E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Peltzer Die Sünden der Faulheit
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-10-402268-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-10-402268-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulrich Peltzer, geboren 1956 in Krefeld, studierte Philosophie und Psychologie in Berlin, wo er seit 1975 lebt. Er veröffentlichte die Romane »Die Sünden der Faulheit« (1987), »Stefan Martinez« (1995), »?Alle oder keiner?« (1999), »Bryant Park« (2002) und »Teil der Lösung« (2007) sowie die Frankfurter Poetikvorlesungen »Angefangen wird mittendrin« (2011). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Preis der SWR-Bestenliste, dem Berliner Literaturpreis und dem Heinrich-Böll-Preis. Ulrich Peltzers Roman »Das bessere Leben« (2015) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde unter anderem mit dem Marieluise-Fleißer-Preis, dem Peter-Weiss-Preis und dem Franz-Hessel-Preis geehrt. Zuletzt erschien der Roman »Das bist du« (2021). Literaturpreise: Gerty-Spies-Literaturpreis 2016 Franz-Hessel-Preis 2015 Peter-Weiss-Preis 2015 Platz 1 SWR Bestenliste September 2015 Marieluise Fleißer-Preis 2015 Shortlist Deutscher Buchpreis 2015 Carl-Amery-Literaturpreis 2013 Heinrich-Böll-Preis 2011 Frankfurter Poetik-Dozentur 2010/11 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin 2010 Stadtschreiber von Bergen-Enkheim 2009/2010 Spycher: Literaturpreis Leuk 2008 Düsseldorfer Literaturpreis 2008 Berliner Literaturpreis für sein Gesamtwerk 2008 Literaturpreis der Stadt Bremen 2003 Niederrheinischer Literaturpreis der Stadt Krefeld 2001 Preis der SWR-Bestenliste 2000 Anna Seghers-Preis 1997 Berliner Literaturpreis der Stiftung Preußische Seehandlung 1996 Bertelsmann-Stipendium beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1992
Autoren/Hrsg.
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Zweiter Tag und zweite Nacht
»Beim nächsten Ton des Zeitzeichens ist es 10 Uhr, 16 Minuten und 50 Sekunden«, quäkte die Stimme der Ansagerin. Verschlafen legte Wilhelm Mertens den Hörer auf die Gabel zurück und überlegte, welches Gesicht zu dieser Stimme gehörte. Wahrscheinlich eines, das ihn an seine Mutter erinnerte, die ihm morgens manchmal einen nassen Waschlappen durchs Gesicht gerieben hatte.
Er war immer ein schlechter Schüler gewesen, eher faul als dumm oder unbegabt. Nachdem er durchs Abitur gefallen war, hatte er eine Lehre als Großhandelskaufmann begonnen. Er machte sich selbständig, als er begriff, daß man kein Geld verdient, solange man die Bilanzen anderer in eine alte Rechenmaschine tippt.
Bei einer Tasse Kaffee studierte er seinen Terminkalender. Seine Küche beherbergte nur das Allernotwendigste. Mehr als drei Personen hätte er nie bewirten können, aber mehr als drei Gäste waren auch nie da. Die Stahlrohrstühle um den flachen weißen Tisch hatte er nur gekauft, weil Florence sich weigerte, auf einem Hocker zu frühstücken.
Im Radio auf der Anrichte lief ein politisches Magazin. Ein Wissenschaftler warnte vor dem Kollaps des Weltwährungssystems, im US-Senat wurde wieder um ein Embargo gestritten. Musik am Vormittag.
Wilhelm Mertens zog sich an und bestellte ein Taxi.
Ein grau verhangener Himmel drückte auf die Stadt. Die Streuwagen der Stadtreinigung zuckelten durch die Straßen, Schotter knirschte unter den Reifen. Mahmut, der Trödler, stieg aus einem verbeulten Chevrolet-Combi, der mit Werbung für sein Geschäft beklebt war, und schleppte ein Bündel Mäntel über den Gehweg. Als gläubiger Moslem war er nach Berlin gekommen, aber bald schon hatte er seine Religion, sein Studium und seine Zukunft als Wasserbauingenieur in Syrien hinter sich gelassen und auf dem Flohmarkt gearbeitet, bis er dann den Laden eröffnete.
Er blickte über die Straße hoch zu Lacans Wohnung. Lacan hatte ihm neue Platten versprochen.
