Peseschkian | Der Kaufmann und der Papagei | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Reihe: Geist und Psyche

Peseschkian Der Kaufmann und der Papagei

Orientalische Geschichten in der Positiven Psychotherapie
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-401080-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Orientalische Geschichten in der Positiven Psychotherapie

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Reihe: Geist und Psyche

ISBN: 978-3-10-401080-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Fast einhundert gleichnishafte orientalische Geschichten sind in diesem Band versammelt und in Beziehung zu Fallbeispielen aus der psychotherapeutischen Praxis gesetzt. Es sind unterhaltende Geschichten, die jedoch nicht nur unterhalten, es sind Lehrstücke, die nicht nur lehren, es sind literarische Miniaturen, die nicht nur um der Kunst willen erzählt und niedergeschrieben wurden - es sind Gleichnisse zur Lebenshilfe, die jeder seinen eigenen Bedürfnissen entsprechend anwenden kann.

Prof. h.c. Dr. med. Nossrat Peseschkian, Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie, wurde 1933 im Iran geboren und lebte seit 1954 in Deutschland. Er war Begründer der Positiven Psychotherapie; eine intensive Forschungs- und Lehrtätigkeit führte ihn in über 60 Staaten. Nossrat Peseschkian war Autor einer Vielzahl erfolgreicher Bücher, die in über 25 Sprachen übersetzt worden sind. Er starb am 27.4.2010.
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7. Funktionen der Geschichten


Geschichten scheinen zwei verschiedenen Parteien anzugehören:

  • Geschichten, die bestehende Normen stabilisieren;

  • Geschichten, die bestehende Normen relativieren.

Trotz aller Gegensätzlichkeit schließen sich diese beiden Zielsetzungen nicht aus. Zum einen, weil die Aussagen der Geschichten wesentlich von der Reflexion durch den Leser abhängen. Zum anderen, weil das Relativieren einzelner Normen, der ›Standortwechsel‹, nicht wertfrei erfolgt, sondern im Hinblick auf andere bevorzugte Werthaltungen. Umgekehrt hat die Betonung herrschender Normen zur Folge, daß andere Auffassungen in Frage gestellt oder abgewehrt werden. In den zwischenmenschlichen Beziehungen sowie im Erleben und der seelischen Verarbeitung laufen bei der Konfrontation mit Geschichten Prozesse ab, die wir als deren ›Funktionen‹ beschreiben.

Die bildhaften Darstellungen der Geschichten lassen ihre Inhalte Ich-näher erscheinen und erleichtern die Identifikation mit ihnen. Der Hörer kann seine Bedürfnisse auf die Geschichten übertragen und ihre Aussagen in der Weise gliedern, die seinen eigenen momentanen psychischen Strukturen entspricht. Diese Reaktionen können ihrerseits zum Gegenstand der therapeutischen Arbeit werden. Indem er zu einer Geschichte assoziiert, spricht der Patient über sich selbst, seine Konflikte und Wünsche. Das Verständnis und die Aufnahme der Geschichten wird durch den Rückgriff auf die Phantasien und Erinnerungen des Patienten erleichtert. Losgelöst von der unmittelbaren Erfahrungswelt, verhelfen die Geschichten – gezielt eingesetzt – dem Patienten zu einem distanzierten Verhältnis den eigenen Konflikten gegenüber. Der Patient ist dadurch nicht mehr nur der Erdulder seiner Krankheit, sondern kann seinerseits zu seinen Konflikten und seinen bisher gewohnten konflikthaften Lösungsmöglichkeiten Stellung beziehen. Die Geschichte wird zu einem Spiegel, der reflektiert und reflektiert werden kann.

Geschichten sind ein Modell. Sie geben Konfliktsituationen wieder und legen Lösungsmöglichkeiten nahe bzw. weisen auf die Konsequenzen einzelner Lösungsversuche hin. Sie fördern somit ein Lernen am Modell. Dieses Modell ist jedoch nicht starr. Es enthält eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten und Rückbezügen auf die eigene Situation. Geschichten bieten ein Probehandeln an, in dem wir in unseren Gedanken und Gefühlen versuchsweise mit ungewohnten Antworten auf gewohnte Konfliktsituationen umgehen.

