E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
Perkins Die Forrests
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-98297-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman einer Familie
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
ISBN: 978-3-492-98297-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Emily Perkins, 1970 in Christchurch, Neuseeland, geboren, schreibt Kurzgeschichten und Romane. Sie lehrt an der University of Auckland, moderiert im neuseeländischen Fernsehen ihre eigene Literatursendung «The good Word» und lebt mit ihrer Familie in Auckland.
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1. HEIMAT
Vater machte vor ihnen Verrenkungen mit der Kamera. Er hielt die Kodak, ihren kostbarsten Besitz, als ob sie ein sich lebendig windendes Tier wäre, ein Frettchen oder eine Schlange, von dem er geführt wurde. Die Kinder hatten sich im Garten unter einem Pappkarton zu verstecken, für einen Film, der später mal lustig sein würde, wie er ihnen versicherte. Als Dorothy dran war, kauerte sie sich wie eine Schildkröte auf den Rasen, Stirn auf die knochigen Knie gedrückt, Arme angezogen, heißer Atem auf ihrer Haut, während Michael den Karton nahm und über sie stülpte, ein warmes Dunkel, ein seltener Augenblick ganz allein. Sie atmete tief ein.
Kleeblüten streichelten ihr Gesicht, die Pappe roch sandig und weich, und die Geräusche außerhalb – Vogeltschilpen, Michael, ihre Schwestern, die Stimme ihres Vaters, Daniel – klangen gedämpft. Ein dicker lila Grind löste sich vom Knie, und als der Karton hochgehoben wurde und Evelyn sagte, sie sei dran, war auf einmal die frische Haut darunter, und Dorothy, Dot, ließ sich auf die Seite fallen und rollte auf den Rücken, der Himmel explodierte im Licht, Daniel beugte sich vor die Sonne, sein Gesicht ein dunkler Umriss. »Ich bin der Dribbelkönig!«
Sie packte ihn an den Fußgelenken, umklammerte Knochen und das straffe Band der Achillessehne, brachte ihn zu Fall, er landete mit den Knien im Gras. Beide rappelten sich auf, Daniel jagte hinter ihr her, Schienbeine und Hände voller Erd- und Grasflecken, und ihr Vater schrie: »Nicht da lang, ihr kommt ins Bild«, und die andern tobten alle mit und die Schwester im Karton rief dumpf: »Was macht ihr da draußen?«, und Vater sagte: »Noch nicht, Eve«, aber sie drückte den Pappkarton trotzdem hoch, ließ ihn wegkippen und trottete mit den Worten »Ich hab Durst« an der Wäscheleine vorbei ins Haus, nicht ohne im Vorbeigehen die trächtige Katze zu streicheln, die die Hintertreppe in Richtung Sonne hochlief. Ihr Vater trat gegen den Karton.
Am Zitronenbaum, an dem die Zitronen wie gelbe Minizeppeline hingen, täuschte Dorothy ein Ausweichmanöver vor, wirbelte herum, schlug einen Haken und verfolgte jetzt Daniel, der neben dem Haus entlangwetzte, mit seinen bloßen Füßen über den muschelbestreuten Vorgarten sprang, als seien es heiße Kohlen, den Bürgersteig hinabrannte, der sich über den Baumwurzeln wölbte, an den Nachbarhäusern und der Praxis der Fußpflegerin, bei der Dots Mutter sich die Beine enthaaren ließ, vorbei, um den ausgekippten Müllsack an der Ecke herum, am kleinen Mädchen auf dem Fahrrad mit den gerippten rosa Plastikgriffen und dem Zeitungsstand und dem Mann, der vor dem Übergangswohnheim an der Wand lehnte, vorbei und über die leere Straße an dem Chinaimbiss und dem Bäcker mit dem Weißbrot, das einem an den Zähnen festklebte, und der Metzgerei, in der mit schwelendem Qualm geräuchert wurde, vorbei. Und plötzlich war Daniel nirgendwo zu sehen. Pökelsalzschwaden waberten durch die Luft, vor Dot wölbte sich der leere Nachmittag, die Straße war wie verlassen.
