E-Book, Deutsch, 264 Seiten
Palm Bringt mir die Nudel von Gioachino Rossini
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7017-4453-4
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kein Spaghetti-Western
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4453-4
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nominiert für die Hotlist 2014
Ein Opernkomponist als Westernheld? Mozarts Librettist als Mafia-Pate? Ein Indianer als Ballonfahrer? Kurt Palm verbindet Aberwitz und historische Details zu einer ebenso haarsträubenden wie spannenden Geschichte und lässt den "Wilden Westen" lebendig werden. Gelangweilt vom Gesellschaftsleben, nimmt Gioachino Rossini eine verrückte Herausforderung an. Sein Onkel hat ihm in Missouri einen Saloon und ein Stück Weideland vererbt, und weder die stürmische Atlantiküberquerung noch die Mühen einer 1700 Kilometer langen Fahrt können ihn abschrecken. Und als sich der Inder Kamalesh, der entlaufene Sklave Ringgold und der Indianer Big Thunder seinem Ein-Mann-Treck anschließen, kann Rossini nichts mehr aufhalten.
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Heydman’s Hotel and Trading Store
Jetzt, wo er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, merkte Rossini, wie unglaublich müde er war. Alles um ihn herum drehte sich, und er musste sich auf seinen Koffer setzen, um nicht umzufallen. Ihm war übel und er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu übergeben. Er würgte, aber alles, was er heraushustete, war grüner Schleim. Massen von Auswanderern strömten an ihm vorbei, die meisten waren vor Hunger und Krieg aus Europa geflüchtet und hetzten jetzt in der Neuen Welt ihrem Glück entgegen. Rossini war froh, dass er zu den wenigen Privilegierten gehörte, die diese Reise nicht aus Not gemacht hatten, und die Freiheit besaß, nach Europa zurückzukehren, wann immer er wollte. Diese Überfahrt würde er allerdings auf einem Dampfschiff machen, soviel stand fest. »New Dutch Church, New Dutch Church!«, hörte er einen Mann rufen, der am Pier mit einem Bauchladen herumging. »Calvinist Reformed Church!« rief ein anderer, der wahllos Flugblätter verteilte und auch Rossini eines in die Hand drückte. Rossini hatte keine Ahnung, was die Slogans auf dem Flugblatt zu bedeuten hatten: »Total depravity. Unconditional election. Limited atonement. Irresistible grace. Perseverance of the saints.« Darunter stand die Adresse: »Nassau Street / Maiden Lane.« Während er das Blatt zerknüllte, hörte er noch weitere Rufe: »German Lutheran Church!«, »Baptist Church!«, »Moravian Church!«, »Presbiterian Church!«, »Methodist Church!«, »Associate Church!«. Rossini kam sich vor wie auf einem Jahrmarkt. Er fragte sich, welcher Kirche sich wohl der Prediger Kasimir Steinmetz anschließen würde. Vorausgesetzt, dass er überhaupt noch am Leben war. Während sich Rossini mühsam von seinem Koffer erhob, wurde er von hinten an der Schulter angetippt. Er drehte sich um und sah in das Gesicht eines Mannes, dessen Augen nervös flackerten. »Hello Mister, mein Name ist Frank.« Der Händedruck des Fremden war so stark, dass Rossini kurz aufschrie. »Das ist Jim«, sagte der Mann und deutete auf den Burschen neben sich. »Wenn Sie Hilfe brauchen, stehen wir Ihnen jederzeit zur Verfügung.« Trotz der Hitze trug Jim eine dicke Jacke und eine Schiebermütze. »Los, Jim, nimm dem Gentleman seinen Koffer ab. Sie haben sicher eine anstrengende Reise hinter sich. Woher haben Sie diese Beule am Kopf, Mister? Sind Sie gestürzt?« Noch ehe Rossini antworten konnte, hatte sich Jim bereits seinen Koffer geschnappt. »In welchem Hotel wohnen Sie, Mister?«, fragte Frank. »Äh«, antwortete Rossini verdutzt. »Sie verstehen doch, was ich sage, oder?« »Si, also yes –« »Ah, Sie sind Italiener, sehr gut. Wie heißen Sie, Mister?« »Rossini.« »Mister Rossini, falls Sie noch kein Hotel haben, können wir Ihnen ein erstklassiges Haus ganz in der Nähe empfehlen. Heydman’s Hotel. Dort steigen sehr viele Italiener ab. Liegt bloß ein paar Gehminuten von hier entfernt. Aber wenn Sie bereits ein anderes Hotel haben, organisieren wir gerne eine Kutsche für Sie.« Rossini sah sich hilfesuchend um, fand aber niemanden, an den er sich hätte wenden können. Überall standen Gruppen von Einwanderern, denen Einheimische alle möglichen Dienstleistungen anboten. »Hotel«, »billig«, »Kutsche«, »Restaurant«, »kein Problem« waren die Worte, die in dem babylonischen Stimmengewirr am häufigsten zu hören waren. »Nein, ich habe noch kein Hotel«, sagte Rossini und bereute im selben Augenblick, dass er das gesagt hatte. »Sehr gut. Wie lange bleiben Sie in New York, Mister? Oder sind Sie auf der Durchreise?