Pelluchon | Manifest für die Tiere | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 6409, 125 Seiten

Reihe: Beck Paperback

Pelluchon Manifest für die Tiere

E-Book, Deutsch, Band 6409, 125 Seiten

Reihe: Beck Paperback

ISBN: 978-3-406-75710-5
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Wie wir Menschen Tiere behandeln, betrifft im Kern die Frage nach unserer Menschlichkeit. Darauf insistiert die französische Philosophin Corine Pelluchon. Die Gewalt, die Menschen Tieren zufügen, ist nicht nur grausam. Sie macht eine verheerende Funktionsstörung unserer Gesellschaft offensichtlich, die auf wirtschaftlicher Ausbeutung und der Zerstörung des Lebendigen beruht.
Tiere sind unsere Mitgeschöpfe. Wenn wir nicht aufhören, sie als Sache zu behandeln, zerstören wir nicht nur unsere materielle, sondern auch unsere seelische Lebensgrundlage. Doch wie können wir dieses grundsätzliche Umdenken herbeiführen und auch diejenigen an Bord holen, die keine Vegetarier sind oder in einem Wirtschaftszweig arbeiten, der auf der Ausbeutung von Tieren beruht? Pelluchon zieht Parallelen zum politischen Kampf für die Abschaffung der Sklaverei. Sie gibt uns Einsichten und konkrete Vorschläge an die Hand, um den Übergang zu einer gerechteren Gesellschaft anzugehen, die die Interessen von Mensch und Tier gleichermaßen berücksichtigt.
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1. Was bei der Misshandlung der Tiere auf dem Spiel steht
Unser Verhältnis zu den Tieren ist ein Spiegel, der uns zeigt, wozu wir in den letzten Jahrhunderten geworden sind. In diesem Spiegel sehen wir nicht nur die Schrecken, die unsere Spezies sich bei der Ausbeutung anderer empfindungsfähiger Lebewesen zuschulden kommen lässt, sondern auch das bleiche Gesicht einer Menschheit, die ihre Seele zu verlieren droht. Die Käfige und Gehege, in denen Milliarden von Kaninchen, Hühnern, Enten, Truthähnen, Füchsen und Nerzen, von Mäusen und Affen, Hunden und Katzen eingesperrt sind, um Fleisch zu produzieren, zerstückelt zu werden oder als Versuchsobjekte zu dienen, die Delphinarien und Zirkusunternehmen, in denen Delphine, Elefanten und andere Wildtiere ihrer Freiheit beraubt und gezwungen werden, sich für ein wenig Futter oder aus Angst vor der Peitsche zur Schau zu stellen, sind ein Abbild unserer gemeinsamen Schande. Keine Beschreibung vermag die unendliche Tristesse wiederzugeben. Die Straßen, auf denen in Frankreich alljährlich fast zehntausend Haustiere ausgesetzt werden; die überfüllten Tierheime; die fernen Urwälder, Lunge der Erde und Heimat der Orang-Utans, die man niederbrennt, um auf diesen Flächen Palmöl zu erzeugen; die Meere, in denen die Fische sterben; die Arenen, in denen Stiere geopfert werden; die Schlachthäuser, in denen nahezu alle Tiere ihr Leben in panischer Angst beenden, selbst Neugeborene, die Jungtiere der Kühe, Schafe und Ziegen: Überall dort herrschen Unglück und Ungerechtigkeit. In all diesen Praktiken, die dem gesunden Menschenverstand widersprechen, weil sie die Grenzen missachten, die wir unserer Nutzung von Lebewesen eigentlich auferlegen müssten, zeigt sich die Vorherrschaft des Gewinnstrebens. Die Menschen, die Tiere, die Qualität der Arbeit und die Umwelt, sie alle werden dem Profit untergeordnet. Die Normen einer globalisierten Marktwirtschaft, die eine ständige Reduzierung der Kosten verlangt, haben sich überall durchgesetzt. Die