Pausewang | Ich war dabei | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Pausewang Ich war dabei

Geschichten gegen das Vergessen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7336-0160-7
Verlag: FISCHER Sauerländer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichten gegen das Vergessen

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-7336-0160-7
Verlag: FISCHER Sauerländer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Gudrun Pausewangs Erzählungen über den Nationalsozialismus: »Ein beeindruckendes Zeitzeugnis.« Süddeutsche Zeitung Zeitzeugin Gudrun Pausewang schildert in 20 kurzen, oft sehr persönlichen Geschichten Begebenheiten, die sich während der NS-Zeit abspielten. Mal verarbeitet sie eigene Erinnerungen, mal Augenzeugenberichte Dritter zu kurzen Erzählungen. In jeder einzelnen steckt das ganze Entsetzen und der ganze Schmerz über die Verbrechen der Nationalsozialisten. Geschichte, die jungen Lesern durch Literatur ganz unmittelbar zugänglich gemacht werden kann und muss - gegen das Vergessen.

Gudrun Pausewang (1928-2020) war Lehrerin und Schriftstellerin, lebte mehrere Jahre in Chile, Venezuela und Kolumbien. Seit 1970 schrieb sie für Kinder und Jugendliche und wurde in wenigen Jahren zu einer der erfolgreichsten deutschen Autorinnen.
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Er war noch warm


Ich reise viel mit der Bahn. Kürzlich saß ich auf einem Fensterplatz im ICE und machte mir Gedanken über Themen für mein nächstes Buch. Mir gegenüber, auf der anderen Seite des schmalen Tisches, saß eine alte Frau, die, wie es schien, auch ihren Gedanken nachhing. Manchmal begegneten sich unsere Blicke, und bald ergab sich ein Anlass, ein Gespräch zu beginnen.

Sie erzählte mir die folgende Geschichte:

»1941 war das. Im Herbst. Mitten im Krieg. Unser Vater war an der Front. An einem Donnerstag, einem herrlich blauen Herbsttag, haben sie die letzten Juden, die noch da waren, aus unserem Städtchen abgeholt.

Das kam nicht überraschend. Ich kann mich erinnern, dass unsere Mutter in den Wochen, ja Monaten davor oft verwundert sagte: ›Die Nassauers und die Grüns und die Birnbaums sind noch immer da. Haben sie die vergessen?‹

Es war um die Mittagszeit, das weiß ich genau, aber es gab bei uns noch nichts zu essen, weil unsere Mutter noch nicht vom Einkauf zurück war. Damals konnte man nicht kaufen, was und wie viel man wollte. Alles Essbare gab es ja nur auf Lebensmittelkarten und manchmal musste man beim Metzger oder Bäcker dafür Schlange stehen.

Oder im Kolonialwarenladen. Der hatte früher den Birnbaums gehört. Seit drei Jahren gehörte er der Frau Friesing, die aber längst nicht so freundlich wie die Birnbaums war. Früher hatte uns Herr Birnbaum immer ein Bonbon zugesteckt, wenn wir dort einkauften. Die Friesing war mürrisch und für Kinder hatte sie gar nichts übrig.

Wir vier, meine jüngeren Geschwister und ich, hatten schon Hunger. Ich war damals vierzehn Jahre alt und ging das letzte Jahr zur Schule. Aber dieser Donnerstag lag in den Herbstferien. Ich musste auf meine Geschwister aufpassen, während Mutter nicht daheim war. Weil die Kleinen quengelten, lehnte ich mich aus dem Fenster um nach ihr auszuspähen.

Da sah ich den geschlossenen, dunklen Lastwagen vor dem Haus der Birnbaums halten. Uniformierte Männer sprangen heraus. Ich wunderte mich, denn die anderen Male waren sie in der Morgendämmerung gekommen, so um fünf Uhr, als der ganze Ort noch geschlafen hatte.

Während zwei Männer ins Haus gingen, kamen schon die ersten Nachbarn gelaufen und gafften. Und da sah ich auch unsere Mutter mit zwei vollen Einkaufstaschen die Straße heraufkeuchen. Ich rannte zur Tür und ließ sie herein. Aufgeregt stürzte sie in die Küche, wo meine Geschwister schon warteten, setzte die Taschen ab, kippte sie aus, hängte sie sich an den Arm und rief: ›Schnell, schnell, die holen die Birnbaums ab! Nix wie rüber!‹

Und schon hob sie meinen jüngsten Bruder aus seinem Laufstall und rannte mit ihm hinaus. Wir anderen liefen ihr nach. Sie schob sich dicht bei der Tür der Birnbaums in die erste Reihe der Gaffer und zerrte uns neben sich.

