Pamuntjak | Alle Farben Rot | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 672 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Pamuntjak Alle Farben Rot


15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8437-1183-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 672 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-1183-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wenige Jahre, bevor in Deutschland und Frankreich Millionen junger Menschen demonstrierten und gegen die enge Welt ihrer Eltern rebellierten, waren die Straßen Indonesiens rot von Blut. Im Jahre 1965 hatte sich der junge General Suharto an die Macht geputscht, seitdem war das Land geteilt in Freund und Feind der neuen Herrschenden, verfolgt wurden alle, die im Verdacht standen, Kommunisten zu sein. Misstrauen und Angst spalteten Dorfgemeinschaften und Familien, viele verloren in gewaltsamen Unruhen ihr Leben, Tausende wurden ohne Prozess in Strafkolonien auf entlegenen Inseln verschleppt. Jahrzehnte später, lange nach Suhartos Sturz im Jahre 1998, sucht eine Frau auf der Gefangeneninsel Buru nach den Spuren des Mannes, den sie in jenen Tagen geliebt und dann verloren hat. In den Wirren einer Straßenschlacht wurden Amba und Bhisma damals auseinandergerissen, und Amba wusste all die Jahre nichts über das Schicksal ihrer großen Liebe. Bis sie eines Tages eine anonyme Mail erhält, aus der hervorgeht, dass Bhisma damals nach Buru verschleppt wurde. Und so macht sich Amba auf, um endlich Antworten auf die Fragen zu finden, die sie schon so lange quälen. Entlang der Linien des indonesischen Nationalepos Mahabharata, jener großen Erzählung von Liebe und Krieg, entfaltet Laksmi Pamuntjak das Panorama einer jungen Nation und ihres bewegten 20. Jahrhunderts zwischen Kolonialzeit und Unabhängigkeit, Diktatur und Demokratie.

Laksmi Pamuntjak ist eine indonesische Essayistin, Lyrikerin und Journalistin, sie veröffentlicht u. a. im indonesischen Monatsmagazin Tempo und in The Guardian. Ihr Roman »Alle Farben Rot« stand auf der Weltempfänger-Bestenliste und wurde 2016 mit dem Liberaturpreis der LitProm ausgezeichnet. Sie lebt in Jakarta.
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1


Schatten der Nacht

Vor der Insel Buru liegt das Meer tief und abwartend gleich einer Mutter. Die Uferwiesen sind von Tau überzogen, und die Tropfen funkeln im Morgenlicht wie zersplittertes Glas, das ein Geheimnis birgt. Der helle Tag lässt Felder und Wiesen schweigen. Erst die Nacht wird eröffnen, was im gleißenden Licht verborgen ist.

Aber ab und zu geschieht etwas auf dieser fernen Insel – etwas Außergewöhnliches, das der Alltag nicht beiseiteschieben kann. So etwas besprechen die Leute flüsternd, ähnlich dem Wind, der über die Steine streicht und schließlich über den Gräbern von Unbekannten erstirbt.

Und in den Tälern zwischen den Bergketten gibt es Geschichten, die sich wie durch ein Gedicht oder einen Zauberspruch unerkannt entfalten.

Wie diese Geschichte von Amba und Bhisma.

***

WAEAPO, BURU, MÄRZ 2006

Vor drei Tagen hatte man zwei Frauen eilends ins Krankenhaus von Waeapo gebracht. Die erste kam aus Jakarta – das sagte zumindest der Personalausweis in ihrer Tasche, der auf den Namen Amba Kinanti Eilers ausgestellt war. Demnach war sie zweiundsechzig Jahre alt. Von ihrem Gesicht her war sie wohl eine Indonesierin und hatte nach der Heirat mit einem Ausländer dessen Familiennamen angenommen. Aber das spielte hier keine Rolle: Wie alle wurde auch sie nur unter dem ersten Namensteil registriert. Bei der Einlieferung war sie bewusstlos; sie war von der zweiten Frau angegriffen und schwer verletzt worden.

Ihre Angreiferin war Mukaburung, die Adoptivtochter eines Klanoberhaupts von Kepala Air in Waeapo. Manche sagten, sie hätte sich bei dem Vorfall selbst verletzt, aber das wurde nie geklärt. Auf alle Fälle nahm das Krankenhaus auch sie für einige Tage auf. Wenn es Befürchtungen gab, dass sie die Frau aus Jakarta nochmals angreifen würde, so zeigte die Krankenhausleitung diese nicht.

Aber auch hiervon abgesehen, hatten die Mitarbeiter allen Grund, in heller Aufregung zu sein. Ihr Krankenhaus lag am Oberlauf des Waeapo und war wahrlich nicht groß. Seine Monatsberichte bestanden fast ausschließlich aus Eintragungen über rostiges Gerät und abgelaufene Medikamente; denn hier wurde kaum etwas jemals gebraucht. Patienten mit einer ernsteren Krankheit oder in einem kritischen Zustand wurden nur hierhergebracht, wenn die Straßen aufgrund von Regen und Schlamm unpassierbar waren. Ganz eindeutig, in diesem Krankenhaus hatte es bis dahin noch nie solch einen spektakulären Fall gegeben.

