E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
Page Die besten Wochen meines Lebens begannen damit, dass eine Frau mich verließ, die ich gar nicht kannte
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-492-98114-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
ISBN: 978-3-492-98114-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martin Page, geboren 1975, studierte Anthropologie und lebt in der Nähe von Paris. Er gilt als einer der talentiertesten und originellsten Autoren Frankreichs. Gleich mit seinem ersten Roman 'Antoine oder die Idiotie' hatte er seinen großen internationalen Durchbruch. 'Die besten Wochen meines Lebens begannen damit, dass eine Frau mich verließ, die ich gar nicht kannte' ist sein fünfter Roman und wurde in zwanzig Sprachen übersetzt.
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Virgiles Schuhe machten auf der regennassen Straße ein klapperndes Geräusch. Er hatte das große Bürogebäude von Svengali Communication später als gewöhnlich verlassen. Erst als die Sonne unterging, hatte er bemerkt, dass die Uhr, die über seiner Tür hing, stehen geblieben war.
Zwischen Louvre, Verwaltungsgericht und der Comédie Française gelegen, befanden sich die Büroräume der Werbeagentur, für die Virgile arbeitete, in wahrhaft vornehmer Umgebung. Der von bunten Kugeln umrankte Eingang zur Métro-Station entzückte ihn jedes Mal aufs Neue – es sah aus, als hätten Kinder ihn zum Muttertag geschmückt. Dennoch war es kein Viertel, mit dem Virgile jemals warm geworden wäre. Oder vielleicht wurde das Viertel auch nicht warm mit Virgile. Sie bewegten sich nebeneinander her wie Fremde und behielten einander im Auge, wohl wissend, dass alles andere ein schlechtes Ende nehmen könnte. Der junge Mann beanspruchte von diesem Prunkstück des ersten Arrondissements nichts weiter als zwei kleine Inselchen: die Buchhandlung Delamain und das etwas heruntergekommene Café-Restaurant À Jean Nicot, die letzte Bastion gegen die um sich greifende Schickeria.
Er stieg in den Bus und entwertete seinen Fahrschein. Die Métro benutzte er schon seit sechs Monaten nicht mehr, weil er dieses ständige Gefühl der Beklemmung, das sich gelegentlich zu regelrechten Panikattacken auswuchs, leid war. Im Bus wurde er immerhin nur an seine Angst vor Verkehrsunfällen erinnert.
Macht sich der Körper auf den Weg, so folgt ihm der Geist in einigem Abstand. Nur ganz allmählich ließ Virgile seinen Arbeitstag hinter sich. Es reicht eben nicht, das Büro zu verlassen, in den Aufzug zu steigen und die Türen des Gebäudes hinter sich zu schließen. Man braucht einen Übergang. Während der Bus durch den Verkehr glitt und Virgile den Blick über das Gemenge der Fußgänger, Autos und Fahrräder schweifen ließ, lösten sich seine Gedanken von Arbeit und Kollegen. Und je näher er seiner Wohnung kam, desto mehr fand er zu sich. Virgile war nicht immer die beste Gesellschaft für sich selbst, aber das Zusammenleben zwischen dem, was er zu sein glaubte oder zu sein wünschte, und dem, was er war, verlief ohne allzu große Auseinandersetzungen.
Nachdem der Bus beinahe einen Clochard umgefahren hätte, hielt er vor der Gare du Nord. Armelle saß nicht an ihrem üblichen Tisch auf der Terrasse der Brasserie Terminus. Virgile hätte sie gerne gesehen, mit ihren rot geschminkten Lippen und einem Buch in der Hand. Er würde sie nach dem Abendessen treffen und ein Glas Wein mit ihr trinken.
Er grüßte die Prostituierten vor seinem Haus. Sie lächelten ihm zu und winkten grüßend zu ihm herüber. Sein Briefkasten war leer. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte er die Treppe bis in die dritte Etage hinauf, schloss die Tür zu seiner Wohnung auf und warf die Schlüssel in den Obstkorb zwischen die Äpfel und Bananen.