Patienten verkaufen ihre Grundkonzepte, ihre individuellen Mythologien recht teuer. Schließlich helfen sie ihnen, mit den bestehenden Konflikten recht und schlecht fertig zu werden. Wie ein Nichtschwimmer Angst hat, den Rettungsring freizugeben, um sich in ein Boot hineinheben zu lassen, hat der Patient Angst davor, seine bisher verwendeten Selbsthilfeeinrichtungen aufzugeben, obwohl sie ihn in den Teufelskreis von Konflikten hineinmanövriert haben. Dies gilt vor allem dann, wenn der Patient sich nicht sicher ist, ob ihm der Therapeut tatsächlich etwas Gleichwertiges oder gar etwas Besseres bieten kann. Es entwickeln sich Widerstände und Abwehrmechanismen, welche die therapeutische Arbeit einerseits behindern können, andererseits aber einen Zugang zu den Konflikten des Patienten ermöglichen, sofern sie deutlich genug erkannt werden.

Widerstände können sich in vielfältiger Form äußern: durch Schweigen, Zuspätkommen, psychotherapeutische Sitzungen ausfallen lassen, die Psychotherapie in Frage stellen unter dem Vorwand, sie sei zu teuer, sie beanspruche zu viel Zeit etc. Solche Widerstände werden in der Psychotherapie durchgearbeitet. Allerdings ist diese Arbeit für den Patienten nicht unbedingt angenehm. Der auf Mißverständnisse, Widerstände und Abwehrmechanismen provoziert meist eine ebenso frontale Verteidigung.

In der psychotherapeutischen Situation wird die Konfrontation Therapeut-Patient dadurch aufgelockert, daß zwischen diese beiden Fronten das Medium der Geschichte tritt. Sie ist eine Huldigung an den Patienten und würdigt dessen narzißtische Wünsche (vgl. R. Battegay, 1977). Es wird nicht über den Patienten gesprochen, der symptomatisches Verhalten zu produzieren hätte, sondern über den Helden der Geschichte. So kommt ein Dreier-Prozeß in Gang: Die Geschichte erhält die Aufgabe eines . Sie stellt für den Patienten einen Schutz dar, der ihm, wenigstens vorübergehend, erlaubt, sich seiner konfliktbesetzten Schutzmechanismen zu entledigen. Mit seinen Aussagen und Deutungen zur Geschichte gibt er Informationen, die ihm ohne den Mittler der Geschichte schwergefallen wären. Die Filterfunktion gilt auch in der Partnerschaft und Erziehung. Durch die Modellsituation einer Geschichte können dem Partner in schonender Form Mitteilungen gemacht werden, auf die er erfahrungsgemäß aggressiv reagieren würde; auf der anderen Seite hat man selber die Möglichkeit, sich in einer anderen Kommunikationsform als der üblichen zu äußern.

Durch ihre Bildhaftigkeit sind Geschichten gut zu behalten und können in anderen Situationen leichter abgerufen werden. Sie sind nicht nur in der Behandlung gegenwärtig, sondern auch im Alltag des Patienten; sei es, daß ähnlich gelagerte Situationen an die Geschichte erinnern, sei es, daß das Bedürfnis besteht, die in der Geschichte aufgeworfenen Fragen zu durchdenken. Unter veränderten Bedingungen kann der Patient die Geschichte unterschiedlich interpretieren. Er erweitert das ursprüngliche Verständnis der Geschichte und aktualisiert neue Konzepte, die seine eigene Mythologie differenzieren helfen. Die Geschichte hat somit , das heißt, sie wirkt nach und macht den Patienten unabhängiger vom Therapeuten.

Die Geschichten sind Traditionsträger, was immer die Tradition bedeutet: kulturelle Tradition, Familientradition, Tradition einer Lebensgemeinschaft oder individuelle Tradition als Ergebnis der Lebenserfahrung. In diesem Sinn weist die Geschichte über das jeweilige individuelle Leben hinaus und gibt Gedanken, Überlegungen und Assoziationsansätze weiter. Von Generation zu Generation übermittelt, scheinen die Geschichten immer die gleichen zu sein. Und doch erhalten sie, je nach dem Verständnis dessen, der sie hört, eine neue, vielleicht unbekannte Bedeutung. Wenden wir uns den Inhalten der Geschichten und den darin enthaltenen Konzepten näher zu, können wir Verhaltensweisen und Einstellungen finden, die eine eigene Tradition neurotischen Verhaltens und Konfliktanfälligkeiten begründen.