Durch die Rippen der Jalousie wurde ein Gittermuster in den Raum projiziert. Lacan lag mit ausgestreckten Armen quer auf dem Bett. In dem Doppelfenster war eine dicke Fliege eingesperrt – weiß Gott, woher sie kam – und flog immer wieder brummend vor die Scheiben. Lacan hatte die Augen geschlossen, obwohl er wach war. Als er ein Lid kurz hob, schossen Blitze auf die Netzhaut. Die Fliege stürzte zum siebten Male ab. Vorsichtig drehte er sich um und richtete sich auf.
Mahmut sortierte die Mäntel, und der Gemüsehändler nebenan stand hinter der Theke und malte sich aus, was er am Abend kochen würde. Seine Frau litt an Muskelschwund und lag in einem Pflegeheim, wo er sie sonntags auf eine Stunde besuchte. Sieberts Leidenschaften waren Kochen und Zinnfiguren und daß die Kunden, die anschreiben ließen, am Monatsende bezahlten.
Wolkenbänke stapelten sich am Himmel, von Norden wanderte eine Schneefront über die Mark Brandenburg. Die ›Stimme der DDR‹ meldete Verkehrsbehinderungen bei Potsdam, aber wer hörte schon die ›Stimme der DDR‹? Lacan preßte eine Hand vor die Stirn. Ich muß aus dieser Stadt weg, dachte er, obwohl er sich noch nicht einge- stehen wollte, daß der Kampf zugunsten Berlins enden könnte.
Im Frühjahr und Sommer war Berlin die schönste Stadt der Welt, mit tausend blühenden Bäumen in den Straßen, den Cafés, dem Lindenduft in der Nase. Im Winter dagegen war es außergewöhnlich schwer, nicht durchzudrehen.
Lacan fühlte sich, als habe er mit alten Zeitungen bedeckt im Rinnstein gelegen, Nadeln stießen von innen gegen seine Stirn.
Die Neonröhre im Flur brauchte zwei Pings, bis das Edelgas in ihr leuchtete. Er sah an sich hinunter, die Ränder seiner Hose waren mit Lehm und Erde verkrustet, und auf den schwarz-weißen Plastikfliesen lag ein kleines Bild in einem schnörkellosen Holzrahmen.
Er ging ins Bad und steckte den Kopf unter den Wasserhahn. Er vermied es, in den Spiegel zu sehen. Das Bild lag immer noch im Flur. Ein kalter Schauer lief über Lacans Rücken. Behutsam hob er es auf. Es waren ›Die Gehörnten‹ des einsamen Malers Richard Oelze.
Oberst Nikolai Koljatow rückte die roten Schulterstücke seiner Uniform zurecht. Er war zeit seines Lebens Soldat gewesen, und die Schulterstücke waren immer größer geworden, jetzt saß er in Berlin, wohin er eigentlich nie wollte.
Oleg kam um 10 Uhr 30. Während der Fahrt blätterte Koljatow in seinen Papieren. Er wurde in der Botschaft Unter den Linden erwartet.
Der Transport des Materials über Österreich und Jugoslawien hatte sich bewährt, Koljatow würde dem Botschaftsrat vorschlagen, auch die Konstruktionspläne nicht mehr in Berlin zu übergeben. Jeder belauerte jeden hier.
Kahle Birken standen links und rechts der Straße. Sie überholten eine MZ, auf der ein Paar engumschlungen ins Glück fuhr. Der Schal des Mädchens flatterte in der Luft. Als Oleg am Palast der Republik zu schnell in die Karl-Liebknecht-Straße bog, mußte er heftig bremsen, weil er einen Fußgänger übersehen hatte.
Der junge Mann trug schulterlanges, in der Mitte gescheiteltes Haar und einen Parka der US-Armee. In seiner Umhängetasche war ein halbes Gramm Heroin, das ihm sein Cousin im Westen besorgt hatte. Er ging zu einem Abbruchhaus am Prenzlauer Berg, in dem er – von den Behörden geduldet – mit ein paar Bekannten hauste. Seine Freundin hatte in einer Apotheke Einwegspritzen gestohlen, der Cousin bei seinem letzten Besuch alles noch einmal erklärt: wie man in einem Löffel den Stoff und die Ascorbinsäure erwärmt und die Spritze aufzieht.
Der junge Mann fror. Er beschleunigte seine Schritte. Vor einem Wachhäuschen stand ein Volkspolizist und stampfte mit den Füßen. Penner, dachte er, als er den Langhaarigen sah.