Das rote Lämpchen seines alten Anrufbeantworters blinkte. Virgile liebte es, Nachrichten zu erhalten. Egal ob sie nun von Freunden oder Vertretern für Einbauküchen stammten, sie erinnerten ihn an seine Existenz in der Gesellschaft.
Zuerst einmal wollte er sich aber etwas zu essen machen. Er warf einen prüfenden Blick in den Kühlschrank: Eier, eine bereits offene Dose mit geschälten Tomaten und eine beachtliche Ansammlung von Joghurtbechern. Er schlug zwei Eier in die Pfanne, deckte den Tisch und drückte dann endlich auf die Abspieltaste des Anrufbeantworters.
„Virgile“, sagte eine weibliche Stimme.
Er trat ganz nah an den Lautsprecher heran, um die bezaubernde Melodie besser zu hören. Gott hat eine Frauenstimme, dachte Virgile. Die Nachricht ging weiter:
„Hier ist Clara. Es tut mir leid, aber ich möchte, dass wir Schluss machen. Ich verlasse dich, Virgile. Ich verlasse dich.“
Er hörte sich die Nachricht fünf Mal hintereinander an. Die Eier verbrannten in der Pfanne. Nachdem er sich das Gesicht mit kaltem Wasser gekühlt hatte, betrachtete er sich im Spiegel des Arzneischränkchens. Er schloss die Augen und öffnete sie erst nach ein paar Sekunden wieder. Er schluckte ein Beruhigungsmittel. Dann ging er in die Küche zurück und drehte das Gas aus. Die Eier glichen zwei Kohlestückchen, beißender Rauch stieg von ihnen auf.
Es gibt wenige Erfahrungen, die so schmerzhaft sind wie das Zerbrechen einer Beziehung. Die Trennung wird als ein sorgfältig geplantes Attentat erlebt, denn die Bombe wurde direkt in unserem Herzen platziert: Es ist unmöglich, der Gewalt der Explosion zu entkommen. Aber im vorliegenden Fall erfuhr Virgile, dass er von einer Frau verlassen worden war, die er gar nicht kannte und mit der er – das lag wohl auf der Hand – niemals eine Beziehung gehabt haben konnte. Und während sich ihm die Unwirklichkeit der ganzen Sache aufdrängte, traf ihn dennoch der Schlag, sich als Objekt einer zurückgewiesenen Liebe zu fühlen, mit voller Wucht.
Der Planet Erde war in den Augen von Virgile noch nie ein besonders stabiler Himmelskörper gewesen. Es gab nur wenig, was für ihn zweifelsfrei gewiss war, aber daran hielt er sich fest. Er war Junggeselle. Das war evident. Er besaß den Kühlschrank eines Junggesellen und die Gewohnheiten eines Junggesellen. Sein Junggesellendasein war so sicher wie die Schwerkraft, vielleicht sogar sicherer.
Virgile richtete seine Blicke auf die beruhigenden Dinge des Zimmers: seine Schallplattensammlung, das rot-gelbe Plakat vom Zirkus seiner Eltern, das über dem Sofa mit den platt gedrückten Armlehnen hing, die Dose mit dem Zichorienkaffee, die Telefonrechnung, die unter einem Magneten in Form eines afrikanischen Elefanten am Kühlschrank klebte (die großen, dreieckigen Ohren des Elefanten standen ab wie die Flügel eines Schmetterlings und sein Rüssel reckte sich zwischen den Stoßzähnen empor). Dann stöpselte er den Anrufbeantworter aus und verließ die Wohnung.
Ganz auf seine Schritte konzentriert, ging er den Boulevard Magenta hinunter. Sein Körper tat seinen Dienst – weder die Gelenke noch die Muskeln hatten Schaden genommen, das Blut strömte gleichmäßig durch seine Adern. Sein Gehirn allerdings war am Rande der Überhitzung.
