E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Pamuntjak Herbstkind
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8437-1751-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1751-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Laksmi Pamuntjak ist eine indonesische Essayistin, Lyrikerin und Journalistin, sie veröffentlicht u. a. im indonesischen Monatsmagazin Tempo und in The Guardian. Ihr Roman »Alle Farben Rot« stand auf der Weltempfänger-Bestenliste und wurde 2016 mit dem Liberaturpreis der LitProm ausgezeichnet. Sie lebt in Jakarta.
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1.
Ich hatte zwei Väter: einen, der mich gezeugt, und einen anderen, der mich großgezogen hatte, und beide waren eines pflichtschuldigen und einsamen Todes gestorben. Das erfuhr ich, als ich bereits vierzig war, im Herbst 2006. Mein leiblicher Vater war zu dem Zeitpunkt allerdings bereits seit sechs Jahren tot, zumindest sagte das meine Mutter, auf einer Insel gestorben, die für ihn sowohl Gefängnis als auch Erlösung gewesen war, sowohl Vergangenheit als auch Zukunft. Meine Mutter erzählte mir im Herbst davon, vier Monate nachdem mein Stiefvater, der einzige Vater, den ich je gekannt und geliebt hatte, an einem Herzinfarkt gestorben und sie in der Lage gewesen war, auf die besagte Insel zu reisen, um herauszufinden, wann und wie mein anderer Vater gestorben war.
In der Sprache meiner Mutter ist das Wort »Herbst« mit dem Wort »fallen« verwandt, und es gibt mindestens zwei Begriffe für »fallen«, und noch mehr Bedeutungen. Ein Wort für fallen ist Das Gleichgewicht verlieren, stürzen, hinfallen. Zusammenbrechen, krank werden – Umgeworfen, gekappt werden, zerbrechen. – sich verlieben, jemandem verfallen, ohne dass es einen allgemeingültigen Begriff dafür gäbe, sich zu entlieben, sich wiederaufzurichten.
Ein anderes Wort für fallen ist , und Herbst heißt – die Zeit des Fallens. Fallen bedeutet sterben, einen heldenhaften Tod sterben, um genau zu sein: Krieger und Soldaten fallen, sie sind nicht einfach , also tot. Wer gefallen ist, wird unsterblich, während jene, die sterben, einfach nicht mehr sind.
Als Schulkinder sangen wir immer ein Heldenlied, das heißt: die gefallene Blüte, ein Blumentod. Dabei handelt es sich um rote Rosen und Jasmin – rot und weiß, Feuer und Glaube, Blut und Heiligkeit. Wir sahen zu, wie die Ältesten Abertausende Blütenblätter auf den Gräbern unserer Nationalhelden verstreuten, bis sie vollkommen unter den Farben unserer Flagge verborgen lagen. Dann hörten wir mit halbem Ohr der wiederverwendeten Predigt des Ustad zu, ohne dass wir den berauschenden Duft des Jenseits hätten ignorieren können, der zum Himmel aufstieg. Nachdem die Trauernden gegangen waren und man bei niemandem mehr betteln konnte, versammelten sich die Straßenkinder um das Grab und stopften die Blütenblätter in Plastiktüten, um sie aufs Neue zu verkaufen. Vielleicht war es ihnen bewusst, vielleicht auch nicht, aber das ist ebenfalls eine Art und Weise, die menschliche Seele am Leben zu erhalten, nachdem sie in Stücke zerbrochen wurde: sie aufheben und einsammeln, um sie im Dienste der Lebenden wiederzuverwenden.
Ich wurde im Spätsommer geboren und wuchs auf, ohne mir des überirdischen Zaubers bewusst zu sein, der dem Herbst innewohnt. Wo ich geboren wurde, in Jakarta, der Hauptstadt von Java, kennt man viele Jahreszeiten. Es gibt die Paarungszeit, die Scheidungszeit, die Typhus- und die Denguefieberzeit. Es gibt die Bestechungszeit, die rassistische Zeit, die fromme Zeit. Und dann ist da noch die dumme Zeit – die oftmals alle drei letztgenannten einschließt. Die meiste Zeit über wechselt es allerdings zwischen Trocken- und Regenzeit – wobei letztere meist mit einer Luftfeuchtigkeit ausgelegt ist, die uns bisweilen mit bleierner, dumpfer Betrübnis erfüllt. Den Herbst aber kennen wir nicht, es sei denn, mit Herbst ist eine Jahreszeit gemeint, in der außergewöhnlich viele Helden auf dem Schlachtfeld fallen. An offizielle Helden glaube ich nicht einmal – Helden findet man im Alltäglichen, in jenen, die Opfer bringen, und jenen, die erdulden.
Meine beiden Väter waren sowohl Helden gewesen als auch Nicht-Helden.
Mein leiblicher Vater war auf Buru gestorben, einer Insel im Osten des indonesischen Archipels, nachdem er über zwanzig Jahre lang sein Leben den dortigen Bewohnern gewidmet hatte. Er hieß Bhisma Rashad. Obwohl er selbst kein Kommunist war, kam er 1971 als politischer Gefangener unter dem antikommunistischen Regime Suhartos auf die Insel. Als das Gefangenenlager 1979 aufgelöst wurde, hätte er Buru verlassen und in die Zivilisation zurückkehren, etwas aus seinem Leben machen können. Aber er kehrte nicht zurück. Er war Arzt, und das taten Ärzte eben: Sie blieben.