Wir sahen zu, wie sie sie herausführten: Erst den Vater Birnbaum, der uns, als er noch der Besitzer des Kolonialwarenladens gewesen war, immer Kredit gegeben hatte. Er trug einen Rucksack, auf den eine Wolldecke geschnallt war. Dann die beiden Töchter: Elsbeth, die in der Schule zwei Jahre lang neben mir gesessen hatte und meine beste Freundin gewesen war, bevor meine Mutter mir den Umgang mit ihr verboten hatte. Und Nora, vier Jahre älter. Wenn ich bei Elsbeth drüben gewesen war, hatte ich Nora oft beim Klavierspielen zugehört. Sie konnte wunderschön spielen. Manchmal hatte sie gesungen und sich dazu auf dem Klavier begleitet. Vor allem bei dem Lied ›Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht‹ war ich überzeugt gewesen, dass es keine schönere Musik auf der Welt gibt als diese. Bei der Schlusszeile der ersten Strophe ›Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt‹ hatte ich manchmal einen Knoten im Hals, weil sie so tröstlich und zugleich so traurig war: Was aber, wenn Gott will?

Beide Mädchen trugen auch Rucksäcke. Dieses Gepäck, fuhr mir durch den Kopf, konnte nicht in den zehn Minuten gepackt worden sein, die seit der Ankunft des Lastwagens vergangen waren.

Nach Nora kam der alte Birnbaum heraus, geführt von Frau Birnbaum. Er hatte einen langen weißen Bart und sehr helle Augen. Noch heute stelle ich mir die Großväter in alten Geschichten so vor wie ihn. Er war schon über achtzig, halb blind und nicht mehr gut zu Fuß. Frau Birnbaum hatte ihn untergehakt. In der anderen Hand trug sie einen Koffer. Sie hatte verweinte Augen und vermied es, den Blicken der Gaffer zu begegnen. Ihr Hut saß nicht richtig. Ihr war wohl keine Zeit geblieben, seinen Sitz vor dem Spiegel zu überprüfen.

Und dann kam noch Jux aus der Haustür geschossen, Birnbaums Spitz. Er kläffte wie verrückt. Er bellte die Gaffer und vor allem die uniformierten Männer an, die jetzt die fünf Birnbaums zwangen, das schmale Klapptreppchen hinaufzusteigen, um die Ladefläche des Lastwagens zu erreichen. Vater Birnbaum stieg zuerst hoch und half den anderen von oben, indem er ihnen die Hände entgegenstreckte und sie hinaufzog.

Den alten Birnbaum packte auf einmal die Panik, als er die hohe Rückwand des Lastwagens vor sich sah. Er wollte wieder ins Haus zurück. Er begriff wohl gar nicht, was da mit ihm geschah. Aber Frau Birnbaum hielt ihn fest und die Uniformierten wollten ihn hochwuchten. Er zappelte in seiner Angst so sehr, dass er den Männern aus dem Griff geriet. Da wurden sie ärgerlich und packten ihn hart an. Ihm rollte der Hut vom Kopf und die Brille verlor er auch. Mit den Beinen zuerst kam er oben an.

Manche der Gaffer lachten bei diesem Anblick.

Und als Jux den Hut schnappte und ihn nun vorsichtig zwischen seinen Lefzen hielt, während er zu seinen Leuten in der Erwartung hinaufschaute, dass sie ihm den Hut abnehmen und ›Brav, Jux!‹ zu ihm sagen würden, amüsierten sich Zuschauer. Auch unsere Mutter. Auch meine Geschwister. Auch ich.

Der eine Uniformierte riss dem Hund den Hut aus dem Maul und warf ihn hinauf in den Wagen. Und als ich zuschaute, wie die Männer die Leiter hochklappten und die Plane der Rückwand schlossen, erhaschte ich noch einen Blick von Elsbeth. Sie sah mich an. Dann war die Wand zu, die Uniformierten sprangen auf, der Wagen rollte davon. Laut bellend rannte Jux hinter ihm her, bis alles in einem Staubwirbel verschwand.

Ich bückte mich nach der Brille, hob sie auf und schob sie in meine Schürzentasche. Meiner Mutter zeigte ich sie nicht. Ich hab sie übrigens noch heute.

Mutter drückte mir meinen kleinen Bruder in die Arme. Sie brauchte jetzt ihre Hände für die beiden Einkaufstaschen.

