E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Palm Die Besucher
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-7017-4273-8
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4273-8
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sie sind überall. Und niemand weiß, woher sie kommen ...
Der Journalist Martin Koller liegt im Krankenhaus und kann nicht schlafen. Er wird von merkwürdigen Ohrgeräuschen gepeinigt, die ihn in eine tiefe Depression stürzen. Dass seine Frau um jeden Preis ein Kind von ihm will und ihm ein junger ehrgeiziger Kollege in seine Recherchen im rechtsextremen Milieu hineinpfuscht, macht es nicht besser. Da erfährt er, dass seine Mutter im Sterben liegt. Er rafft sich auf und macht sich auf den Weg zurück in den Ort seiner Kindheit. Ein paar Tage ist er mit seiner Mutter allein. Dann kommen sie, die Besucher, und nehmen das ganze Haus in Beschlag. Sie sind überall: im Keller, in den Zimmern, auf dem Dachboden. Niemand weiß, woher sie kommen, niemand weiß, was sie wollen. Eine Ärztin, die Martin noch aus Jugendtagen kennt, ruft ihn an sie hat eine rätselhafte Entdeckung gemacht. Ein Alptraum beginnt.
Autoren/Hrsg.
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II
Listen to the devils in my ear.
R.E.M., »Suspicion« Im Taxi auf dem Weg nach Hause fühlte sich Martin, als wäre er zu seinem eigenen Begräbnis unterwegs. Der Gestank nach kaltem Rauch in dem überhitzten Wagen und der süßliche Geruch, der von den Ledersitzen ausging, passten perfekt zu der deprimierenden Grundstimmung. Wohin er durch die regennassen Scheiben auch blickte, er sah nur Grau: Die Hausfassaden, die Straßen, sogar die Gesichter der Menschen, die sich wie Marionetten bewegten – alles war grau. Die Weihnachtsbeleuchtung, die in diesem Jahr bereits Anfang November installiert worden war, verstärkte die bedrückende Atmosphäre. Zum Glück schwieg der Taxifahrer, denn das Letzte, was Martin jetzt gebraucht hätte, wäre ein Gespräch über das Wetter oder »die Ausländer« gewesen. Vor seiner Wohnungstür zog Martin seine durchnässte Jacke und die nassen Schuhe aus. Paula hätte es nicht gerne gesehen, wenn er mit dem nassen Zeug die Wohnung betreten hätte. Er sperrte die Tür auf und holte seine Hausschuhe, die er aus dem Krankenhaus wieder mitgenommen hatte, aus dem Plastiksackerl. Auf der Pinwand neben der Eingangstür hing neben einem Opernspielplan, dem Werbefolder von einem Pizzaservice und einem Zettel mit wichtigen Telefonnummern auch ein Lottoschein. Soweit Martin erkennen konnte, hoffte Paula, mit verschiedenen Kombinationen ihres und seines Geburtsdatums Multimillionärin zu werden. Martin war überrascht, weil er sich nicht erinnern konnte, dass Paula jemals Lotto gespielt hatte. In der Wohnung war es kühl. Martin stellte das Thermostat auf zwanzig Grad. Er hörte, wie im Bad die Therme ansprang und ein brummendes Geräusch von sich gab. Er hielt sich das gesunde rechte Ohr zu und hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. Es war dreizehn Uhr. Ihm blieben also noch etwa zweieinhalb Stunden, bis Paula nach Hause kommen würde. Martin ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Fauteuil, auf dem er vor acht Tagen gesessen hatte, als das merkwürdige Geräusch in seinem Ohr zum ersten Mal aufgetreten war. Er starrte auf den toten Fernsehapparat und überlegte, was er in den