E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
Paprotta Die ungeschminkte Wahrheit
17001. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-98323-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Ina-Henkel-Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
ISBN: 978-3-492-98323-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Astrid Paprotta lebt als freie Autorin in Frankfurt, dem Schauplatz all ihrer Bücher. Für ihre Kriminalromane um Kommissarin Ina Henkel, deren Fälle sämtlich zu den »Krimihöhepunkten des Jahres zählen« (Die Welt), wurde sie mit dem Deutschen Krimipreis und dem renommierten »Glauser« ausgezeichnet. Nach »Mimikry«, »Sterntaucher«, »Die ungeschminkte Wahrheit« und »Die Höhle der Löwin« erschien zuletzt »Feuertod«, in dem erstmals der Frankfurter Hauptkommissar Niklas und sein LKA-Kollege Potofski ermitteln.
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4
Früher Abend im Ostpark, die Sonne zog sich langsam zurück und hinterließ nur schwere Luft aus Dampf und Rauch. Zu dritt durchkämmten sie die Anlagen und fanden die Obdachlosen an einem kleinen Weiher. Ein paar lagen auf Bänken, doch die meisten hockten schwatzend auf einer Wiese. Männer pfiffen, als sie Ina sahen, und eine Frau hielt ihr ein Kissen entgegen: Sven, das war Sven, ihr kleiner Sohn. Sie saß bei den anderen und war doch allein, eine Frau, die nur einen Fetzen trug, ein durchlöchertes Kleid ohne Farbe und Form. Nur mit den Haaren gab sie sich Mühe, die hatte sie hochgesteckt mit kleinen, farbig schimmernden Spangen.
Deppenarbeit, man lief herum und zeigte Fotos. Wer ist das, schon mal gesehen? Sie zeigten das Bild des lebenden Pit Rehbein und die beiden Leichenbilder, die immer gleich aussahen, wie Leichenbilder eben, auch wenn sich die Fotografen noch so große Mühe gaben. Anscheinend bekam man die Lider nicht richtig auseinander, und die Lippen blieben verzerrt. Man hatte sie abgeschminkt, die beiden namenlosen Toten, und jetzt waren Wachsgesichter zu sehen wie von vergammelten Puppen, die man aus dem Keller gekramt hatte.
Die Frau mit dem Kissen deutete auf den zweiten Toten und sagte gleichgültig: »Das ist der Vater von Sven.« Sie preßte das Kissen noch enger an ihre Brust. »Sven ist acht Monate alt.«
»Ach was«, rief ein älterer Mann mit langem Haar. »Ich bin auch schon der Vater von Sven gewesen. Jeder ist der Vater von Sven.« Er hob die Arme zum Himmel. »Alle Welt ist der Vater von Sven, das ganze Universum hat dieses Sofakissen gezeugt. Gib mal her.« Er riß Ina die Fotos aus der Hand. »Die nicht.« Er warf das Bild der Toten von der Kirche auf den Boden. »Der hier« – er tippte auf Pit Rehbein – »ist dieser arrogante Schnösel, der mir immer erzählt hat, ich hätte kein Klassenbewußtsein, na, was sagste jetzt? Ich hab schon am Band gestanden und Mehrwert produziert, da hat der noch seine Mama von innen gesehen. Der da« – jetzt tippte er auf den zweiten Toten – »ist so ’ne Art Kumpel von dem. Die waren was Besseres, das haben sie jedenfalls gedacht. Die hättet ihr hin und wieder hier gesehen, wenn das Wetter schön war und die Herren Langeweile hatten. Jetzt seht ihr sie gar nicht mehr, denn jetzt sind sie tot, hab ich recht?«
Das fragten sie alle: Sind die tot? Manche hatten eine große Scheu, die Fotos zu berühren, hielten sie behutsam zwischen zwei Fingern, und zuweilen sah es aus, als sprächen sie ein stilles, kleines Gebet. Ja, die beiden Männer hatten sie wohl dann und wann gesehen, kaum daß man sich erinnern konnte, was für Typen das waren. Flüchtige Bekannte, sehr flüchtige nur, kaum je ein Wort mit ihnen gewechselt, und überhaupt hatte man sie ewig und drei Tage nicht gesehen, die Frau schon mal gar nicht, nein.