« Während Frank unablässig redete, kümmerte sich Jim um Rossinis Gepäck. »Äh, ich bleibe ein oder zwei Tage, dann fahre ich weiter.« »Dann ist Heydman’s Hotel genau das Richtige für Sie. Dort können Sie sich erst einmal ausruhen und anschließend in Heydman’s Trading Store gleich alles Nötige für Ihre Weiterreise kaufen. Heydmans Preise sind unschlagbar. Wohin geht die Reise, wenn ich fragen darf, Mister?« »He, Frank, was treiben deine Mädchen?«, rief ein rothaariger Bursche aus einiger Entfernung. »Richte Nelly einen schönen Gruß von mir aus.« Der Rothaarige trug zwei Koffer und hatte einen Mann und eine Frau mit drei kleinen Kindern im Schlepptau. »Kümmere du dich um deinen eigenen Dreck«, antwortete Frank und hob drohend die Faust. Der Rothaarige lachte höhnisch und verschwand in der Menge. »Ein irischer Bastard, hören Sie nicht auf ihn«, sagte Frank und deutete seinem Kumpanen weiterzugehen. Instinktiv tastete Rossini nach den eingenähten Geldscheinen, und er war beruhigt, als er den Wulst unter seinem Hemd spürte. Dass Frank, Jim und auch der Rothaarige zu den sogenannten Runners gehörten, konnte Rossini nicht wissen. Ihre Aufgabe war es, die überforderten Neuankömmlinge in bestimmte Hotels, Gasthäuser oder Geschäfte zu lotsen, von deren Besitzern sie entsprechende Provisionen kassierten. Ihr Name kam daher, dass sie am Hafen von Schiff zu Schiff liefen, um den Einwanderern ihre Dienste anzubieten. Da sich die in Gruppen straff organisierten Runners auch untereinander bekämpften, kam es häufig zu Schlägereien, in die nicht selten auch Passagiere verwickelt waren. Rossini ärgerte sich, dass er trotz der langen Wartezeit auf dem Schiff nicht daran gedacht hatte, den Stadtplan von New York aus seinem Koffer zu holen. Im Beisein seiner ungebetenen Begleiter wollte er aber den Koffer auf keinen Fall öffnen. »Hören Sie, Mister Frank«, sagte Rossini zaghaft, »ich glaube, ich werde mir besser selbst ein Hotel suchen.« Frank neigte den Kopf ein wenig zur Seite und sah Rossini mit flackernden Augen an. In Rossinis Magen machte sich ein unangenehmes Gefühl breit. Frank kratzte sich am Ohr und sagte in sachlichem Ton: »Hören Sie, Mister, mein Freund Jim und ich möchten Ihnen nur helfen. Wir sind in drei Minuten bei Heydman’s Hotel, dann können Sie immer noch entscheiden, ob Sie sich lieber ein anderes Quartier suchen. Aber für zwanzig Dollar werden Sie hier in der Gegend kein Einzelzimmer bekommen, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen.« Jim, der Rossinis Koffer fest umklammert hielt, nickte gelangweilt. Erst jetzt sah Rossini, dass Frank einen Revolvergurt umgeschnallt hatte. »Na ja, wenn Sie glauben«, antwortete er unsicher. Vielleicht hatte dieser Frank ja recht, und Rossini ersparte sich auf diese Weise die mühsame Suche nach einem Hotelzimmer. Außerdem wollte er sich endlich waschen und dann schlafen. Schweigend ging Rossini hinter seinen Begleitern die Albany Street entlang, die sich vom Pier, an dem der Schleppdampfer angelegt hatte, über die Thames Street bis zum Broadway erstreckte. Die Straße war vom Lärm fliegender Händler und unzähliger Pferdekutschen erfüllt, und Rossini fühlte sich fast ein wenig an seine Zeit in Paris erinnert. Nach ein paar Minuten blieben Frank und Jim vor einem dreistöckigen Backsteinbau stehen. Henry Heydman’s Hotel and Trading Store stand auf der Fassade. Rossini folgte den beiden Männern in die Lobby, wo ein ziemliches Durcheinander herrschte. Am Empfangspult stand eine Gruppe von Einwanderern, die in verschiedenen Sprachen auf den Rezeptionisten einredeten. »Non, non, une femme et quatre enfants«, sagte ein aufgebrachter Franzose, dem man ein Zimmer mit nur einem Bett gegeben hatte. Ein Italiener wiederum deutete auf ein altes Paar, das erschöpft in einer Ecke kauerte, und versuchte dem Rezeptionisten klarzumachen, dass seine Eltern unbedingt ein eigenes Zimmer bräuchten. »Sono malati«, sagte er und deutete theatralisch auf seinen Bauch. Der Mann hinter der Theke hob verzweifelt seine Hände und seufzte: »Wäre ich doch bloß in Corpus Christi geblieben.« Frank holte einen Stuhl. »Setzen Sie sich, Mister Rossini«, sagte er. »Sie sehen sehr müde aus. Ich kümmere mich um Ihr Zimmer.« Er ging zur Rezeption und kam mit einem Formular und einem Schlüssel zurück. »Diesen Meldezettel müssen Sie ausfüllen. Ist leider Vorschrift. Aber Sie können das auch auf Ihrem Zimmer erledigen und den Zettel später an der Rezeption abgeben. Mister Heydman wird sich dann persönlich um Ihre Wünsche kümmern. Das Restaurant befindet sich im ersten Stock im rückwärtigen Teil des Gebäudes. Jim, begleite den Gentleman auf sein Zimmer.« Frank überreichte seinem Gefährten den Schlüssel und sah Rossini erwartungsvoll an. Auch Jim signalisierte mit seinem Blick,...