Dorothy drehte dem weiten, offenen Raum den Rücken zu und rannte zurück.
Als Dot keuchend zur Haustür hereinstürmte und in die Küche düste, um einen Schluck Wasser zu trinken, war Daniel schon da. Er kippelte auf einem Stuhl, hielt sich mit den Fingerspitzen leicht an der Tischkante fest, ihm gegenüber saß Eve. Klappernd schüttete Eve die Scrabblebuchstaben aus dem Samtbeutelchen auf den Tisch und verteilte sie auf dem Ouijabrett. »Michael!«, rief sie, Kopf zur Treppe gedreht. »Komm schon!«
Dorothy trank das Wasser aus und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Wie bist du so schnell nach Hause gekommen?«
»Ich bin halt einfach der Überflieger.« Daniel zog das Geschirrtuch vom Griff an der Ofentür, nahm ihr das Glas aus der Hand, schüttelte die letzten Tropfen heraus und trocknete es ab. »Das brauchen wir«, sagte er und stellte es umgedreht in die Tischmitte.
Schräg einfallendes Sonnenlicht ließ den feinen Staubfilm auf dem Tisch und die fast unsichtbaren Härchen auf der Haut der Kinder leuchten. Als Dorothy sich hinsetzte, stupste etwas gegen ihr Knie. Unter dem Tisch hockte ihre kleine Schwester. »Ruthie.«
»Psst, ich will doch von unten klopfen«, sagte Ruth.
Eve zog sie unter dem Tisch hervor und nahm sie auf den Schoß. »Du hast doch keine Angst?«
»Nein.« Aber sie vergrub das Gesicht an Evelyns Hals.
»Geh und hol Michael.«
Ruth klammerte sich nur noch stärker an Eve. Eve hielt das Glas ins Licht und kniff ein Auge zu: Da war noch der Abdruck von Dots Lippen, den sie mit dem T-Shirt wegrieb. Als die Tür knarrte, blökte Ruth los, aber es war nur ihr Bruder. »Macht mal Platz«, sagte Michael und zog sich einen Stuhl heran. Sie bildeten einen Kreis um den Tisch und berührten alle das umgedrehte Glas mit den Fingerspitzen. Die beigen Scrabblesteine lagen wie die Bruchstücke eines antiken Sonnenmosaiks da. Nachmittagsatem. Anhalten. In der abwartenden Stille war von oben ein Miauen zu hören.
Die unterste Schublade der Kommode im Mädchenzimmer stand wie immer offen, sie klemmte zu sehr, als dass die Mädchen sie hätten zuschieben können. Oben auf den unbeholfen zusammengefalteten Pullovern lag die Katze und leckte Schleim von zwei neugeborenen Kätzchen, so winzig, die Schwänzchen wie aufgesteckt.
»Sollen wir Mom holen?«, fragte Ruth, aber die anderen sagten: »Nein, sie ist nicht da.« Die Kinder hatten das Hexenbrett vergessen und drängelten sich um die Schublade. Die Katzengeburt hatten sie sehnlich erwartet. Die Katze krümmte sich zusammen, und ein weiteres Kätzchen kam blind und mit einem winzigen Stimmchen heiser miauend heraus, der Körper zittrig, die Pfoten, das Gesicht so komplett, das kleine Maul klappte zum Gähnen auf. Die Katzenmutter streckte ihre raue Zunge danach aus und leckte sein Fell sauber.