Aber sie fragten: Sind die tot? Sind doch keine alten Leute, sind doch eher jung. Ist man doch noch längst nicht so krank, daß man abkratzt irgendwo. Tot, einfach so? Aber wenn die Bullen jetzt kommen, nicht wahr, wenn die kommen und fragen, dann sind sie nicht bloß einfach so gestorben, sind sie –
Ja, antworteten die Bullen darauf, um all die guten Ratschläge immer wieder zu verbreiten: Aufpassen, nicht allein bleiben, nicht an einsamen Orten schlafen. Ängstliche Gesichter gab es kaum, eher guckten sie ratlos und verwirrt. Wie jetzt? Der kommt doch nicht zu uns, oder doch? Warum denn, was ist das denn für einer, was haben wir dem getan?
Irgendwann am Abend, als die ersten schon schliefen, ein bißchen benebelt von der Wärme, vom Alkohol und dieser ganzen Fragerei, lehnte Ina sich gegen einen Baum und sah jenem Kollegen zu, der vom Betrugsdezernat gekommen war und die Mordkommission hübsch spannend fand, wie er immer sagte, ein Kollege, der schlechtsitzende Anzüge trug und auch noch Hans-Jürgen hieß. Er brüllte zwei Männer an: »Redet keinen Scheiß, ich will von euch nur wissen, wer das ist.« So machte er es die ganze Zeit, obwohl der korrekte Stocker den Appell ausgegeben hatte, man dürfe die Penner nicht duzen. Noch nicht einmal von Pennern dürfe man sprechen oder von Nichtseßhaften oder gar von Stadtstreichern, weil das wertende Ausdrücke waren; obdachlos, hatte Stocker gesagt, sei eine neutrale Wendung, obdachlos, das war okay.
Hans-Jürgen im graublauen Anzug scherte das nicht. »Du blöder Penner«, brüllte er, »das geschieht doch nur zu deinem Besten, willste denn der Nächste sein?«
Der blöde Penner hatte seinen Spaß mit ihm. Lachend rief er: »Ich pass’ schon auf mich auf.«
Und Hans-Jürgen brüllte: »Nix, der kommt von hinten!«
»Dann guck ich mich halt um.«
Zu Hause fiel Ina ein, daß Hans-Jürgen immer wieder seine Hände auf Schultern und Knie dieser Leute gelegt hatte, wenn auch nur, um sie dabei anzubrüllen. Sie wollte das nicht, mochte sie nicht berühren. Doch sie hatte sie höflich gesiezt.
Scheißspiel. Wie kam man raus aus seiner Haut?
Brüllen konnte sie ohnehin nicht. Manchmal setzte sie an und verschluckte sich dabei, sie brachte es auch nicht fertig, jemanden zu beschimpfen, selbst wenn ihr danach war. Aber schießen hatte sie gekonnt – einen Menschen abknallen, das ging.
Ina sah auf die Uhr: fürs Bett noch zu früh, auch wenn sie in der Nacht schon wieder raus mußte, um diesen Olaf im Großmarkt zu treffen, der sie vielleicht zu Pit Rehbeins mysteriöser Wohnung führte. Alles lag herum, auch die Frauenmagazine, die sie vor kurzem gekauft und noch immer nicht gelesen hatte, sie selber lag herum und glotzte im Zimmer umher.
Sie nahm den Kater vom Boden und setzte ihn auf ihren Bauch, doch Jerry hatte andere Pläne. Ein kurzer Hieb mit der Tatze, dann sprang er maunzend wieder herunter, um sich seiner Gummimaus zu widmen.
»Schön«, murmelte sie, »dann nicht.« Mit was so ein Tier zufrieden war. Mit nichts eigentlich. Die Maus besaß er seit Ewigkeiten und fand sie immer noch spannend.