Bhismas Tod war nicht nur pflichtschuldig und einsam gewesen, sondern auch gewaltsam. Ortsansässige hatten ihn am Rande eines abgelegenen Fußwegs mit dem Gesicht zur Erde vor einem Baum liegend gefunden, eine einzige Kugel hinten in seinem Schädel. Doch so sei es nicht passiert, erzählte sein Mörder der Polizei. »Ich habe so viele Kugeln in den Irren gejagt, wie kann es sein, dass er keine Einschusslöcher hat?« Später nahm der Täter widerstrebend hin, dass er sich das alles entweder nur eingebildet hatte oder dass sein Opfer ein Prophet oder Heiliger oder »irgend so ein Scheiß« gewesen sein musste. »Verdammt«, sagte er, »der Typ sah aus wie Jesus.« Und anscheinend redete Bhisma viel, selbst noch, als sein Mörder mehrmals auf ihn geschossen hatte.
Zuerst ließ der Täter Bhisma auch reden. Bis Bhisma anfing, darüber zu predigen, was der Mensch aus Religion machte und wie Religion den Hass der Menschen schürte und wie traurig er als Muslim darüber war, dass der Islam zum Schlachtruf für Wahrheit und Sieg und nicht für Demut und Brüderlichkeit unter den Menschen geworden war. »Da dachte ich«, hatte der Mörder gesagt, »dieses Arschloch muss ich einfach erledigen. Also habe ich ihm eine Kugel hinten in den Kopf gejagt.«
Mein leiblicher Vater war also für das gestorben, woran er glaubte. Er war ein pflichtschuldiger Mensch gewesen. Und da meine Mutter so krank vor Liebe zu ihm war, war es ihre geringste Sorge, dass man ihn beschuldigte, nicht von dieser Welt zu sein. Genauer gesagt, wollte jede einzelne Faser in ihr genau das bestätigt sehen: Dein Vater war wirklich ein Heiliger, sagte sie; er konnte erst sterben, als er selbst den Zeitpunkt seines Todes bestimmt hatte. Meine Mutter heißt Amba, und offensichtlich war es ihr bestimmt, ein Leben voller Liebeskummer zu führen.
Woran ich glaube, ist dagegen viel simpler. Im Tod war mein leiblicher Vater mir lange bevor ich wusste, wer er war, begegnet, und womöglich war das gar kein Wunder: Es war vielleicht einfach das, was Blutsbande ausrichteten. Sie suchten einen und bahnten sich ihren Weg hinein. Denn dort, in einem wiederkehrenden Traum, lag er, ein Mann in Weiß, das Gesicht zum Boden in einer roten Lache, und wie sauber die Abgrenzung zwischen den Farben war: Rot und Weiß, rein, nichts verschwamm, nichts vermischte sich. Ein Mann, der, wenn ich ihn umdrehte, mein Gesicht trug.
Der Tod meines Adoptivvaters war ebenfalls eine Art Mord gewesen. Er war Deutscher und hieß Adalhard Eilers. So wie er gestorben war, das berichtete zumindest die Hausangestellte, hatte er den Zeitpunkt seines Todes nicht selbst bestimmt (er war eindeutig nicht heilig, so wie mein Erzeuger), aber anscheinend um das Recht gekämpft, seine letzte Ruhestätte aussuchen zu dürfen. Es sah so aus, als wäre er von seinem Arbeitszimmer in mein altes Schlafzimmer gekrochen, und zwar in der unverschämt kurzen Zeit, die er gehabt haben musste, nachdem sein Herz aufgegeben hatte, um sich dort auf mein Bett zu legen und sich an einem warmen und vertrauten Ort einzurollen und zu sterben. Meine Mutter war nicht zu Hause, ich war im Ausland, er muss also schmerzhaft einsam gewesen sein. Ich war der Meinung, meine Mutter habe ihn umgebracht, weil es ihr nicht gelungen war, ihn so zu lieben, wie er es verdient hatte.
Der Herbst nahm nicht nur, er gab auch. Nachdem mir 2006 alles offenbart worden war, schickte er sich plötzlich an, zu meinem Schutzengel zu werden. Alles, was in meinem Leben gut war, geschah im Oktober oder November – eine erfolgreiche Auktion, ein Angebot für eine Einzelausstellung in einer bedeutenden Galerie, eine positive Kritik eines wichtigen Kunstkritikers, der Beginn einer neuen Liebe –, und oft stellten sich diese Ereignisse als wirkmächtiges Heilmittel für zuvor Erlittenes dar. Es war ziemlich leicht, sich daran zu gewöhnen.
Es war also eine Überraschung, als der Herbst im Jahr 2015 aufhörte, mich vor dem Fall zu bewahren. Zu der Zeit hatte ich meine Basis in London, aber als es geschah, als ich die Nachricht meiner Mutter erhielt, befand ich mich gerade in meinem heiß geliebten Madrid, wo ich zuvor drei Jahre lang mit meiner großen Liebe gelebt hatte. Inzwischen war ich neun Jahre älter; man hätte meinen können, ich könne die Beziehung zu meiner Mutter, die mich wie eine gewaltige Welle überflutete, besser meistern. Man hätte meinen können, ich wäre weniger selbstbezogen, weniger reizbar – oder würde zumindest so wirken –, denn niemandem bleibt irgendetwas erspart in dem Alter, man muss sich mit seiner Familie auseinandersetzen, ob man will oder nicht. Aber der Herbst versäumte es nicht nur, mich vor dem Fall zu bewahren; er beschloss, mir mit der Faust ins Gesicht zu schlagen, und zwar kräftig.
Genau wie 2006 waren eine E-Mail meiner Mutter, ein Todesfall und Manipulation im Spiel. Der Tod betraf meinen Exmann, von dem ich seit Jahren geschieden war....