Als Evelyn acht war, Dorothy sieben und ihre kleine Schwester Ruth noch nicht in der Schule, waren die Forrests von O-mein-Gott-der-Nabel-der-Welt-New-York-City nach Westmere, Auckland, Neuseeland, gezogen. Dot meinte, ihren Vater sagen zu hören: »Endlich leben wir in einer kassenlosen Gesellschaft.« Später vermutete sie, dass die Gründe wahrscheinlich eher mit mangelndem Erfolg in der Heimat, Finanzproblemen und einem absurden Anspruchsdenken zu tun hatten. Frank war der zweite Sohn der Forrests und behauptete, trotz Papas Treuhandkonto »ohne jedes Sicherheitsnetz in die Welt geschubst worden zu sein«. Auch nach der Auswanderung bekam er im Theater keinen Fuß in die Tür. Er übernahm die Leitung des Amateurtheaterclubs Westmere und vergraulte mit seiner Brecht- und Ionesco-Einheitskost nach und nach einen Großteil der Mitglieder. Jeden Monat ging ihre Mutter, von den Älteren Lee, von Ruth Mommy genannt, zur Bank und hob ihren Lebensunterhalt vom Treuhandkonto ab. Für einen Besuch in der Heimat reichte es allerdings nie, was vermutlich kein Zufall war, auch wenn »die einfach nicht kapieren wollen, was so eine Reise kostet!«, wie Lee sich immer wieder empörte.
Sie kamen in den Sommerferien an, schrecklich schläfrig von dem langen Flug über Honolulu, wo sie es sich zum letzten Mal so richtig gut gehen lassen hatten, am Hotelpool, obwohl es doch direkt am Strand war, in die ungewohnte Offenheit unter dem Himmel der südlichen Hemisphäre, dessen Farben bis hinunter auf die menschenleeren Straßen reichten und den Raum zwischen den Häusern füllten. In den ersten paar Wochen kannten sie niemanden, sprachen mit niemandem, nur miteinander, gingen ständig zu dem kleinen Tante-Emma-Laden, der hier Milchladen genannt wurde; vor dem fischäugigen Starren der unter der weichen Wärme der Markise herumlungernden Kinder wären die Forrest-Sprösslinge am liebsten weggerannt.
Als die Schule dann endlich losging, genas Evelyn von Keuchhusten und der Kinderarzt mit den langen Strähnen über der Glatze ordnete Bettruhe an. Dot wurde von ihrer Mutter in das Kleid gesteckt, das sie zur Hochzeit einer Cousine getragen hatte, weil sie nicht wusste, wo man die Schuluniform herbekam, und es wichtig war, dass man einen anständigen Eindruck machte. Das Kleid war persilweiß mit Lochstickerei am Saum und Satinschleife. Wie sich herausstellte, gab es keine Schuluniform. Die Schleife fischte Dot aus dem Spülkasten auf der Mädchentoilette, der Schlamm ließ sich aus den Löchern der Lochstickerei wieder herauswaschen, aber das Kaugummi, das mitten in den langen, blonden, amerikanischen Mädchenhaaren der Neuen klebte, wollte sich weder mit Essig noch mit Terpentin lösen; Lee musste die Haare mit der Nagelschere abschneiden; der Rest des Hausrats gondelte in einem Containerschiff irgendwo auf dem wogenden blauen Ozean.
Lee schluchzte, als die Haare fielen, aber Dot stand reglos da, atmete tief in den Bauch und tröstete ihre Mutter mit einem Ausdruck, den sie an diesem Nachmittag gelernt hatte. Michaels neuer Freund Daniel hatte ihr in die Schulter geboxt und gesagt: »Scheiß drauf.« Bei dem Satz hatte sie aufgehört zu weinen und sich zusammengerissen. Das Kaugummi war gar nichts. Sie hatte ihren ersten Schultag ohne Eve überstanden. Die anderen wussten nicht einmal, dass sie eine große Schwester hatte. Sie war allein gewesen und hatte überlebt.
Ein Rad über die hölzernen Schulbänke schlagen, angemalt mit hellgrüner Anstaltsfarbe, dick und wächsern, blasendurchsetzt. Schürfstellen vom Teerboden auf der Handwurzel. Ein Wirbel aus blauem Himmel und schwarzem Asphalt. Der Geruch nach heißem Metall von der Kletterstange auf dem Abenteuerspielplatz, der...