Gewalt, die den Tieren heute in der Pelz- und Lederindustrie, in der Fischzucht, in der Fleischproduktion, in der Freizeitbranche, in der kosmetischen und pharmazeutischen Industrie angetan wird, demonstriert die Verirrungen eines Systems, das man mangels besserer Möglichkeiten als kapitalistisch bezeichnen könnte. Wir sollten uns bei der Verwendung dieses Ausdrucks allerdings hüten und uns nicht in eine Ideologie einsperren lassen, die Unternehmer und Lohnabhängige gegeneinanderstellt. Solch ein Diskurs verkennt die universelle Dimension des Tierwohls, die über politische Spaltungen hinausreicht und strategischen Charakter besitzt. Tatsächlich umfasst der Kampf für die Tiere auch andere gegen Ausbeutung gerichtete Kämpfe wie den gegen die Sklaverei oder gegen die Unterdrückung der Frauen. Zudem enthüllen die Misshandlungen, denen die Tiere ausgesetzt sind, auch zahlreiche andere Missstände in unserer Gesellschaft. Wir müssen verstehen, was in unserem Verhältnis zu den Tieren auf dem Spiel steht, wenn wir verstehen wollen, warum wir zu so extremen Verhältnissen gelangt sind, und wenn wir zu einem anderen Entwicklungsmodell übergehen möchten, das uns auch die Chance auf einen sozialen, politischen und spirituellen Wiederaufbau bietet. Ebenso wichtig ist es, all die anthropologischen, ökonomischen und politischen Faktoren zu benennen, die den Widerstand dieses Systems erklären, das auf der grenzenlosen Ausbeutung der übrigen Lebewesen und der Herrschaft über jene Menschen basiert, die für seine Aufrechterhaltung sorgen, obwohl sie einen hohen Preis dafür zahlen. Wenn wir den Belangen der Tiere kaum Beachtung schenken, sie wie Objekte behandeln und gleichgültig hinnehmen, dass ihr Leben von Leid geprägt ist, legen wir nicht nur einen Despotismus an den Tag, den keine Religion zu rechtfertigen vermöchte – oder allenfalls um den Preis einer widersinnigen Verwechslung des Auftrags, Sachwalter der Schöpfung zu sein, mit dem Recht, eine rücksichtslose Herrschaft über sie auszuüben. Wir amputieren auch einen wichtigen Teil unserer selbst, wenn wir die Stimme des Mitleids zum Schweigen bringen. So bezeichnen wir den angeborenen Widerwillen, den wir empfinden, wenn wir andere empfindungsfähige Lebewesen leiden sehen. Mitgefühl und Mitleid basieren auf einer unmittelbaren, der Reflexion und der Unterscheidung zwischen dem Ich und den Anderen vorausgehenden Identifikation und setzen voraus, dass ich den Anderen als Lebewesen wahrnehme und anerkenne, und dies nicht aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies, Gattung oder Familie. Mitgefühl ist weder Moral noch Gerechtigkeit, sondern deren Voraussetzung. Die Moral setzt voraus, dass ich meine Verantwortung wahrnehme; sie impliziert Wahl und Entscheidung. Auch die Gerechtigkeit, die auf Prinzipien verweist, bezieht sich auf alle Lebewesen einschließlich derer, denen ich nicht persönlich begegne, die aber dennoch meine Mitbürger sind und mit mir denselben politischen Raum teilen. Da sie nicht auf Gefühlen, sondern auf Rationalität basiert, muss sie institutionalisiert werden und stützt sich auf Gesetze, die ihr zwingenden Charakter verleihen. Aber was wären Moral und Gerechtigkeit ohne Mitleid? Was bedeutet Moral, wenn wir das Wohlwollen auf bestimmte Lebewesen beschränken? Können wir von Gerechtigkeit sprechen, wenn wir uns an die institutionalisierte Misshandlung von Tieren gewöhnen und