E-Book, Deutsch, 420 Seiten
Pelecanos Hard Revolution
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-86913-829-9
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 420 Seiten
ISBN: 978-3-86913-829-9
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Washington, D. C., 1968: Der junge schwarze Polizist Derek Strange fährt bei der Metropolitan Police mit seinem weißen Partner Streife, während sich die Atmosphäre in der Stadt immer weiter aufheizt: die Bürgerrechtsbewegung und der Marsch der Armen, die traumatisierten Rückkehrer aus Vietnam, Sex, Soul, Drogen, Morde, Unruhen und Rassismus. Inmitten dieser explosiven Gemengelage entspinnt sich ein tödliches Drama: Drei Weiße planen einen Banküberfall und ermorden einen Schwarzen, auch Dereks Bruder Dennis wird umgebracht – und in Memphis wird ein Attentat auf Martin Luther King verübt. Für Derek Strange, seine Freunde und seine Feinde ist nichts wie zuvor. Wer ist gut, wer böse – und wem kann man noch vertrauen? Die alten Kategorien gelten nicht mehr, die Welt ist komplex geworden.
Und die Revolution hat gerade erst begonnen ...
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EINS
DEREK STRANGE BEUGTE sich vor und ging in den Dreipunktstand, eine Hand auf dem Boden, Beine in Sprintposition. Er atmete gleichmäßig, wie es ihm sein Vater beigebracht hatte, und roch den intensiven Duft des April. Überall in der Stadt blühten Magnolien, Hartriegel und Kirschbäume. Der Wohlgeruch ihrer Blüten und die markante Note eines nahen Fliederstrauchs am Zaun einer Wohnanlage schwängerten die Luft. »Den Rücken hältst du gerade«, sagte Derek, »wie wenn er ein Esstisch wär. Aber bloß den Arsch in die Luft strecken ist nicht drin. Das ist deine Startposition. Dann rast du einfach los und schmeißt dich irgendwie in die Lücke. Und brichst durch.« Derek und sein samstäglicher Spielkamerad Billy Georgelakos waren in der Gasse, die hinter dem Three-Star Diner am östlichen Rand von Northwest Washington entlang eines Wohnblocks an der Kennedy Street mit einstelliger Nummer verlief. Die beiden Jungen waren zwölf. »So wie dein Lieblingsspieler«, sagte Billy, der auf einem Milchkasten saß und einen straff zusammengerollten Our Army at War-Comic in seiner fleischigen Hand hielt. »Yeah«, sagte Derek. »Jetzt wirste nämlich gleich Jim Brown in Aktion erleben.« Derek kam aus seiner Ausgangsposition hoch und explodierte nach vorn, eine Handfläche schwebte über der anderen, beide dicht vor seinem Brustkorb. Während er ein paar Schritte rannte, übernahm er einen imaginären Ball, wechselte abrupt die Laufrichtung, wurde langsamer, machte kehrt und ging zurück zu Billy. Derek hatte eine besondere Art, sich zu bewegen. Selbstbewusst, aber nicht großspurig; die Schultern gestrafft, eine gewisse Lockerheit in den Hüften. Er hatte sich den Gang von seinem älteren Bruder Dennis abgeschaut. Derek hatte die für sein Alter normale Größe, doch wie alle Jungen und die meisten Männer wünschte er sich, größer zu sein. Neuerdings hatte er, wenn er nachts im Bett lag, das Gefühl, spüren zu können, wie er wuchs. Der Spiegel über der Frisierkommode seiner Mutter sagte ihm, dass auch sein Oberkörper an Umfang zunahm. Billy war trotz seiner breiten Schultern und seines enormen Brustkorbs kein Sportler. Er hielt sich zwar über die Leistungen der lokalen Mannschaften auf dem Laufenden, aber sein Herz schlug für andere Dinge. Flipperautomaten, Spielzeugpistolen und Comichefte hatten es ihm angetan. »Und so hat Brown seine zwölf Yards in elf Läufen gegen die Skins geschafft?«, fragte Billy. »M-m, Billy, fang jetzt nicht davon an.« »Don Bosseler hat in dem Spiel mehr geschafft als Brown.« »In dem Spiel. Aber die meiste Zeit ist der so lahmarschig, dass er nicht mal Jimmys Laufschuhe von hier nach da bringen würde. Und zwei Wochen davor, in Griffith? Da ist Jim Brown einhundertzweiundfünfzig Yards gelaufen. In dem Spiel hat mein Mann den Allzeitrekord für Rushs aufgestellt, Billy. Und Don Bosseler? Kannste vergessen.« »Na schön«, sagte Billy, und ein Lächeln erschien in seinem breiten Gesicht. »Dein Mann ist gut.« Derek wusste, dass Billy ihn nur ärgern wollte; dennoch konnte er nicht anders, als sich aufzuregen. Nicht, dass Derek kein Redskins-Fan gewesen wäre. Er hörte sich jedes Spiel im Radio an. Er las die Kolumnen von Shirley Povich und Bob Addie in der Post, kaum dass sie erschienen. Er verfolgte die Statistiken von Quarterback Eddie LeBaron, Middle Linebacker Chuck Drazenovich, Halfback Eddie Sutton und anderen. Sogar Bosselers Yards-per-carry-Quote behielt er im Auge. Eigentlich drückte er nur zweimal jährlich den Gegnern der Skins die Daumen – und dann mit schlechtem Gewissen –: wenn sie gegen Cleveland spielten. Derek hatte ein Zeitungsfoto von Brown an die Wand des Zimmers geklebt, das er sich mit seinem Bruder teilte. Abgesehen von seinem Vater, gab es für ihn keinen größeren Helden als Brown. Dieser war für ihn eine starke Persönlichkeit, die Respekt verlangte, nicht nur von seinen eigenen Leuten, sondern von Menschen jeglicher Hautfarbe. Der Mann war echt gut. »Don Bosseler«, sagte Derek und lachte in sich hinein. Er legte eine große, langfingrige Hand auf seinen fast kahl rasierten Kopf und massierte sich den Schädel. Das war etwas, das sein Bruder Dennis immer machte, wenn er sich mit Freunden unterhielt und sie dabei veräppelte. Derek hatte diese Geste, ebenso wie seinen Gang, von Dennis übernommen. »Ich will dich doch bloß ärgern, Derek.