Richard Oelze hatte ›Die Gehörnten‹ 1952 gemalt. Er lebte irgendwo in Norddeutschland in einem kleinen, ungeheizten Gartenhaus und malte und malte. Oft zerriß er seine Bilder oder er verbrannte sie. Zwei seiner Arbeiten hingen schon seit den dreißiger Jahren im Museum of Modern Art, aber man hatte ihn während des Krieges einfach vergessen, den Emigranten, der durch die Auflösung Europas trieb.
Von all dem wußte Lacan nichts. Er saß in seiner Küche und wendete das Bild hin und her. Oben am Rahmen hing noch ein Stück Draht der Alarmanlage. Das Bild war nicht groß, mit zwei Händen konnte man es fast bedecken.
Vor einem dunklen grünen Hintergrund waren auf einem Wüstenstreifen um eine Tempelsäule herum Fabeltiere versammelt: ein Eselskopf mit fliehenden Auswüchsen, ein struppiger Hund mit nur einem Auge, oben ein Habicht im Profil. Alles schien versteinert, von einem Götterfluch der Bewegung beraubt, eine Schädelstätte, mit äußerster Präzision gemalt.
Lacan stützte den Oelze auf die Knie und legte seinen brummenden Kopf auf den Rahmen. Das Telefon schellte, doch Lacan rührte sich nicht vom Fleck. Es bestand gar kein Zweifel, daß er in seinem Schoß ein Bild hielt, das an eine Wand der Akademie der Künste gehörte, und daß er es wohl abgenommen hatte in der vergangenen Nacht. Oder war es Hartmann gewesen? Er erinnerte sich an ihre Sauftour, daran ja, alles andere verschwand in dickem Nebel. Er legte das Bild beiseite und suchte sein Notizbuch, um Hartmann anzurufen, doch da stand nur dessen Münchner Adresse.
Aus dem Nebel tauchte die Akademie, und er sah sich und Roland durch einen großen dunklen Raum stolpern. Verzweifelt blätterte er in dem kleinen Heft. »Wo wohnst du bloß in Berlin?« Bei einer Freundin, in einer Pension, wo hatten sie sich in der Nacht getrennt? Es fiel ihm nicht mehr ein. Er verfluchte Hartmann, den Alkohol, die ganze Welt, aber so kam man nicht weiter. Lacan duschte und zog sich an. Noch einmal suchte er nach einem Anhaltspunkt, nach einer Adresse, wo Hartmann zu erreichen wäre, aber es war zwecklos. Langsam wurde er nervös. Wenn sie das Bild tatsächlich geklaut hatten, mußte es doch Zeugen geben; es gab immer Zeugen, die etwas beobachteten. Er zündete seine erste Zigarette an und war wieder zu einem klaren Gedanken fähig: Wenn ihn irgend jemand gesehen hätte, wäre die Polizei längst erschienen.
Er mußte Hartmann finden. Und ein geeignetes Versteck für das Bild. Sein Kühlschrank war leer. Lacan legte den Oelze auf den oberen Rost neben die Heringe und breitete eine Einkaufstüte darüber. Wer vermutet schon einen echten Surrealisten in einem Zanussi Baujahr ’71? Lacan verließ das Haus wie gewohnt über den Hof. Es war nur wenig über null Grad, Rußteilchen schwebten in der Luft.
Die Schlagzeilen der Zeitungen meldeten das, was sie jeden Tag melden. Ein Verrückter hatte schon 36 Schaufenster eingeschlagen, und auf der Titelseite der BZ war das große Foto eines fünfzehnjährigen Türken, der ein Kind aus dem Landwehrkanal gerettet hatte. Zum Dank erhielt er eine Lehrstelle als Schlosser und die Verdienstmedaille des Landes Berlin. Der Regierende Bürgermeister beschwor in einer Ansprache das Miteinander von Deutschen und Ausländern.
Es war Dienstag, und am Abend lief ›Dallas‹ im Fernsehen, der Krieg zwischen dem Iran und dem Irak ging weiter, und in den Büros der Finanzmakler flimmerten auf Bildschirmen die Börsenkurse. Nasser Schnee fiel, und es gab keine Katastrophen in Europa.
Franz Belasc hatte sich vorgenommen, wieder jeden Tag zu trainieren. Damals in Wien war er ein vielversprechender Mittelgewichtler gewesen. Ihm stand ein Titelkampf zu, als er gegen seine...