Hans-Jürgen mit Bindestrich. So hatte er sich im Präsidium vorgestellt, und weil er eine zackige Art hatte, fand der Kollege Kissel es lustig, ihn Hajott zu nennen, was Hans-Jürgen sich aber schnell verbeten hatte. »Hans-Jürgen Auermann«, so hatte er sich vorgestellt, »Hans-Jürgen mit Bindestrich, Auermann wie das Fotomodell«, wobei es ihm natürlich nicht eingefallen wäre, Modell zu sagen. Er sagte auch nicht Computer, sondern dieses blöde Ding da, und seine geschiedene, jedoch immer noch eng mit ihm befreundete Frau hieß Bine. Ina kicherte vor sich hin: Bine und Hans-Jürgen, das paßte zusammen. Hans-Jürgen Auermann brachte jeden Tag ein Pausenbrot mit ins Büro, wenn auch nicht von Bine geschmiert, sondern notgedrungen von ihm selbst.
Komisch, daß sie ihn nie mit Namen anredete. Sie sagte: »Du, hör mal«, und er dann: »Bitte, ich höre.«
Die Lichterreihe im CD-Player erlosch: alle Titel gespielt. Wirklich alle? Welche CD war es denn gewesen? Sie sah nach: Techno, anscheinend zu leise gespielt. Sie konnte Musik nur genießen, wenn Nachbarn sie hinterher fragten, ob sie schwerhörig sei.
Das müßte weggehen, all das. Diese Zustände, sobald sie alleine war. Aufhören, an die Wand zu starren, um die eigene Waffe zu sehen, wie sie sich senkte, und das fremde, von ihr vergossene Blut. Sie sackte nach vorn und preßte die Stirn auf die Knie. Konzentrier dich. Denk an was anderes, denk, denk, denk, häng nicht herum. Nach einer Weile richtete sie sich wieder auf – okay, noch mal von vorn. Rehbein und der namenlose Mann waren in der Obdachlosenszene nahezu unbekannt, von flüchtigen Begegnungen einmal abgesehen, bei der beide offenbar keinen guten Eindruck hinterlassen hatten, weil sie als arrogante Schnösel galten, als Groß- und Lästermäuler. Die namenlose Frau kannte keiner. Auch mit Rehbeins merkwürdiger Unterhosen-Notiz konnte keiner etwas anfangen. Niemand wußte, was Vic553-delta zu bedeuten hatte.
Jetzt du.
Hast du sie gekannt? Oder greifst du dir nur Leute, die abseits kampieren, der Sicherheit wegen?
Und das Schminken ist deine persönliche Note? Willst du zeigen, wie kaltblütig du dennoch bist, den Tatort nicht unverzüglich zu verlassen, sondern an den Leichen auch noch – herumzumachen?
Üblicherweise gingen Serientäter nicht so rasend vor. Sie hatten diese Phantasie, viele Jahre lang, und dann kam der Tag, an dem sie es taten. Das reichte dann eine Weile, dann taten sie es wieder. Mußten es tun, blabla, dieses Psychogestammel, hatten eine schwere, schlimme Kindheit.
Du hast dich gleich ausgetobt. War es das gewesen, oder kriegen wir noch mehr?
Sie ging ins Schlafzimmer, klappte das Notebook auf und wählte sich ins Internet ein. Aber eigentlich war es sinnlos, es erneut zu versuchen, denn sie hatte schon im Präsidium alle erreichbaren Suchmaschinen nach Vic553-delta befragt. Dabei war genausowenig herausgekommen wie bei dem anschließenden Gegrübel, das Hauptkommissar Stocker gerne Brainstorming nannte.
Ein Jugo, wegen dem vic, eine Abkürzung des Namens, dann eine verschlüsselte Telefonnummer.
Etwas mit Flüssen, wegen dem Delta.
Etwas Mathematisches.
Ein Anagramm – ein was? Also, liebe Kollegin, eine Spielerei, bei der man die Buchstaben verdreht und ein neues Wort erhält. Kehlen wäre ein Anagramm von Henkel.
Aber mit Vic553-delta haute das nicht hin, denn Unsinn ergab Unsinn, nicht?
Wollte Rehbein nicht Romane schreiben? Ein Titel. Na, dann isses ja wurscht.
Sie sah auf die Uhr; im...