« Billy stand von der Milchkiste auf und legte sein Comicheft auf die hinteren Stufen des Diners. »Komm, gehen wir.« »Wohin?« »In mein Viertel. Vielleicht geht in Fort Stevens ein Spiel zusammen.« »Okay«, sagte Derek. Billys Viertel war zwei Meilen vom Diner entfernt und noch weiter von Dereks Zuhause. Die meisten Kinder dort waren weiß. Doch Derek machte das nichts aus. In Wahrheit stellte es für ihn einen kleinen Nervenkitzel dar, sich außerhalb seines angestammten Reviers aufzuhalten. An den meisten Samstagen verbrachten Derek und Billy ihre Zeit in der City, während ihre Väter im Diner arbeiteten. Sie waren Jungen, für die es als völlig normal angesehen wurde, dass sie einfach loszogen und Abenteuer und sogar kleinere Konflikte suchten. Zwar gab es in gewissen Teilen des District Gewalt, aber die wurde von Erwachsenen begangen und fand üblicherweise unter Kriminellen statt, und das zumeist bei Nacht. Kinder und Jugendliche blieben im Allgemeinen unbehelligt. Auf der Hauptstraße bemerkte Derek, dass das Kino des Viertels, das Kennedy, noch immer Buchanan Rides Alone mit Randolph Scott zeigte. Derek hatte den Film schon zusammen mit seinem Dad gesehen. Sein Vater hatte ihm versprochen, mit ihm unten in der U Street in Rio Bravo zu gehen, den neuen John-Wayne-Film, über den die ganze Stadt sprach. Der Film lief im Republic. Wie die anderen District-Kinos an der U Street, das Lincoln und das Booker T, war das Republic hauptsächlich für Farbige, und Derek fühlte sich dort wohl. Sein Vater Darius liebte Western, und Derek liebte sie inzwischen auch. Derek und Billy gingen die Geschäftsstraße in Richtung Osten. Sie kamen an zwei Jungen vorbei, die Derek aus der Kirche kannte, und einer von ihnen sagte: »Was treibst du dich mit dem weißen Kerl da herum?«, und Derek sagte: »Was geht das dich an?« Er fixierte den anderen so lange, bis der begriff, dass Derek es ernst meinte, und alle gingen ihrer Wege. Billy war Dereks erster und einziger weißer Spielkamerad. Die Arbeit ihrer Väter hatte sie zusammengebracht. Sonst hätten sie nie zueinandergefunden, weil farbige und weiße Jungs zumeist nicht miteinander verkehrten, abgesehen von Sportveranstaltungen oder wenn sie zum ersten Mal einen Job annahmen. Nicht dass der Umgang miteinander etwas Unrechtes gewesen wäre, aber es schien natürlicher zu sein, sich mit seinesgleichen zu umgeben. Mit Billy herumzuhängen brachte Derek gelegentlich in eine unangenehme Lage; man wurde auf der Straße angepöbelt, wenn die eigenen Kumpel sahen, dass man mit einem Weißen durch die Gegend zog. Aber aus Dereks Sicht musste man zu jemandem stehen, es sei denn, der Betreffende gab Anlass, es nicht zu tun, und er war der Meinung, dass man bei Konflikten den Mund aufmachen musste. Es wäre nicht richtig gewesen, dem anderen diese Frage durchgehen zu lassen. Klar, Billy sagte oft die falschen Dinge, und manchmal war es auch verletzend, doch das lag daran, dass er es nicht besser wusste. Er war ungehobelt, aber nicht mit Absicht. Sie wandten sich nach Nordwesten, gingen durch Manor Park und die Grünanlage von Fort Slocum und waren bald auf der Georgia Avenue, die viele für die Hauptstraße des District of Columbia hielten. Sie war die längste im District und schon immer die wichtigste Verkehrsstraße nach Washington hinein gewesen, auch früher schon, als sie noch 7th Street Pike geheißen hatte. Alle Arten von Läden und Geschäften säumten ihren Weg, und auf den Gehsteigen waren Tag und Nacht Passanten unterwegs. Die Avenue war immer voller Leben. Die Straße bestand aus hellem Beton und wurde von Straßenbahnschienen durchzogen. Mancherorts gab es noch Bahnsteige aus Holz, von denen aus die wartenden Fahrgäste einst in die Waggons gestiegen waren, doch inzwischen waren die Busse der D.C. Transit das Hauptbeförderungsmittel des öffentlichen Nahverkehrs. Ein paar vereinzelte Stahltröge, ehemalige Tränken für die Pferde, welche die Karren der Trödler, Altwaren-, Obst- und Gemüsehändler zogen, waren auf der Avenue verblieben, doch binnen Kurzem würden auch sie den Weg jener fahrenden Händler gehen. Es hieß, man wolle die Straße bald mit einem Asphaltbelag versehen, und Gleise, Bahnsteige und Tröge würden verschwinden. Billys Viertel Brightwood setzte...