nächsten Stunden tun sollte. Am meisten graute ihm vor dem Lesen der E-Mails und der SMS auf seinem Handy. Jetzt, wieder in seiner gewohnten Umgebung, empfand er diese Nachrichten als gewaltige Bedrohung. Es war, als würden aus seinem Laptop und seinem iPhone Fangarme nach ihm greifen. Er fragte sich, ob das Zauberwort »online« in Wirklichkeit nicht bedeutete, dass man an der Leine gehalten wurde wie ein Hund und sich nicht mehr frei bewegen konnte. Vor Paulas Rückkehr musste er sich unbedingt noch duschen und rasieren. Die Vorstellung, dass er ihr ungewaschen gegenübersäße oder später mit ihr im Bett läge, löste eine gewisse Beklemmung in ihm aus. Er hoffte inständig, dass Paula keine Lust auf Sex hatte. Martin stand auf und ging ins Schlafzimmer. Auf Paulas Nachtkästchen lag ein Buch. Es war von Paul Auster und hieß Unsichtbar. Paula hatte sich angewohnt, Sätze, die ihr wichtig erschienen, vorne in ihre Bücher hineinzuschreiben. Martin war neugierig, ob sie bereits etwas Notierenswertes gefunden hatte. Er schlug das Buch auf und fand einen einzigen Satz: Sex ist der Herr und Heiland, die einzige Erlösung auf Erden. Er las ihn zweimal und fragte sich, weshalb Paula ausgerechnet diesen Satz aufgeschrieben hatte. Wenn Sex für sie tatsächlich die einzige Erlösung auf Erden war, dann hatte sie diesen Glaubensgrundsatz in den letzten Jahren vor ihm geheim gehalten. Oder führte Paula ein Doppelleben? Hatte sie ein Verhältnis, von dem Martin nichts wusste? Er schlug die Bettdecke zurück und untersuchte mit klopfendem Herzen das Leintuch. Er schaltete die Nachttischlampe ein, um besser sehen zu können, aber sosehr er sich auch bemühte, er fand weder Spermaflecken noch andere Spuren, die auf sexuelle Aktivitäten seiner Frau während seiner Abwesenheit hingedeutet hätten. Martin knipste die Lampe wieder aus und kam sich vor wie der letzte Spießer. Er wollte gerade gehen, als sein Blick auf die Medikamentenpackung neben dem Paul-Auster-Buch fiel. Ach, du heilige Scheiße, dachte er. Was bin ich nur für ein Idiot! Es war ein Hormonpräparat, das da auf dem Nachtkästchen lag. Seit einigen Monaten nahm Paula diese Tabletten, weil sie unbedingt schwanger werden wollte. Es war exakt an Paulas siebenunddreißigstem Geburtstag am 12. Juli gewesen, als sie beim Abendessen plötzlich zu weinen begonnen und dann zu Martins Verblüffung gesagt hatte, dass sie sich nichts sehnlicher wünsche als ein Kind. »Alle in meiner Umgebung haben Kinder, nur ich habe keines, dabei bin ich schon so alt«, jammerte sie, und Martin wusste gar nicht, was er darauf antworten sollte. Über Kinder hatte er mit Paula nie gesprochen, weil er annahm, dass sie keine wollte. Für ihn waren Kinder nie ein Thema gewesen, und erst als Paula diesen Wunsch mit solchem Nachdruck geäußert hatte, musste er sich notgedrungen fragen, ob er überhaupt bereit wäre, Vater zu werden. Die Antwort auf diese Frage fiel eindeutig aus: Nein, er wollte keine Kinder, weil sie ihm auf die Nerven gingen. Er wollte sein Leben so weiterführen wie bisher. Allerdings vermied er es, einen genaueren Blick auf dieses Leben zu werfen, weil ihm dann vielleicht bewusst geworden wäre, dass dieses Leben nichts anderes war als die ewige Wiederkehr des Gleichen. Sein ganzes Sinnen und Trachten ging offenbar dahin, im Fahrwasser der Belanglosigkeiten weiterzudümpeln und nur nicht