damit ein auf Ausbeutung basierendes System rechtfertigen? Wer die Liebe zum Nächsten predigt, der wie im Gleichnis vom guten Samariter nicht meinesgleichen ist, sondern jeder, dem ich auf meinem Wege begegnen mag, aber taub bleibt für das laute Klagen anderer Lebewesen, die schlimmstes Leid erfahren, der hat eine chauvinistische Moral. Wenn wir dem Schicksal von Tieren, die wie wir selbst empfindende Lebewesen sind, mit Gleichgültigkeit begegnen, entmenschlichen wir uns selbst. Das Empfindungsvermögen* (der Asterisk verweist jeweils auf das Glossar im Anhang), von Jeremy Bentham sentience genannt, ursprünglich als Fähigkeit definiert, zu leiden, also auf besondere Weise Schmerz, Leid, Angst und Langeweile zu empfinden, verweist auch auf die Verletzlichkeit aller Lebewesen, auf jene Passivität und Machtlosigkeit im Herzen der Macht, wie sie sich in Hunger, Ermüdung und Sterblichkeit zeigen. Und schließlich verweist das Empfindungsvermögen auf die Fähigkeit der Tiere, zu handeln und eine Wahl zu treffen (Handlungsfähigkeit* oder agency). Da die Tiere die Fähigkeit besitzen, ihre in ihrer individuellen Geschichte ausgebildeten Grundbedürfnisse und Präferenzen zum Ausdruck zu bringen, sind sie nicht lediglich Objekte unseres Schutzes, sondern moralische Subjekte, bei deren Rechten berücksichtigt werden sollte, was sie selbst mitzuteilen haben. Wer gelegentlich einen verschämten Blick auf das Leiden der Tiere wirft, das wir ständig unsichtbar zu machen versuchen, wer von Zeit zu Zeit an dieses Leid denkt, weil ein Video enthüllt, was in gewöhnlich für die Öffentlichkeit verschlossenen Gebäuden geschieht, und wer dann weiterlebt, als geschähe da nichts Schreckliches oder als wäre es unmöglich, diesem alltäglichen Massaker ein Ende zu setzen, der akzeptiert, vom Bösen kontaminiert zu werden. Zu solchen Untaten bedarf es der Komplizen, die sich als ökonomische Akteure oder als Konsumenten direkt oder indirekt an einem System beteiligen, das von einer grenzenlosen Ausbeutung der Tiere geprägt ist. Es speist sich auch aus der abwartenden Untätigkeit der Gesellschaft. Denn die meisten Bürger sind keine Feinde der Tiere, sondern Menschen, die ihr moralisches und psychisches Leben abzuschotten vermögen. Da sie andere, durchaus als empfindungsfähig erkannte Lebewesen aus ihren moralischen Erwägungen ausschließen, lernen sie, ihre Sensibilität zu verdrängen, und entwickeln – nahezu unabhängig von Rasse, Religion, Nationalität, Geschlecht oder Art – eine Haltung der Härte gegenüber all denen, die sie nicht als ihre Nächsten ansehen. Sie entfernen sich von dem kleinen Mädchen oder dem kleinen Jungen, die sie einmal waren und denen es unerträglich gewesen wäre, das Fleisch eines Huhns zu essen, falls sie gesehen hätten, wie es an den Füßen aufgehängt wurde und ausblutete, oder die Milch einer Mutterkuh zu trinken, der man ihr Kälbchen gleich nach der Geburt weggenommen hat. Aus ihnen wurden Erwachsene, deren Schweiß, deren Blut und deren...


Corine Pelluchon ist Professorin für Philosophie an der Universität Paris-Est Marne-la-Vallée. Sie beschäftigt sich vor allem mit Moralphilosophie, Politischer Philosophie und Fragen der angewandten Ethik in den Bereichen Bio-, Umwelt- und Tierethik. 2020 erhielt sie für ihre philosophische Gegenwartsdiagnostik den Günther Anders-Preis für kritisches Denken.


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