Aber auf Buru war man gewohnt, Fragen zu stellen und keine Antworten zu erhalten. Alles deutete auf eine geheime Absprache zwischen der Krankenhausleitung und dem Oberhaupt der örtlichen Stammesgemeinschaft hin. Beim Mitarbeitertreffen am Tag nach der Einlieferung verlor der Krankenhausdirektor nur drei Sätze über den Fall: »Beide Frauen benötigen gleichermaßen unsere Aufmerksamkeit. Wir haben alles unter Kontrolle. Und keine weiteren Fragen bitte.«

Was auch immer hinter den Kulissen vor sich gegangen sein mag – das Krankenhaus war stolz, dass man das Leben der Frau namens Amba hatte retten können. Nur eine Sache trübte die Freude: Als die Frau zu sich kam, sprach sie noch kurz, etwa fünf Minuten, dann aber verfiel sie in ein tiefes Schweigen. Da niemand sie kannte, wusste man letztlich nichts über sie. Sie stammte aus Jakarta und war wahrscheinlich Javanerin, aber irgendetwas Nicht-Javanisches war auch an ihr.

Sie hatte ein interessantes Gesicht, markant und würdevoll, und sicherlich würde jeder sie jünger schätzen als die zweiundsechzig Jahre, die ihr Ausweis besagte. Auch ihre Augen waren überraschend, unbestreitbar die Augen einer Mutter, Augen, die für die Liebe eines Kindes auf vieles zu verzichten gelernt hatten. Ihr Mund mit der strengen und dennoch sinnlichen Linie der Lippen deutete auf eine gewisse Vorsicht und Verletzlichkeit hin, so als sei er seit Jahren gewohnt, Geheimnisse nicht preiszugeben. Als sie zu Bewusstsein kam, war ihr Verhalten rätselhaft. Sie beharrte darauf, ihren Mann zu sehen, der in einem Zimmer am Ende des Korridors liege. »Er ist hier«, wiederholte sie unablässig. »Ich bin von weit gekommen, um ihn zu sehen.«

Aber es gab keinen Patienten in diesem Trakt, auf den ihre Beschreibung auch nur im Entferntesten hätte zutreffen können. »Wir würden Ihnen ja gerne helfen«, sagte der Leiter des Krankenhauses, »aber zu uns kommen nur Ortsansässige mit kleinen Verletzungen. Jeder kennt jeden hier. Und der einzige Patient, der schon etwas länger in unserem Krankenhaus liegt, ist Manaboya, ein Weiberheld. Der Vater eines Mädchens, mit dem er ein Techtelmechtel angefangen hat, hat ihn mit dem Beil attackiert und fast zerhackt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das der Mann ist, den Sie meinen.« Der Direktor war sich unsicher, ob die Frau überhaupt zugehört hatte. Aber nach einer Weile des Schweigens sagte sie: »Mein Mann ist schon lange tot. Eigentlich war ich die ganzen Jahre mit einem Toten verheiratet.« Von da an blieb sie stumm, in sich zurückgezogen, fast wie im Wachkoma.

***

Vierundzwanzig Stunden später hatten sich ein paar Einzelheiten mehr herumgesprochen. Demnach hatte man die beiden Frauen bei heftigem Regen auf einer kleinen, hügeligen Lichtung mitten im Wald gefunden. Amba blutete stark, umarmte aber weiterhin fest einen Erdhaufen, offenbar ein einzelnes Grab auf jener Lichtung. Mukaburung kniete unweit von ihr. Sie hatte den Blick auf das Grab gerichtet und hielt ein Messer in der Hand, von dem noch Blut tropfte. Abgesehen von der Waffe und dem Blut war dieser Anblick nicht allzu ungewöhnlich. Jemand, der die Gebräuche der Leute am Oberlauf des Waeapo – die ursprünglichen Bewohner sagen am »Kopf des Wassers« – kennt, der weiß, dass diese ihre Toten wie Lebende umarmen. Und zudem hat, wer hier lebt, schon viele erstaunliche Vorkommnisse im Wald gesehen, bei denen Tod oder Sex oder Tod und Sex eine Rolle spielten.

Als man Mukaburung fragte, was vorgefallen sei, ereiferte sie sich: »Diese dahergelaufene Frau hat kein Recht, dieses Grab zu umarmen.« Der Anblick hatte in ihr eine unbändige Wut entfacht. Wusste die andere denn nicht, dass dies das Grab von Mukaburungs Mann war, den der Häuptling selbst, ihr Adoptivvater, ihr angetraut hatte?