unterzugehen. In der Küche warf Martin einen Blick in den Kühlschrank. Darin stand noch immer die halbleere Weißweinflasche vom 3. November. Ansonsten hatte Paula wie üblich dafür gesorgt, dass der Kühlschrank gut gefüllt war. »Der Kühlschrank ist voll, aber ich bin leer«, raunte Martin selbstmitleidig. Er ärgerte sich, dass er sich nicht einmal auf ein Glas Wein am Abend freuen konnte. Selbst auf Alkohol war ihm die Lust vergangen. Martin holte sein iPhone aus der Sakkotasche und teilte Paula per SMS mit, dass er bereits zu Hause sei. Nachdem er die Kurznachricht abgeschickt hatte, fiel ihm ein, dass Paula wahrscheinlich annehmen würde, dass es ihm gut gehe. Also schickte er ihr sofort eine weitere Nachricht: es geht mir nicht gut. m. So konnte Paula nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Martin stellte sich ans Wohnzimmerfenster und wischte mit der Hand über die beschlagene Scheibe. Obwohl es immer noch in Strömen regnete, konnte er hinter einem Fenster im Haus gegenüber schemenhaft eine Frau erkennen, die gemütlich auf einer Couch saß und telefonierte. Die Frau lachte immer wieder auf und warf dabei ihren Kopf zurück wie ein junges Pferd. Martin hasste diese Frau instinktiv, weil sie offenbar rundum glücklich war und keine Ahnung hatte, wie beschissen es ihrem Beobachter ging. Er empfand es als eine unglaubliche Schweinerei, dass diese Frau so tat, als wäre alles in bester Ordnung. Wütend wandte er sich ab und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Halb zwei. Am liebsten hätte er sich jetzt hingelegt, um nie wieder aufzuwachen. Aus der Innentasche seines Sakkos holte er das Rezept, das er im Krankenhaus bekommen hatte. Er überflog die Namen der Medikamente und ging in sein Arbeitszimmer, wo er den Laptop einschaltete. Im Zimmer war es kalt, und Martin drehte den Heizkörper auf die höchste Stufe. In der rechten oberen Ecke des E-Mail-Icons prangte jetzt in dem roten Kreis die Zahl 183. Martin ignorierte sie einfach und gab in das Suchfeld nacheinander die Begriffe Trittico, Rivotril und Zoldem ein. Das waren jene Medikamente, die ihm die unsympathische Ärztin von der neurologischen Abteilung verschrieben hatte. TRITTICO
Antidepressivum
Häufige Nebenwirkungen: Müdigkeit, Magen-Darm-Beschwerden, Schwindel, Mundtrockenheit, Schlafstörungen, Kopfschmerz, Blutdruckabfall, Unruhe, Herzrhythmusstörungen RIVOTRIL
Beruhigungsmittel, Anti-Epileptikum
Häufige Nebenwirkungen: Müdigkeit, Schläfrigkeit, Mattigkeit, Schwindelgefühl, Benommenheit, Unruhe, Desorientierung, Erregbarkeit, Reizbarkeit, Nervosität, Angstzustände, aggressives Verhalten, Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, Alpträume, Depressionen ZOLDEM
Tranquilizer
Häufige Nebenwirkungen: Kopfschmerz, Schwindel, emotionale Dämpfung, verminderte Aufmerksamkeit, Verwirrtheit, Vertigo, Doppeltsehen, Hautreaktionen, Amnesie Die häufigen Nebenwirkungen waren allerdings harmlos verglichen mit jenen, die bei Einnahme dieser Medikamente selten oder sehr selten auftreten konnten. Da war die Rede von Wahnvorstellungen, Wutanfällen, unangemessenem Verhalten oder Impotenz. Impotent kann ich nicht mehr werden, weil ich es schon bin, dachte Martin niedergeschlagen, und er überlegte, ob er sich diese Medikamente überhaupt besorgen sollte. »Ach, scheiß drauf, ist ohnehin alles egal«, murmelte er, bevor er die Wohnung...