Selbst klassische psychotherapeutische Begriffe enthalten in irgendeiner Form historische Mythologien, die unseren Geschichten vergleichbar sind. Ein Beispiel dafür ist der Ödipuskomplex, wobei die Geschichte des Ödipus, in Anlehnung an traditionelle Vorbilder, zunächst nur eine Metapher für das Verhalten (väterlichen) Autoritäten gegenüber ist. Diese Metapher wurde nachträglich auf die psychoanalytische Theorie und Praxis des Ödipuskomplexes bezogen.

Als Traditionsträger werden Geschichten zu Repräsentanten von Kulturen. Sie geben die in einer Kultur gängigen Spielregeln, Konzepte und Verhaltensnormen wieder. Diese Inhalte von Geschichten bieten einem selbst als Mitglied der jeweiligen kulturellen Gemeinschaft Verstärkung und Rückversicherung. Sie legen Problemlösungen nahe, wie sie in einem Kulturkreis gängig sind. Geschichten aus anderen Kulturen bringen Informationen über die dort für wichtig gehaltenen Spielregeln und Konzepte, zeigen andere Denkmodelle und ermöglichen es, das eigene Repertoire von Konzepten, Werten und Konfliktlösungen zu erweitern.

Damit ist ein weiterer Prozeß verknüpft, nämlich der Abbau emotionaler Schranken und Vorurteile, die gegenüber fremden Denk- und Empfindungsweisen bestehen, die das Fremde als etwas Aggressives, Bedrohendes empfinden lassen und dort schon Abwehr provozieren, wo zunächst Verständnis am Platze wäre. Der für unsere Zeit schmerzlichen Erkenntnis, man habe Vorurteile, Ressentiments, kann durch transkulturelle Geschichten begegnet werden. Man lernt fremdes Denken kennen und übernimmt es vielleicht sogar für sich selbst. Allerdings repräsentieren Geschichten nicht unbedingt die heute noch gültigen, typischen Denkformen einer Gesellschaft. Als Anregung zum Denken, Infragestellung bestehender Vorstellungen und Vermittler fremder, unbekannter Konzepte wirken sie jedoch – selbst als Anachronismen – im Sinne einer Zielerweiterung.

Die Atmosphäre, in der Geschichten erzählt werden, ist nicht trocken, abstrakt, mit großem Gefälle zwischen Therapeut und Patient, sondern im Prinzip eher aufgelockert, freundlich und partnerschaftlich. Das Medium, das durch sie angesprochen wird, ist die Intuition und Phantasie. Der Rückgriff auf die Phantasie besitzt innerhalb der leistungsbetonten Gesellschaft die Bedeutung einer Regression, eines Rückschrittes in frühere Entwicklungsstufen: Wenn ich mich mit Geschichten beschäftige, verhalte ich mich weniger wie ein typischer mitteleuropäischer Erwachsener, sondern wie ein Kind oder wie ein Künstler, dem Abweichungen von gängigen Leistungsnormen und der Zugang zur Welt der Phantasie noch zuerkannt werden. Im therapeutischen Rahmen erlauben es Geschichten, den erworbenen Charakterpanzer des Erwachsenen wenigstens versuchsweise abzulegen und frühere lustbetonte Verhaltensweisen...


Peseschkian, Nossrat
Prof. h.c. Dr. med. Nossrat Peseschkian, Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie, wurde 1933 im Iran geboren und lebte seit 1954 in Deutschland. Er war Begründer der Positiven Psychotherapie; eine intensive Forschungs- und Lehrtätigkeit führte ihn in über 60 Staaten. Nossrat Peseschkian war Autor einer Vielzahl erfolgreicher Bücher, die in über 25 Sprachen übersetzt worden sind.
Er starb am 27.4.2010.

Nossrat PeseschkianProf. h.c. Dr. med. Nossrat Peseschkian, Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie, wurde 1933 im Iran geboren und lebte seit 1954 in Deutschland. Er war Begründer der Positiven Psychotherapie; eine intensive Forschungs- und Lehrtätigkeit führte ihn in über 60 Staaten. Nossrat Peseschkian war Autor einer Vielzahl erfolgreicher Bücher, die in über 25 Sprachen übersetzt worden sind.
Er starb am 27.4.2010.



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