Die Haustür stand noch immer sperrangelweit auf. Das war ungewöhnlich. Die früheren Male, als sie die Sommerkorns und die Levis und die Hamburgers abgeholt hatten, waren danach die Häuser immer verschlossen gewesen und ein Zettel von der Polizei hatte an den Haustüren geklebt. Hier bei den Birnbaums war das wohl vergessen worden. Aber alle wussten: Von den Sommerkorns, Levis und Hamburgers war niemand wiedergekommen. Also würde auch niemand von den Birnbaums zurückkommen.

Und schon drängte sich ein Teil der Gaffer durch die weit offene Tür ins Haus. Unsere Mutter auch. Sie überließ es mir, ihr mit meinen Geschwistern zu folgen.

›Kommt, kommt, schnell!‹, hörten wir sie von innen rufen.

Als wir im halbdunklen Treppenhaus standen, sahen wir die Leute in die einzelnen Räume stürzen. Und schon kamen die ersten wieder zurück, schwer beladen: Frau Beck, unsere Nachbarin, hatte zwei Federbetten unter den Armen, Frau Möller von schräg gegenüber erschien auf einmal in Frau Birnbaums Pelzmantel, der alte Herr Lotterbach schleppte den verschnörkelten Lehnsessel, in dem der alte Herr Birnbaum immer gesessen hatte, zur Tür hinaus. Durch einen Türspalt sah ich, wie die Friesing, der jetzt der Kolonialwarenladen gehörte, Bett- und Tischwäsche aus einer Kommode zerrte.

›Wo bleibst du denn, Hilde!‹, hörte ich unsere Mutter aus dem Hintergrund rufen.

Sie war in der Küche, nein, in der Speisekammer, die man von der Küche aus erreichte. Ich kannte mich ja in Birnbaums Haus aus.

Als wir in die Küche kamen, hörten wir sie in der Speisekammer rumoren. Ich schaute mich um. Hier war alles noch so, wie ich es von früher, als ich noch fast jeden Tag hier ein- und ausgegangen war, in Erinnerung hatte. Nur eins war anders: Früher hatten die Birnbaums immer im Esszimmer gegessen. Jetzt war der Tisch hier in der Küche gedeckt: fünf Teller, fünf Suppenlöffel, fünf sauber gefaltete Stoffservietten, ein großer hölzerner Untersetzer in der Mitte. In einem Körbchen lagen ein paar Brotscheiben. Offensichtlich hatten die Birnbaums gerade essen wollen. Aber dazu waren sie nicht mehr gekommen.

›Setzt euch schon an den Tisch!‹, rief unsere Mutter aus der Speisekammer.

Ich wunderte mich. Der Tisch war doch nicht für gedeckt! Aber wir gehorchten ihr, wie immer. Sie würde wohl ihre Gründe haben, hier mit uns zu essen. Fünf Teller. Das passte genau für uns. Ich warf einen Blick auf den Herd. Auf ihm stand ein Topf. Ich konnte nicht sehen, was er enthielt, denn ein Deckel bedeckte ihn – bis auf einen Spalt, aus dem der Griff einer Schöpfkelle ragte.

Schon saßen Hans, der Zehnjährige, und Bertel, die Sechsjährige. Ich setzte Horsti, den jüngsten Bruder, dazu. Auch ich setzte mich. Wir warteten. Ein paar Mal ging die Küchentür auf, Gesichter schauten herein, grinsten, verschwanden wieder.

Es dauerte keine fünf Minuten, bis unsere Mutter schwer beladen aus der Speisekammer kam. Sie wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Ihre beiden prall gefüllten Taschen stellte sie neben dem Küchenschrank ab.

Hastig beugte sie sich über den Herd, hob den Deckel vom Topf und...


Pausewang, Gudrun
Gudrun Pausewang (1928-2020) war Lehrerin und Schriftstellerin, lebte mehrere Jahre in Chile, Venezuela und Kolumbien. Seit 1970 schrieb sie für Kinder und Jugendliche und wurde in wenigen Jahren zu einer der erfolgreichsten deutschen Autorinnen.

Gudrun PausewangGudrun Pausewang (1928-2020) war Lehrerin und Schriftstellerin, lebte mehrere Jahre in Chile, Venezuela und Kolumbien. Seit 1970 schrieb sie für Kinder und Jugendliche und wurde in wenigen Jahren zu einer der erfolgreichsten deutschen Autorinnen.



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