Den ganzen Weg über bis in die Passage des Petites-Écuries, wo die Praxis seiner Psychoanalytikerin lag, hielt Virgile den großen, kantigen schwarzen Anrufbeantworter an seine Brust gepresst. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen diesem Viertel und demjenigen, in dem sein Büro lag, bestand in den vielen Passagen, die den Fußgängern die Möglichkeit boten, den belebten Straßen zu entfliehen. Die Bewohner der Passage des Petites-Écuries hatten Stühle und einen weißen Gartentisch hinausgestellt, ein Rentnerpaar hatte ein paar Rosen gepflanzt, irgendwo stand ein Kinderfahrrad. Das Refugium von Frau Doktor Zetkin lag ganz oben in der dritten Etage des Wohnblocks am hinteren Ende des Hofes. Die vertikalen, horizontalen und diagonalen Balken durchzogen das Gemäuer der Fassade wie dickes, braunes Garn ein Stück grobes Leinen. Unter dem Dach waren Rinnen zu erkennen, die verhinderten, dass das Regenwasser Holz und Gips durchnässte.
Im Wartezimmer blätterte eine junge Frau (in schwarzer Leinenhose und Jacke, die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden) in einer Illustrierten. Sie war offenbar die letzte Patientin des Tages, und es schien sie zu beunruhigen, dass Virgile einen Anrufbeantworter an sein Herz presste. Schließlich vertiefte sie sich wieder in ihre Zeitschrift. Die Tür des Sprechzimmers ging auf, die Hand von Frau Doktor Zetkin erschien, um die junge Frau hineinzubitten.
Virgile summte den letzten Slogan, den er in der Agentur gehört hatte. Die Melodie des Werbespots, der die gesundheitsfördernden Eigenschaften eines Apfelkompotts anpries, beruhigte ihn. Normalerweise ging er im Wartezimmer von Frau Doktor Zetkin noch einmal alle seine momentanen Ängste durch. Er listete die zu besprechenden Punkte auf, legte sich eine absolut sichere Redestrategie zurecht und wappnete sich mit wohlüberlegten Erwiderungen gegen die zu erwartenden Einwände von Frau Doktor Zetkin. Aber unter den gegebenen Umständen sah er lieber davon ab, sein Gehirn unnötig zu strapazieren. Zwanzig Minuten später kam die junge Frau heraus.
Frau Doktor Zetkin war eine etwa fünfzigjährige Frau mit grau meliertem Haar und einer grünen Hornbrille. Sie trug eine feine, malvenfarbene Strickjacke über einer cremefarbenen Bluse, dazu eine Perlenkette und Ringe, die mit Jade und Bernstein verziert waren. Der Geruch von Lapsang Souchong schwebte durchs Sprechzimmer. Für Virgiles Geschmack war dieser Tee zu stark aromatisiert, aber er verknüpfte ihn so sehr mit seinen Sitzungen, dass bereits ein Hauch dieses Duftes ausreichte, um sofortiges Wohlbefinden bei ihm auszulösen.
„Guten Tag, Frau Doktor.“
„Sie hatten keinen Termin.“
Mit einer Handbewegung bat sie Virgile herein. Sie setzten sich am Schreibtisch einander gegenüber. Aus einer roten gusseisernen Teekanne auf einem Serviertischchen vor dem Bücherschrank stieg leichter Dampf auf. Der große, schwarz eingebundene Terminkalender, der aufgeschlagen vor der Ärztin lag, erinnerte an einen Raubvogel in vollem Fluge. Die Seite des heutigen Tages war mit Namen gefüllt und der von Virgile stand nicht dort. Montags hatte er nie einen Termin.
Virgile hatte die Phase der Übertragung hinter sich, er war also nicht eifersüchtig auf die anderen Patienten von Frau Doktor Zetkin. Er dachte im Gegenteil, sie müsse doch bei ihren zahlreichen Patienten feststellen, dass er viel interessanter sei als die Horde der Banal-Neurotiker, die sonst zu ihr kamen. Die Beziehung, die man zu seinem Psychoanalytiker hat, kann nicht...