***

Ein fremder Mann saß im Verwaltungsbüro. Keiner hatte ihn je zuvor gesehen. Dies versetzte das Krankenhaus von Waeapo erneut in Aufregung.

Wie Amba, so schien auch dieser Mann wie vom Himmel gefallen, und offenbar kam er, um nach ihr zu sehen. Zwei Dinge hatte das Krankenhaus nun zu tun. Man musste dem Mann erläutern, was nach Meinung des Krankenhauses geschehen war. Und zudem sollte man sichergehen, dass der Fremde die Patientin wirklich kannte. Beide Aufgaben wurden Oberarzt Dr. Wasis übertragen.

Dr. Wasis war ein aufrechter und geradliniger Mann, und das sprach auch aus seinem Äußeren, seiner Haltung und seiner Stimme. Seine Mitarbeiter hatten ihn informiert, dass der Besucher einige »Freunde bei der Polizei« hatte. Somit war klar, dass diese »Freunde« den Fremden auf das Krankenhaus verwiesen, wenn nicht gar dorthin geleitet hatten. Also hieß es für alle, vorsichtig zu sein. Auf der Insel vermied man, mit Polizei oder Militär zu tun zu haben. Keiner wollte in irgendetwas hineingeraten.

Aber hinsichtlich einer Beobachtung konnte und wollte niemand seine Zunge im Zaum halten: Der Fremde konnte unmöglich der Sohn der Frau aus Jakarta sein. Er war zwar wesentlich jünger als sie, aber immerhin Mitte vierzig und damit nicht jung genug. Demnach war er vielleicht ein Kollege, ein Geschäftspartner oder gar ihr Liebhaber, warum nicht? In seinem Gesicht deutete nichts auf eine noch so entfernte Verwandtschaft mit ihr hin. Die einzige Gemeinsamkeit – soweit dieses Wort in diesem Zusammenhang überhaupt in Betracht gezogen werden konnte – war das Außergewöhnliche ihrer beider Erscheinung, das sich gegen jede Einordnung sperrte. Anders als die Frau war der Fremde dunkelhäutig mit einem glänzend dunkelkaramell-braunen Teint. Seine Gesichtszüge waren ein wenig melanesisch, und seine Augen hatten eine Farbe irgendwo zwischen dunkelgrün und goldbraun. Zudem war er mindestens ein Meter achtzig groß und von drahtig muskulöser Statur. Dies alles bot den Krankenschwestern viel Gesprächsstoff, und sie diskutierten heiß, teils lüstern kichernd, was es mit dem Mann wohl auf sich habe.

Früher, vor langer Zeit, kamen nur Seefahrer an Burus Küsten, vornehmlich Bugis aus dem benachbarten Sulawesi und Leute von der kleinen Insel Buton. Das waren kräftige Kerle, geradeheraus, die das Meer liebten; nur wenige von ihnen ließen sich dauerhaft auf der Insel nieder. Obgleich die landschaftlichen Gegebenheiten nicht gerade einladend waren und die Einheimischen als streitbar und widerspenstig galten, hatte sich dies in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Durch eine ungewöhnliche, von Zwang gezeichnete Geschichte war Buru ein Magnet und vielfarbiger Ort geworden.

Doch kehren wir zu dem Fremden im Büro des Krankenhauses zurück. Dort berichtete Dr. Wasis dem Besucher, was sich bei der Einlieferung der beiden Frauen zugetragen hatte: »Als die Frau hier ankam, hatte sie einen kleinen Gegenstand in der Hand. Sie hielt ihn so fest, dass wir zwei Pfleger und eine Schwester brauchten, um ihre Faust zu öffnen. Als wir das Ding schließlich hatten, war ihre Haut beinahe mit abgelöst.«

»Aber Sie sagten doch«, warf der Besuch sichtlich erschüttert ein, »dass sie mehrere Stichwunden hatte.«

»Sehr wohl, und dennoch schien sie wie an diesem Objekt zu kleben«, erwiderte der...


Pamuntjak, Laksmi
Laksmi Pamuntjak ist eine indonesische Essayistin, Lyrikerin und Journalistin, sie veröffentlicht u. a. im indonesischen Monatsmagazin Tempo und in The Guardian. Ihr Roman 'Alle Farben Rot' stand auf der Weltempfänger-Bestenliste und wurde 2016 mit dem Liberaturpreis der LitProm ausgezeichnet. Sie lebt in Jakarta.

Laksmi Pamuntjak ist eine renommierte indonesische Essayistin, Lyrikerin und Journalistin. Sie veröffentlichte u. a. zwei Gedichtbände (Ellipsis und The Anagram), den Essay Perang, Langit dan dua perempuan („Krieg, Himmel und zwei Frauen“) über Gewalt und die Ilias und eine Kurzgeschichtensammlung. Sie lebt mit ihrer Familie in Jakarta.



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