat. Es wird berichtet, dass sie 1925, im Jahr ihrer Scheidung, bei einem Berliner Justiziar ein Testament aufgesetzt hat, das ihren Bruder Edwin Blindermann und ihre Nichte Tamara als Erben bestimmt. Als Testamentsvollstrecker und Nachlassverwalter wird ein Onkel aus der mütterlichen Linie der Familie Frankfurter eingesetzt.3
Er wird vier Monate später dabei helfen, den letzten traurigen Akt des Dramas zu schreiben. Schauplatz des Geschehens ist Maria Orskas Wohnung in der Maria-Theresien-Straße 5 im neunten Wiener Bezirk Alsergrund. Das Auktionshaus Albert Kende ruft am 17. September 1930 den Nachlass der Verstorbenen zu einer öffentlichen Versteigerung auf.4 Der Andrang ist gewaltig, durch die große Eingangstür drücken Hunderte. Auch hier muss ein Ordnungsdienst bestellt werden, um den Besucherstrom zu lenken.
Fünf Jahre zuvor hat Maria Orska diese Tür geöffnet, um einem Reporter des Magazins ihr privates Reich zu zeigen, in das sie erst vor kurzem eingezogen war. Der gefeierte Bühnenstar erweist sich bei diesem Termin als erfahrene und geschickte Selbstdarstellerin, sie hat es schon immer verstanden, mit Interviews, etwas gezielt gestreutem Klatsch und »Home Stories«, die oft zeitgleich zu einer ihrer Premieren erscheinen, das Interesse des Publikums anzufachen.
Maria führt den Reporter stolz durch ihre Wohnung, es werden Fotos gemacht. Der Bericht »Die Orska in ihrem neuen Heim«5 erscheint im Sommer 1925 und bietet den Lesern des Blattes einen Blick in die große, herrschaftlich ausgestattete Wohnung mit Musikzimmer, Bibliothek und Boudoir, mit einem chinesisch ausgemalten Speisezimmer und einem Empfangsraum, wie es dem Geldbeutel und Geschmack der Reichen entsprach. Von den hohen Flügelfenstern ihres Salons sieht man auf die Wasagasse mit der Neuen Wiener Bühne, eine von Marias wichtigen Spielstätten.
An diesem Septembertag nur einige Jahre später wird alles, was Maria Orska besessen hat, an die Höchstbietenden verkauft. Die für die Auktion erstellten und vorab ausgegebenen kleinen Kataloge verzeichnen ein umfangreiches Inventar und kostbare Sammlungen von Kunst- und Gebrauchsgegenständen. Zum Aufruf kommen auch antikes Mobiliar im Barock- und Rokokostil, französische Gobelins und einzigartige Aubusson-Teppiche. Dazu Lüster und Uhren, Fayencen, Services und Figuren aus Meißner Porzellan, böhmisches Kristall, Bronzen, Gemälde, Miniaturen. Ob sich auch jemand für das Porträt des Dichters Frank Wedekind interessiert, das in einem schlichten Rahmen auf ihrem antiken Sekretär steht? Trophäenjäger, die jeweils nur nacheinander in kleinen Gruppen eingelassen werden, streifen durch die weitläufigen Räume, begutachten und schätzen mit Kennerblick das Mobiliar. Damen liefern sich leidenschaftliche Bieterkämpfe vor allem bei den Pelzen (Hermelin, Blaufuchs, russischer Zobel) und den kostbaren Textilien wie einem edlen Brokatmantel, Seidenroben und einem antiken Mandaringewand, das vielleicht einmal die zarte und grausame Prinzessin Turandot schmückte.6 Am Ende findet jedes Stück einen neuen Besitzer. Die Räumung der Etage wird amtlich geschlossen. »Und über allem ruhte ein Hauch von Bizarrerie und Erotik, der Duft, der jede schöne Frau begleitet«, notiert ein Beobachter mit einer Mischung aus Wehmut und Sarkasmus.7
Mit dem Erlös aus dem Auktionstag von geschätzten zweihunderttausend Schilling ist der Onkel und Nachlassverwalter mehr als zufrieden. Im Katalog nicht aufgelistet sind die ganz persönlichen Dinge von Maria Orska. Was mit ihnen geschieht, bleibt zunächst im Dunkeln. Dazu gehören handschriftliche Aufzeichnungen, private wie geschäftliche Korrespondenzen mit Verwandten, Freunden, Kollegen, Regisseuren, Postkarten aus der Sommerfrische, Telegramme, Kalender, Tagebücher. Notizen zu Proben, Aufführungen, Tourneen, mit ihren Anmerkungen versehene Rollenbücher und Typoskripte, Reisedokumente, Familienfotos. Alles vermutlich in ihrem Sekretär oder einem eigens dafür angeschafften Schränkchen gut verwahrt – und lange Zeit wird man nichts über den Verbleib dieser Zeugnisse eines kurzen und bewegten Lebens erfahren. Mit der Schließung ihrer Wohnung und der Aufteilung des Inventars unter den verschiedenen Bietern endet schon bald die Erinnerung an eine der interessantesten und faszinierendsten Schauspielerinnen ihrer Zeit.
Knapp drei Jahre nach Maria Orskas Tod wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die nationalsozialistische Machtergreifung am 30. Januar 1933 bedeutet das Ende der...